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Prolog

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Samstag, 17. Oktober 1942.

Bereits als er durch die Tür schlich, spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Stille im Haus war zu groß, selbst für ein ausgebombtes Gebäude. Der Wind hätte lauter durch die Fensterhöhlen heulen sollen, ein leises Ächzen der Wände wäre zu erwarten und hier und da ein leichtes Knacken der Bodendielen.

Denn durch den Treffer war die Stabilität des gesamten Hauses gefährdet – ein Grund mehr, warum er sich beeilen musste. Doch irgendwie war alles seltsam irreal. Oder bildete er sich das Ganze nur ein? War er mit Taubheit und Blindheit geschlagen, ausgerechnet in dieser Nacht? Er wusste es nicht.

Aber Pierre wusste genau, wo er zu suchen hatte. Es würde nicht ganz einfach sein, in den Keller hinunter zu steigen und in den Nachbarkeller zu gelangen um das Material zu bergen. Dennoch musste er es tun, sie brauchten den Nachschub; und nirgendwo in der Gegend gab es solch gutes Material wie im Keller des Hauptquartiers der Pétainisten.

Die Nähe der Feinde war ein Nervenkitzel, der ihm das Adrenalin in den Adern brodeln ließ. Aber das war genau das, was er für den Erfolg brauchte. Er war ein Musketier und hatte seine Pflicht zu erfüllen, für Frankreich. Wie immer hatten sie diese Aktion sorgsam geplant und vorbereitet. Pierre wusste, dass niemand im Keller sein würde; nur Claude und Jules langweilten sich oben bei der Nachtwache. Dank zweier Flaschen Bordeaux mit einer ordentlichen Portion Schlafmohn darin würden die beiden Brüder jedoch schon im Schlaf liegen, während er unten im Keller eine Kiste nach der nächsten in den Nachbarkeller verschob. Jean-Michel und André warteten bereits darauf, die Beute auf den Wagen zu laden und abzutransportieren.

Dennoch stellten sich ihm die Nackenhaare auf, als er am Fuß der eingestürzten Kellertreppe ankam und kurz ein Streichholz aufflammen ließ, um den Weg zur Wand des Nachbarkellers zu finden. Überall lagen Holz und Mauersteine herum, die aus den oberen Stockwerken bis in den Keller herunter gefallen waren.

Der Staub, der sich über alles breitete, war dick nach den beinah zwei Jahren, seit die deutschen Panzer in das Dorf eingerollt waren und mit unmissverständlicher Konsequenz die Trikolore aus den Fenstern des ehemaligen Rathauses geschossen hatten.

Vorsichtig stieg Pierre über die Trümmer und bahnte sich seinen Weg zur Wand des Nachbarkellers, in der ein Loch von der Größe eines Schrankkoffers prangte. Es hatte sie eine Woche und mehrere Flaschen präparierten Château Rochefort für die lästige Nachtwache oben gebraucht, um das Loch zu vergrößern, damit die Munitionskisten hindurch passen würden. Pierre lauschte in die Dunkelheit hinein und hielt den Atem an, bevor er ein weiteres Streichholz entflammte und durch das Loch hindurchleuchtete.

Niemand war zu sehen. Dafür sah Pierre die gestapelten Kisten mit dem verhassten Symbol und den drei scheinheiligen Worten darauf – Travail, Famille, Patrie. Wo waren sie geblieben, die Schlagworte der französischen Revolution? ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ waren schmählich verraten und zu ‚Arbeit, Familie, Vaterland‘ geworden. Und Jules, Claude und der alte François gehörten zu den Verrätern.

Umsichtig stieg er durch das Loch in den Lagerraum hinüber und vergewisserte sich, dass es genau die zehn Kisten waren, die sie ins Auge gefasst hatten. Er begann mit einer der kleineren, in der sich Munition für Armeepistolen befand. Zurück am Fuße der Kellertreppe ließ er erneut ein Streichholz aufflammen, um Jean-Michel und André ein Zeichen zu geben. Pierre hörte sie herunterkommen, als er bereits wieder durch das Loch kletterte, um die nächste Kiste zu holen.

Stumm arbeiteten sie Hand in Hand bis weit nach Mitternacht mit so wenig Licht und Geräuschen wie möglich. Einmal schickten sie André hinauf, um nach Jules und Claude zu sehen. Grinsend kam er zurück und berichtete mit zwei Daumen in die Höhe und einer eindeutigen Kopfbewegung, dass beide Brüder tief und fest schliefen. Die Weinflaschen standen auf dem Tisch zwischen ihnen, leer bis auf zwei Schlucke.

Pierre grinste zufrieden, als er den Papierschnipsel mit dem Romantitel auf die verbleibenden Kisten legte, in denen sich dem Transportschild nach zu urteilen Panzerfäuste befanden.

Sie hatten im Vorfeld lange debattiert, ob sie auch diese Waffen zu ihrer Beute machen sollten, sich dann aber dagegen entschieden. Pistolen und Gewehre hatten bisher ausgereicht; außerdem konnte man mit ihnen besser und viel schneller davonlaufen, im Fall der Fälle.

