Читать книгу Requiem für eine Elster - Fee-Christine Aks - Страница 12
Schmerz
ОглавлениеDer Wind flaute ab, als Pierre das kleine Boot in die geschützte Bucht steuerte. Er wusste kaum, wie er zurück zur Kanalküste gekommen war. Sein Herz war stehen geblieben, zusammen mit der Zeit, als er die Nachricht erhalten hatte. Er war verraten, man hatte ihn getäuscht und aufs Schändlichste betrogen.
Der Schmerz hatte ihm im ersten Moment die Luft zum Atmen genommen und ihm beinah das Bewusstsein geraubt. Aber dann hatte er wie glühendes Feuer von seinem Körper Besitz ergriffen und ihn für eine gefühlte Ewigkeit schreiend unter einer Eiche zu Boden gestreckt. Einzig ein Tier, eine schwarzweiße Elster, hatte ihm von einem Ast aus in seiner Trauer Gesellschaft geleistet.
Er wusste nicht, wie lange er unter dem Baum gelegen und geschrien hatte. Es war, als ob sein Herz nicht nur stillgestanden hatte, sondern überhaupt nicht mehr in seiner Brust war. Doch dann hatte er gespürt, wie es in wildem Staccato sehr schmerzhaft wieder zum Leben erwacht war. Das Schreien hatte aufgehört, dafür war er losgestolpert, blindlings geradeaus, bis er vom Waldrand aus den Hügel vor sich aufragen sah – sein Dorf, Coteau du Soleil, das verratene, stand im Schatten schwarzer Wolken. Es war in Gefahr – und er allein hatte es in der Hand, die Gefahr noch im letzten Moment abzuwenden.
Aber musste er sich an die Vereinbarung halten, jetzt, nachdem er so schändlich getäuscht worden war? Er hatte alles getan, doch es hatte nichts genützt. Für Marie war er auf den elenden Handel eingegangen, nur für sie. Umsonst, alles umsonst. Er hatte loslaufen wollen, dorthin, zu Marie; so nah wie jetzt würde er ihr nie wieder sein.
Stattdessen hatte er fliehen müssen und war er wie in Trance zur Küste zurückgelaufen, durch Wälder und Felder, über Stock und Stein und zum Schluss den steilen Pfad in den Klippen hinunter geklettert. Dass er dabei die ganze Zeit über mit den Tränen gekämpft hatte, war nicht besonders hilfreich gewesen.
Pierre mühte sich mit dem Festmachknoten ab, aber der doppelte Palstek wollte ihm zum ersten Mal in seinem Leben nicht richtig gelingen. Zum Glück kam ihm André rechtzeitig zur Hilfe und legte das Boot fest, bevor sie sich zusammen mit den zwei Beuteln neuer Lebensmittel abmühten.
„Was ist los?“ fragte André besorgt, sobald sie im Schutz der Höhle am Feuer saßen und sich Baguette mit luftgetrocknetem Schinken schmecken ließen. „Ist etwas mit Jean-Michel? Haben sie ihn geschnappt?“
„Nein“, antwortete Pierre, „er ist in Brest angekommen und wird dort seinen Kontaktmann treffen. Er wird uns Nachricht schicken, sobald es wieder losgeht. Es dauert nicht mehr lange“, er wischte sich die Augen, „denn jetzt haben sie es auf die Spitze getrieben.“
„Sag schon, was ist los?“
„Es waren Jules und Claude“, antwortete Pierre leise und schluckte schwer. „Sie haben Marie...“
„Gefangen? Dann müssen wir sie befreien.“
„Dafür… dafür ist es schon zu spät. Marie… sie ist tot.“
„Was?!“
„Eloise hat mir mit den Lebensmitteln auch eine kurze Nachricht geschickt. Es ist wahr, sie haben Marie… nun, sie haben sie getötet, weil sie uns geschützt hat. Verstehst du? Wir sind… nein, ich bin schuld, dass das passiert ist.“
„Nicht doch, du bist nicht schuld und wir sind es auch nicht. Es sind die Niederträchtigen, die unser Land verraten! Es sind die Tyrannen, die uns in Knechtschaft halten wollen, verstehst du?“
„‚Zu den Waffen, Bürger‘“, murmelte Pierre und nickte. „‚Formt eure Truppen, marschieren wir, marschieren wir!‘ Ja, du hast recht, sie sind die Schuldigen.“
„Und eines Tages“, ergänzte André, „werden ihnen ihre verruchten Pläne bis auf den allerletzten Sous heimgezahlt.“
Pierre nickte und kaute nachdenklich am Rest seines Baguettes. Ihm war, als ob er wieder unter dem Baum lag und sein Leid herausschrie, während die Elster über ihm leise mit dem Schnabel klapperte.
