Читать книгу Requiem für eine Elster - Fee-Christine Aks - Страница 6
Zerstörung
ОглавлениеEs musste Stunden her sein, vielleicht auch Tage, seit er das Haus seiner Großmutter betreten hatte. Mit André dicht hinter sich hatte er einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen gemacht, um nicht über die umgestürzten und zum Teil zu Bruch gegangenen Möbel zu stolpern. Er hatte ihre Namen gerufen, doch es war keine Antwort gekommen. Er hatte geahnt, was sie finden würden; aber es war dennoch ein großer Schock gewesen.
Gabrielle Lamie war eine Schönheit gewesen zu ihrer Zeit. Und sie war die beste Köchin zwischen Brest und Rennes, deren Mayonnaise zu diversen Gerichten mit Schalentieren legendär war. Es verwunderte sie daher nicht, dass sie Gabrielle in der Küche fanden.
Aber nichts auf dieser Welt hätte sie an diesem kalten Oktobertag 1942 vorbereiten können auf die Zerstörungswut und grausame Brutalität, die sich hier manifestierten. Gabrielle war eine sehr warme, herzensgute und fröhliche Frau gewesen. Nichts war davon übrig in der einst so gemütlichen Küche, in der sie nun auf dem großen Holztisch lag.
André musste ihn festhalten und mühsam auf einen Holzschemel setzen, denn der Anblick des gebrochenen und geschändeten Körpers war zu viel für Pierre. Er brauchte nicht das blutige Gesicht mit den trüb gewordenen Augen sehen, nicht den zerrissenen und besudelten Saum ihres schief hängenden Kleides und auch nicht das Wort, das in ihre halb entblößte Brust geschnitten worden war.
Sie hatten beide eine ziemlich klare Vorstellung davon, wer sich hier ausgetobt hatte. Pierre spürte die Tränen kommen und war gleichzeitig erleichtert, dass Marie nicht hier war. Er verbot sich nachdrücklich, sich auch nur ansatzweise vorzustellen, was die Pétainisten mit ihr gemacht hätten. Denn seine geliebte ‚Taube‘ Marie wusste, wer er wirklich war.
Er hatte sie nicht einweihen wollen, doch eines Nachts hatte sie es zwangsweise herausgefunden, als er mit einer Streifschusswunde nach Hause gekommen und gleich hinter der geschlossenen Haustür zu Boden gesunken war.
André stützte ihn mitfühlend, als Pierre Anstalten machte aufzustehen, und half ihm hinüber in die Wohnstube, die genauso verwüstet war wie der Rest des Hauses. Während er auf der Ofenbank versuchte wieder zu Sinnen zu kommen, verschwand André um im oberen Stockwerk nachzusehen. Er kam zurück und schüttelte stumm den Kopf; doch dabei hielt er etwas in die Höhe, das Pierre erst auf den zweiten Blick als die Titelseite ihres Lieblingsromans von Alexandre Dumas erkannte. Quer über den Titel Les trois mousquetaires war etwas mit roter Tinte oder Blut geschrieben, das Pierre einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.
„Sie wissen es“, murmelte André, „sie wissen, dass wir es gewesen sind.“
„Nein“, antwortete Pierre mit Tränen in der Stimme, „aber sie ahnen es.“
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Langsam wandert Philippe Brisac durch die weitläufigen Ausstellungsräume. Wie immer hängt eine riesige Traube Touristen – vor allem Asiaten – vor der im Vergleich zum hallenartigen Raum sehr kleinen ‚Mona Lisa‘.
Philippe interessiert sich jedoch nicht für die Italiener, auch wenn er an Tizian und Tintoretto vorbeikommt auf seinem Weg zu den französischen Meistern des neunzehnten Jahrhunderts.
Es gehört zu seiner Tradition, jeden Sonntag leise die Marseillaise summend im Louvre die Gemälde von Delacroix und David zu besuchen und in patriotischen Gefühlen zu schwelgen. Sein Lieblingswerk, die monumentale ‚Liberté guidant le peuple‘ von Eugène Delacroix, ist wie immer der Höhepunkt seines Streifzugs durch den hoch gewölbten und majestätisch breiten Korridor auf der flusszugewandten Seite des Palastkomplexes.
Direkt davor stehen zwei junge Leute in Jeans und Pullover, andächtig in den Anblick des berühmten Gemäldes versunken. Philippe kommt nicht umhin zu bemerken wie hübsch die junge Frau ist. Sie hat kurze kastanienbraune Locken und große rehbraune Augen, die ihn nicht nur an seine Lieblingsschauspielerin aus Frühstück bei Tiffany erinnert, sondern auch an die ‚Taube‘ von Coteau du Soleil und ein bisschen – Pierre muss schlucken – an Louise.
Es ist lange her, dass er an sie gedacht hat und an die gemeinsame Kindheit in dem kleinen Ort in der Bretagne. Sie ist das einzige Kind in seiner Grundschule gewesen, das freundlich zu ihm gewesen ist. Und es ist ausgerechnet Maurice gewesen, sein Intimfeind seit Kindertagen, der sie ihm weggenommen hat.