André grinste und vollführte pantomimisch eine Armbewegung, die an Degenfechten erinnerte, während Jean-Michel einen imaginären Federhut in elegant tiefer Verbeugung abnahm. Wäre Armand heute dabei, so hätte er seinen Dolch gezückt und damit den Papierschnipsel an den nächsten Holzbalken gespießt. Doch Armand war kein Musketier mehr, jedenfalls kein freier Kämpfer für die Gerechtigkeit. Und so mussten sie heute zu dritt agieren – Athos, Aramis und ihr Freund d’Artagnan – und mit einem blutigen Kreuz aus drei Strichen signieren. Es war ihr Markenzeichen und ein Affront gegen die Verräter Frankreichs.

Mit der letzten Kiste, in der sich Munition für Gewehre befand, stieg er hinter Jean-Michel durch die Ruine nach oben und lud den Rest ihrer Beute auf den Wagen, an dessen Steuer André bereits wartete. Sie schoben den Wagen die sanft abfallende Straße hinter dem Haus hinab und starteten den Motor erst, als sie mehr als dreihundert Meter entfernt und durch eine Kurve außer Sichtweite vom Haus der Kommandantur waren.

Sie sprachen kein Wort, aber sie warfen sich ein Grinsen zu, als sie den Wagen aus der Ortschaft hinaus und mit ausgeschalteten Scheinwerfern bis zu ihrem Versteck in der alten Scheune im Wald fuhren. Zwei ihrer Kameraden warteten bereits auf sie und luden die Beute ab, bevor einer von ihnen den Wagen nahm und damit zurück auf seinen Bauernhof in der nächsten kleinen Ortschaft fuhr.

Zu Fuß ging Pierre kurz darauf querfeldein neben André her durch die sternenklare Nacht, die von der schmalen Sichel des jungen zunehmenden Mondes nur sehr mäßig erhellt wurde.

Jean-Michel hatte sich an der Wegkreuzung am Fuße des Hügels von ihnen verabschiedet, um durch die Wiesen zu seinem kleinen Steinhaus am Rande des nahgelegenen Küstenörtchens zurückzukehren; ins Château würde er mit Rücksicht auf Claires Familie und das Netzwerk erst zurückkehren können, wenn die schändlichen Verräter nicht mehr die Oberhand hatten. Und auch Pierre hoffte, dass dies möglichst bald eintreten möge.

Er ging beschwingt von ihrem Erfolg heute Nacht und freute sich darauf Marie wiederzusehen, die seit der Hochzeit vor fünf Wochen zu ihm und seiner Großmutter gezogen war. Es erschien ihm immer noch wie ein Traum, dass sie nun für immer Teil seines Lebens sein würde.

Sie war die beste Frau, die er sich hätte wünschen können. Sie war die Schönste, die er je gesehen hatte – mit herrlichem Lockenhaar in leuchtendem Kastanienbraun und großen schokoladenbraunen Augen, in denen er versinken konnte. Vor neun Jahren war sie mit ihren Eltern aus Paris zu ihren Verwandten gezogen und damit zu ihnen ins kleine bretonische Dorf auf dem Sonnenhügel gekommen. Sie war damals kaum elf Jahre alt, als er mit seinen zwölf Jahren gerade beschlossen hatte, niemals zu heiraten und Mädchen blöd zu finden. Ein Blick auf sie – und es war um ihn geschehen gewesen.

Jeder hatte über sie gesagt, dass sie das schönste Mädchen und später auch die schönste Frau der ganzen Gegend, der ganzen Bretagne und womöglich gar des ganzes Landes sein mochte. Natürlich hatte sie viele Verehrer gehabt, aber sie hatte ihnen nie mehr als ein Lächeln geschenkt; denn ihr Herz hatte sie an ihn vergeben – damals, bei jener ersten schicksalhaften Begegnung im Mai 1933.

In manchen Momenten hielt er es immer noch für ein Wunder, dass sich dies wundersame Geschöpf, die kleine Cousine von André, ausgerechnet in ihn verliebt hatte. Wenn er hätte wetten sollen, dann hätte er auf Jean-Michel getippt; aber der hatte sich vor drei Monaten mit Claire Rochefort verlobt.

André begann leise zu pfeifen, als sie die Felder verließen und durch das kleine Waldstück gingen, das am Fuße des Hügels lag, auf dem ihre Ortschaft thronte. Pierres Herz beschleunigte seinen Schlag. Das seltsame Gefühl, dass er verspürt hatte, als er in die Ruine hinab gestiegen war, kroch erneut in ihm hinauf, als sie den Hügel erklommen und die ersten Häuser ihrer Ortschaft in Sicht kamen. Auch André verlangsamte seine Schritte und blickte sich aufmerksam nach allen Seiten um. Etwas stimmte nicht.

Erst als sie den Dorfplatz erreichten und er das kleine Haus seiner Großmutter sah, wusste Pierre, was es war. Die Tür hing schief in den Angeln und auf der weiß getünchten Wand daneben prangte das Wort ‚Traîtres‘ – Verräter.

*****

Auf, Kinder des Vaterlands,

Der Tag des Ruhmes ist gekommen!

Gegen uns Tyrannei,

Das blutige Banner ist erhoben.

Zittert, Tyrannen und ihr Niederträchtigen

Schande aller Parteien,

Zittert! Eure verruchten Pläne

Werden euch endlich heimgezahlt!

*****

Herr, gib ihnen die ewige Ruhe,

und das ewige Licht leuchte ihnen.

In ewigem Gedenken lebt der Gerechte fort

Gütiger Jesu, Herr, gib ihnen Ruhe.

Requiem für eine Elster

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