Um der Elster willen war es geschehen. Er hatte seinen besten Freund belogen und sein Schicksal in die Hände des Teufels gelegt. Und wofür? Marie war tot, längst tot, als er auf den Handel eingegangen war, um sie zu retten. Er hatte alles gegeben – vergebens. Sein Schmerz war in diesem Augenblick noch zu frisch und tief; aber wenn er eines Tages abzuebben begann und er wieder klar denken konnte, dann würde er seine Rache planen. Und seine Rache würde furchtbar sein und sie alle vernichten, all die Niederträchtigen, die es gewagt hatten, ihn arglistig zu täuschen und sich an Marie zu vergreifen.
*****
Der Regen wird stärker, als sie den Eingang an der Rue de Vaugirard erreichen. Mit großen Sprüngen eilt Lotta neben Moritz her zum Musée du Luxembourg, wo die Warteschlange glücklicherweise nicht besonders lang ist. Als draußen die Sintflut niedergeht, wandern Lotta und Moritz durch den Palais de Tokyo, wo eine extensive Ausstellung der Werke Jean-Honoré Fragonards zum Thema Liebe, Verführung und Intrige zu bewundern ist.
„Plötzlich verstehe ich Gefährliche Liebschaften“, hört Lotta Moritz murmeln, als sie vor dem Gestohlenen Kuss, einer Leihgabe des Metropolitan Museum of Art, stehen. „Und außerdem…“, er tritt hinter sie und legt ihr sanft seine Arme um die schmalen Hüften, „bringt mich das auf eine gute Idee…“
„Unersättlich“, grinst Lotta und erwidert seinen Kuss, der drei vorbeigehende Studentinnen zu wehmütigem Gekicher veranlasst. „Komm, heben wir uns den Rest für später auf…“
„Okay“, antwortet Moritz, „dann darf ich die verehrte Dame zuvor noch nach nebenan ins Restaurant führen, ja?“
„Aber sehr gern, mein Herr“, kichert Lotta und nimmt seinen dargebotenen Arm. „Wäre ja nicht so, dass wir gerade ein paar kalorienreiche Süßigkeiten für mehr als zehn Euro verputzt haben. Aber wer zählt schon…“
„Unbezahlbar“, antwortet Moritz und zaubert von irgendwoher den letzten der acht Macarons aus dem Geschäft in der Rue Bonaparte. „Doch für dich ist mir nichts zu teuer, meine Süße.“
Bevor Lotta ernsthaft protestieren kann, schiebt er ihr das nach Passionsfrucht schmeckende Gebäck in den Mund und drückt ihr einen Kuss auf den Mundwinkel. Als sie wenig später im Restaurant sitzen, ringt Lotta sich zu einem Salat mit gegrillten Crevetten und gerösteten Pinienkernen durch, während Moritz sich tapfer mit einem Lammsteak auseinandersetzt.
Lotta muss sich ein Schmunzeln verkneifen, als er schließlich das Besteck streckt und sich mit fest zusammen gepressten Lippen auf seinem Stuhl zurücklehnt. Sie ist sehr bemüht, sich nicht von der Anspannung anstecken zu lassen, die von ihm ausgeht. Sie weiß nicht, was es ist, aber sie spürt deutlich, dass er unruhig ist.
„Woran denkst du?“ fragt sie schließlich, als er geschlagene zehn Minuten ohne ein Wort zu sagen in sein Weinglas gestarrt hat.
„Hm?“
„Woran denkst du, habe ich gefragt.“
„Ach…“, brummt er und lehnt sich zurück, wobei seine linke Hand unbewusst zu seiner Jacke gleitet, die hinter ihm über der Stuhllehne hängt. „Ich habe… Oh nein, was ist denn jetzt los?“
Lotta stutzt, folgt seinem Blick und sieht hinter sich am Eingang des Restaurants den Mann mit Hut und Mantel, der sich von einem Tisch vorne am Fenster erhoben und im Hinausgehen gezögert hat und nun auf ihren Tisch zusteuert. Ohne auf die irritierten Blicke ringsum zu achten, zieht er sich einen freien Stuhl heran und lässt sich dicht neben Lotta nieder.
„Hören Sie“, flüstert er auf Englisch, bevor Lotta protestieren oder auch nur Luft zum Fragen holen kann, während Moritz unter dem Blick des Kommissars noch dunklere Augen bekommt als zuvor. „Es tut mir leid tut, Ihren Freund verdächtigt zu haben. Immerhin geht es um die Elster, es ist ihr Totengesang. Es ist sehr wichtig, dass Sie die Taube besuchen, bitte, Sie müssen...“
„Ich habe keine Ahnung, wovon…“, beginnt Lotta verdutzt und weicht zurück, als einer der Kellner herankommt und den Mann in Hut und Mantel freundlich fragt, ob er etwas zu trinken haben möchte.
