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SECHSTE ABHANDLUNG: ÜBER VERSTELLUNG UND HEUCHELEI

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Die Heuchelei ist bloß eine schwache Abart von Klugheit und Weisheit, denn es erfordert einen scharfen Verstand und großen Mut zu wissen, wann die Wahrheit ausgesprochen werden muss, und sie dann auch tatsächlich auszusprechen. Daher sind die schwächeren Politiker die größten Heuchler.

Tacitus sagt: „Livia passte gut zu den Künsten ihres Gatten und zu den Heucheleien ihres Sohnes“, wobei er die Künste – und die Politik – dem Augustus und die Heuchelei dem Tiberius zuschrieb. Und als Mucianus den Vespasian ermuntert, die Waffen gegen Vitellius zu ergreifen, sagt er: „Wir erheben uns weder gegen das schneidende Urteilsvermögen des Augustus noch gegen die äußerste Vorsicht und Verschlagenheit des Tiberius.“ Diese Eigenschaften der Staatskunst und des politischen Geschicks einerseits und der Heuchelei und Verschlagenheit andererseits sind in der Tat höchst unterschiedliche Fähigkeiten und daher streng voneinander zu trennen. Denn wenn jemand ein so scharfes Urteilsvermögen besitzt, dass er erkennen kann, was dem Lichte der Öffentlichkeit zuträglich ist, was besser geheim gehalten wird und was eher im Halbdunkel belassen werden sollte, und überdies wem und wann er was sagen kann (was wahre Staatsund Lebenskunst ist, wie Tacitus es treffend genannt hat), dann wird ihm Heuchelei als nachteilig und armselig erscheinen. Aber wenn jemand dieses Urteilsvermögen nicht besitzt, dann neigt er eher zu Heimlichkeit und Heuchelei. Denn wenn jemand in bestimmten Dingen nicht zu einem Entschluss kommen kann, ist es gut für ihn, den sichersten und vorsichtigsten Weg zu wählen, so wie man behutsam vorwärts geht, wenn man nicht gut sehen kann. Die fähigsten Menschen, die je gelebt haben, besaßen allesamt eine große Offenheit und Geradlinigkeit und standen im Ruf der Bestimmtheit und Aufrichtigkeit, denn sie waren wie gut dressierte Pferde, die genau wissen, wann sie anhalten und wann sie abbiegen müssen. Und wenn es tatsächlich einmal für sie notwendig gewesen sein sollte, zu heucheln, wurde dies von ihrem guten Ruf der Aufrichtigkeit und Offenheit überdeckt.

Es gibt drei Grade bei der Verschleierung und dem Verbergen der eigenen Person. Der erste Grad besteht in Verschlossenheit, Zurückhaltung und Verschwiegenheit, sodass das wahre Ich unsichtbar bleibt. Der zweite Grad besteht in der negativen Form der Verstellung, die dann vorliegt, wenn jemand durch Zeichen oder Worte vorgibt, nicht der zu sein, der er in Wirklichkeit ist. Und der dritte Grad besteht in der positiven Form der Heuchelei, wenn jemand ausdrücklich und aktiv den Eindruck erweckt, er sei ein anderer als der, welcher er in Wirklichkeit ist.

Was den ersten dieser Grade, die Verschwiegenheit, angeht, so ist dies in der Tat die Tugend des Beichtigers. Gewisslich hört der Verschwiegene viele Geheimnisse, denn wer würde sich einem Schwätzer oder einem Ausplauderer anvertrauen? Aber wenn ein Mensch als verschwiegen angesehen wird, lädt er zur Offenheit ein, so wie die eingeschlossene Luft die Außenluft ansaugt. So wie bei der Beichte die Enthüllungen nicht zum weltlichen Gebrauche gedacht sind, sondern zur Gewissenserleichterung des Beichtenden, so gelangen die Verschwiegenen zur Kenntnis vieler Dinge, da die Menschen ihr Innerstes nicht den anderen mitteilen, sondern zu ihrem eigenen Nutzen entlasten wollen. In wenigen Worten ausgedrückt: Verschwiegenheit lockt Geheimnisse an. Außerdem ist, um die Wahrheit zu sagen, Nacktheit sowohl am Körper als auch am Geiste reizlos, und deshalb werden das Benehmen und die Handlungen eines Menschen umso mehr bewundert, wenn sie nicht ganz offenherzig geschehen. Redselige und Schwätzer sind überdies zumeist eitel und leichtgläubig, denn derjenige, der das ausplaudert, was er weiß, wird auch das ausplaudern, was er nicht weiß. Daher sei hier festgestellt, dass die Eigenschaft der Verschwiegenheit sowohl von Klugheit als auch von Sittlichkeit zeugt. In diesem Falle ist es gut, wenn Gesicht und Zunge im Einklang miteinander stehen, denn die Enthüllung des Wesens durch das Mienenspiel ist eine verräterische Angelegenheit, da ihm größeres Gewicht beigemessen und mehr geglaubt wird als den Worten.