Die junge Frau, die Philippe an Louise Leroux erinnert, sagt leise etwas zu ihrem Begleiter, der nickend in derselben Sprache antwortet. Philippe ist erschrocken, die Sprache zu hören, die er jahrzehntelang mit seiner Schande in Verbindung gebracht hat. Er weiß aus den Nachrichten, dass im Geiste der europäischen Einheit besonders die französisch-deutsche Freundschaft gepflegt wird; für ihn ist es dennoch immer noch schmerzlich, da ihn jedes Wort über Deutschland an die Schmach seiner Kindheit und Jugend erinnert.
Seit jenem Paket von Eloise und den darauf folgenden Gesprächen mit ‚La Pie‘ und ‚Le Corbeau‘ weiß er mittlerweile, dass er all die Jahre falsch gelegen hat. Völlig umsonst hat er sich seiner Herkunft geschämt, wie man es ihm immer eingeredet hat. Die Vergangenheit, der Schmerz, die Ausgrenzung und der Hass – sie lassen sich nicht so leicht auslöschen wie ein Name; schon gar nicht, wenn diejenigen, die es besser wussten und es all die Jahre stillschweigend zuließen, dass er gequält wurde, immer noch an der Macht sind. Und so genießt Philippe das befriedigende Wissen, dass er sich nun endlich rächen wird an denjenigen, die tatsächlich Schande über sein Dorf gebracht haben.
Langsam wandert er weiter, dem jungen Paar hinterher, dass nun den Weg zur ‚Mona Lisa‘ einschlägt, sich aber nicht wie all die Japaner bis zur Barriere nach vorne drängt, sondern im weiten Bogen hinter der Traube aus schlitzäugigen Touristen an Leonardo da Vincis berühmtem Gemälde vorbeigeht – wohl um zu sehen, ob La Joconde ihnen wirklich mit den Augen folgt.
Ein Läuten erschreckt die Besucher. Philippe zuckt ebenfalls kurz zusammen, auch wenn er sofort feststellt, dass es nicht das schrille Geräusch des Alarms ist, den unvorsichtige Touristen oftmals bei akrobatischen Fotos vor dem wohl berühmtesten Gemälde der Welt unbeabsichtigt auslösen. Ein Blick auf seine Armbanduhr sagt Philippe, dass alles ganz harmlos ist und das Museum in zehn Minuten schließen wird.
Gemütlich geht er mit den Japanern zum Ausgang und steht auf der Rolltreppe unter der Glaspyramide hinter dem jungen Paar, das er vor ‚seinem‘ Delacroix gesehen hat. Sie unterhalten sich auf Deutsch, weshalb er nur versteht, dass sie zu Fuß zu einem Restaurant in einer Seitenstraße des Boulevard Saint-Germain gehen wollen.
Philippe ist erstaunt, dass sie sich ausgerechnet ‚sein‘ Restaurant ausgesucht haben, das eigentlich nur unter Parisern ein Geheimtipp ist und seit 2007 von seiner Tochter Marie-Louise und deren Partner Raoul geführt wird.
‚Aber die Deutschen‘, denkt er mürrisch, ‚die annektieren ja alles, was gut ist.‘
Und das schließt neben Restaurants mit erschlichenen Michelin-Sternen auch die Kunst und nationale Helden ein, was er jetzt, da er die Wahrheit kennt, ins rechte Licht rücken lassen wird.
Er grinst stumm in sich hinein. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Bürgermeister Édouard Ardant nicht darauf eingehen sollte, hat er immer noch ein stechendes Ass im Ärmel – sein Wissen um die wahre Vergangenheit der Vorfahren von Édouard.
Als er auf den Cour Carrée hinaus tritt und die kühle Abendluft in seinen nicht geschlossenen Mantel fährt, überlegt er kurz, ob er direkt nach Hause in die Rue de Beaune gehen oder doch wie jeden Sonntag Marie-Louise und dem Le Rayon de Soleil einen Besuch abstatten soll.
Eigentlich behagt es ihm ganz und gar nicht, sich dort in Gegenwart zweier Deutscher eine herzhafte Galette au saumon mit Salat der Saison, Baguette und Cidre schmecken zu lassen. Andererseits, wer ist er denn, dass er sich ausgerechnet von ‚Boches‘ seinen traditionellen Sonntagabend vermiesen lässt?
Schweren Herzens wendet er sich am Ufer der Seine nicht nach links, um zur Pont du Carrousel und nach Hause zu gehen. Stattdessen geht er geradeaus und hinter dem Pärchen her über die Pont des Arts hinüber zum Quai de Conti, wo er sich nach rechts wendet und nach kaum dreißig Metern nach links in eine schmale Straße einbiegt, die ihn zur Rue de Seine führt.
Hin und wieder wehen ein paar Worte in der verhassten Sprache zu ihm, von denen er nur Panthéon, Saint-Sulpice und Jardin du Luxembourg verstehen kann. Offenbar planen die beiden ihre ‚Sightseeing-Tour‘, auf der sie auch das Musée du Luxembourg, die Orangerie mit Monets Wasserlilien und natürlich das Musée d’Orsay besuchen wollen.
Amüsiert grinst Philippe in sich hinein, als er daran denkt, was sich dort für ein potenzieller Skandal verbirgt, der sein ‚Plan B‘ ist, sollte Édouard nicht auf seine Forderung eingehen. Egal, wie er es betrachtet: es wird die perfekte Rache sein – Rache für Überheblichkeit, Machtbesessenheit und Verrat.
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