„Sie kommen aus Hamburg, ja?“ fragt der Kommissar leise, ohne sich um den ratlosen Kellner oder den zunehmen düsteren Blick von Moritz zu kümmern. „Was wissen Sie über den Einbruch in die Kunsthalle?“
„Äh“, macht Lotta und sieht Moritz lautlos mit den Zähnen knirschen. „Ist nicht mein Ressort, ich bin beim Morddezernat.“
„Waren Sie schon im Orsay?“ fragt der Kommissar mit einem Blick auf die Uhr, als ob Lotta gar nichts gesagt und Moritz keine sturmgrauen Augen bekommen hätte. „Falls Sie noch nicht da gewesen sind, gehen Sie unbedingt hin. Einen schönen Abend.“
Damit steht er auf und verschwindet schnellen Schrittes hinaus in den Abend. Lotta starrt ihm einen Moment lang verwundert nach, bevor sie sich darauf besinnt, dass sie nicht allein ist. Die Miene von Moritz ist verschlossen, hart und irgendwie eisig, während seine Hand erneut unbewusst die linke Seite seiner Jacke berührt. Dann schiebt er abrupt seinen Stuhl zurück, steht mit einem „ich gehe kurz Händewaschen“ auf und lässt Lotta verwundert zurück.
„Darf es noch etwas sein?“ fragt der Kellner, der den dritten Stuhl zurückstellt und Lotta mit unverhohlener Neugier und Besorgnis mustert.
„Nur die Rechnung bitte“, antwortet Lotta automatisch und pickt die restlichen gerösteten Pinienkerne von ihrem leeren Teller, während sie sich immer noch über den seltsamen Auftritt von Kommissar Frossard wundert. Er hat zwar zu ihr gesprochen; aber warum hat er dabei die ganze Zeit aufmerksam Moritz und dessen Reaktion beobachtet?
Lotta zieht ihr Smartphone hervor und notiert sich – für den Fall, dass Frossard nicht nur einen Anfall von Wahnsinn gehabt hat – in einer Notizen-App seine Worte, die für sie überhaupt keinen Sinn machen.
Da Moritz noch nicht zurück ist, als der Kellner die Rechnung bringt, greift Lotta nach der Jacke, die über dem leeren Stuhl von Moritz hängt. In der Innentasche findet sie wie erwartet sein Portemonnaie, in dem noch genug Bargeld ist. Als sie die Scheine abgezählt hat und den Geldbeutel zurückstecken will, fühlt sie in der Innentasche plötzlich noch etwas anderes.
Erstaunt zieht sie das kleine Etwas hervor und sieht im Licht der beiden Kerzen auf dem Tisch ein kleines dunkelblaues Samtkästchen. Ihr Herz stolpert, als ihr bewusst wird, was darin sein muss.
Rasch wirft sie einen Blick zum Durchgang, wo es zu den Toiletten geht. Moritz ist nicht zu sehen. Auch der Kellner und die anderen Gäste beachten sie nicht, als sie vorsichtig das Schmuckkästchen öffnet und der Kerzenschein den Stein auf dem Ring darin aufblitzen lässt. Die Zeit verlangsamt sich. Jedenfalls kommt es Lotta so vor, als sie die Facetten des fein geschliffenen Brillanten bewundert. Prinzessinnenschliff, bestimmt ein Karat, lupenrein mit einem Stich ins Blaue. Oder kommt das von den Lampen des Restaurants?
Mit wild pochendem Herzen und geröteten Wangen schließt sie das Kästchen und schiebt es zurück in die Innentasche unter das Portemonnaie, bevor sie sich heftig atmend in ihrem Stuhl zurücklehnt und das Gesehene zu begreifen versucht. Es dauert einen Moment, bis ihr vollends bewusst wird, was Moritz vorhat. Nun versteht sie seine Anspannung und spürt ein heftiges Ziehen in der Brust, als sie plötzlich eine Vision von sich in einem weißen Kleid und Moritz im eleganten Cut hat.
Schnell greift sie nach ihrem Wasserglas und versucht ihren Puls zu beruhigen, um sich nicht zu verraten. Als Moritz zurückkehrt, ernst und mit verschlossener Miene zu dunkelgrau durchzogenen meeresgrünen Augen, blickt Lotta ihm erwartungsvoll entgegen. Er wirft jedoch nur einen Blick auf die Geldscheine, die der Kellner nun mit der Rechnung zusammen abholt, und nickt.
„Okay, gehen wir“, hört Lotta Moritz leise sagen.
Er klingt angespannt, scheint sich aber um Ruhe zu bemühen und gerade noch rechtzeitig auf seine guten Manieren zu besinnen, als er ihr in die Jacke hilft. Im Hinausgehen öffnet er ihr die Tür, versäumt es aber, ihr seinen Arm zu reichen.
Lotta fasst schließlich seine Hand und zieht ihn unter sternenklarem Himmel zu sich heran, als sie die Seine erreicht haben. Er zögert kurz, erwidert dann aber ihren Kuss. Sie spürt zufrieden, wie sein Körper auf sie reagiert und seine Küsse fordernder werden. Ihrem Vorschlag, sich mit der Rückkehr ins Hotelzimmer zu beeilen, stimmt er stumm, aber mit einem breiten Grinsen zu.
*****