Was den zweiten Grad, die Verstellung, angeht, so folgt sie der Verschwiegenheit geradezu zwangsläufig, denn der Verschwiegene muss bis zu einem gewissen Grade auch zur Verstellung fähig sein. Die Menschen sind zu schlau, um es dem Verschwiegenen zu erlauben, eine Haltung der Unentschiedenheit einzunehmen und nicht die Waagschale ein wenig nach der einen oder anderen Seite zu kippen. Sie werden ihn mit Fragen bestürmen, ihn auf ihre Seite zu ziehen versuchen und so sehr auf ihm herumhacken, dass er zur einen oder anderen Seite neigen muss, wenn er nicht in absurdem Schweigen verharren will. Wenn er hingegen stumm bleibt, werden sie aus seinem Schweigen genauso viel herauslesen, als wenn er etwas gesagt hätte. Und was Mehrdeutigkeiten oder orakelhafte Rede angeht, so werden sie nicht lange Bestand haben. Daher ist es niemandem möglich, verschwiegen zu sein, ohne sich ein wenig der Verstellung zu bedienen, die geradezu die Schleppe am Kleide der Verschwiegenheit darstellt.

Was den dritten Grad, die Heuchelei und Falschbekundung, angeht, so halte ich diesen für tadelnswerter und weniger klug, außer in überaus wichtigen und selten auftretenden Angelegenheiten. Deshalb ist die so oft anzutreffende Gewohnheit der Heuchelei (die diesen letzten Grad darstellt) ein Laster, das entweder aus angeborener Falschheit oder Ängstlichkeit oder aus einem Verstand erwächst, der größere Makel besitzt, die verborgen werden müssen, weswegen es dann auch in anderen Dingen zum Einsatz gelangt, damit der Heuchler nicht aus der Übung komme.

Es gibt drei große Vorteile der Verstellung und Heuchelei. Erstens vermögen sie Widerspruch zu besänftigen und zu überrumpeln, denn wenn jemand seine Absichten öffentlich macht, so ist das ein Weckruf für alle, die gegen ihn sind. Zweitens vermögen sie einen angenehmen Rückzug zu verschaffen, denn wenn sich jemand durch eine eindeutige Verlautbarung festlegt, muss er sie entweder durchfechten oder daran zugrunde gehen. Drittens können auf diese Art und Weise die Ansichten des anderen besser enthüllt werden, denn demjenigen gegenüber, der sich den anderen öffnet, werden sich die Menschen kaum feindlich erzeigen, sondern ihn weiterreden lassen und sich bei seinen offenen Worten das Ihre denken. Daher kennt der Spanier dieses gute und gewitzte Sprichwort: „Sprich eine Lüge aus, und du entdeckst eine Wahrheit.“ Doch zum Ausgleich gibt es auch drei Nachteile. Der erste besteht darin, dass Verstellung und Heuchelei oft mit einem Gebaren der Ängstlichkeit einhergehen, die bei jeder Gelegenheit verhindert, dass das anvisierte Ziel erreicht wird. Der zweite besteht darin, dass sie viele Menschen zurückstoßen und verwirren, die ansonsten möglicherweise mit dem Heuchler zusammengearbeitet hätten, sodass er nun fast allein auf sein Ziel zumarschieren muss. Der dritte und größte besteht darin, dass es den Menschen eines der wichtigsten Werkzeuge zum Handeln beraubt, nämlich des Vertrauens. Die beste Mischung und Methode ist, Offenheit des Geistes zu zeigen und dafür in hohem Ansehen zu stehen, Verschwiegenheit zu üben, sich angemessen der Verstellung zu bedienen und die Gabe der Heuchelei zu besitzen, falls nichts anderes mehr helfen sollte.

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