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ERSTE ABHANDLUNG: ÜBER DIE WAHRHEIT

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„Was ist Wahrheit?“, fragte Pilatus im Scherz, ohne eine Antwort darauf zu erwarten. Gewiss gibt es viele, die Freude an Leichtfertigkeit haben und es als beengenden Zwang empfinden, sich an eine bestimmte Überzeugung zu binden, denn sie lieben den freien Willen im Denken genauso wie im Handeln. Und obwohl die Sekten der Philosophen, die dieser Richtung angehörten, inzwischen verschwunden sind, gibt es doch noch gewisse beredte Geister, die zur selben Art zu zählen sind, auch wenn in ihnen nicht so viel Glut und Blut steckt wie in den Alten. Aber die Lüge wird nicht nur durch die Schwierigkeiten und Anstrengungen begünstigt, die die Menschen zur Auffindung der Wahrheit auf sich nehmen müssen, und auch nicht nur durch die Bürden, die ihnen die Wahrheit auferlegt, wenn sie endlich gefunden wurde, sondern es existiert vielmehr eine natürliche, wenn auch verdorbene Liebe zur Lüge an und für sich. Eine der späteren griechischen Denkschulen hat diese Angelegenheit untersucht und verharrt in Ungewissheit, wie sie darüber urteilen soll, dass die Menschen die Lüge lieben – nicht um des Vergnügens willen, wie bei den Dichtern; nicht einmal um des Vorteils willen, wie bei den Kaufleuten, sondern einfach nur um der Lüge selbst willen. Auch ich kann als Grund dafür lediglich angeben, dass die Wahrheit dem nackten und kalten Tageslichte gleicht und die Maskeraden und Mummereien und Triumphe der Welt nicht annähernd so prächtig und anmutig zu zeigen vermag wie das Kerzenlicht. Die Wahrheit ist zum Preis einer Perle zu haben, die am besten bei Tage erglänzt, aber sie steigt niemals zum Preis eines Diamanten oder Karfunkels an, der sich am vorteilhaftesten bei ungewissen Lichtverhältnissen zeigt. Die Hinzufügung einer Lüge verleiht jeder Wahrheit einen zusätzlichen Reiz. Bezweifelt es etwa irgendjemand, dass, wenn aus der Seele des Menschen eitle Ansichten, schmeichelhafte Hoffnungen, falsche Wertschätzungen und Vorstellungen und dergleichen mehr entfernt würden, bei einer großen Anzahl von Menschen diese Seele als armes, eingeschrumpftes Ding voller Melancholie und Unmut übrig bliebe, das ihnen selbst zuwider wäre? Einer der Kirchenväter bezeichnete in großer Strenge die Dichtkunst als vinum daemonum [Wein der Dämonen], weil sie die Phantasie erfüllt, jedoch nur mit dem Schatten der Lüge. Aber großes Leid bereitet nicht jene Lüge, die flüchtig durch die Seele hindurchfährt, sondern die Lüge, die einsinkt und sich festsetzt, so wie wir es vorhin beschrieben haben. Doch wie es auch immer um die verkommenen Urteile und Neigungen des Menschen stehen mag, so lehrt uns doch die Wahrheit, die nur über sich selbst urteilt, dass die Suche nach der Wahrheit, die dem Freien und Liebeswerben um sie gleicht, und das Wissen um die Wahrheit, das uns ein Gefühl für ihre Gegenwart verschafft, sowie der Glaube an die Wahrheit, der uns den Genuss an ihr ermöglicht, die höchsten Güter der menschlichen Natur sind. Die erste Schöpfung Gottes bei der Erschaffung der Welt war das Licht der Sinne, und die letzte war das Licht des Verstandes, und sein Sabbatwerk ist seit jeher die Erleuchtung durch seinen Geist. Als Erstes hauchte er der Materie und dem Chaos das Licht ein, dann hauchte er dem Antlitz des Menschen Licht ein, und seitdem haucht er noch immer das Licht dem Antlitz seiner Auserwählten ein und erfüllt sie damit. Der Dichter, der eine Denkschule verherrlichte, die ansonsten den anderen unterlegen war, drückte es auf die folgende ausgezeichnete Weise aus: Es ist ein Vergnügen, am Ufer zu stehen und zuzusehen, wie die Schiffe auf dem Meer hin und her geworfen werden; es ist ein Vergnügen, am Fenster einer Burg zu stehen und tief unter sich eine Schlacht und deren Wagnisse zu beobachten; aber kein Vergnügen ist mit dem zu vergleichen, auf dem erhöhten Boden der Wahrheit zu stehen (einem uneinnehmbaren Hügel, auf dem die Luft stets klar und heiter ist) und die Irrtümer, Irrungen, Nebel und Stürme im Tale drunten zu gewahren. Doch sollte dieses Zuschauen nicht in Stolz und Überheblichkeit, sondern in Mitleid geschehen. Sicherlich bedeutet es den Himmel auf Erden, wenn die Seele des Menschen vom Mitleid bewegt wird, im Glanz der göttlichen Vorsehung ruht und sich um die Pole der Wahrheit dreht.

Wenn wir von der theologischen und philosophischen Wahrheit zu jener im bürgerlichen Leben hinüberwechseln, so werden selbst jene, die sich dieser Wahrheit nicht bedienen, zugeben müssen, dass eine klare und offene Handlungsweise die menschliche Natur ehrt, während die Beimischung von Falschheit wie die Zugabe niederer Metalle in Gold- und Silbermünzen ist: Sie erleichtert die Bearbeitung, mindert aber den Wert. Denn es ist die Schlange, die sich auf krummen und gewundenen Pfaden fortbewegt. Niedrig kriecht sie auf dem Bauch, statt auf Füßen zu gehen. Kein anderes Laster bedeckt den Menschen so mit Schande wie das der Falschheit und Hinterlist. Und deshalb sagt Montaigne bei der Erörterung der Frage, warum die Lüge eine solche Schande und abscheuliche Beschuldigung sei, sehr schön: „Wenn man es recht bedenkt, was es heißt, einen Menschen einen Lügner zu nennen, so bedeutet es so viel, wie zu sagen, er sei Gott gegenüber ein Tapferer und den Menschen gegenüber ein Feigling.“ Denn Gott erkennt jede Lüge, während sie den Menschen entgeht. Falschheit und Treubruch sind ein Frevel, dessen Schwere darin ihren Ausdruck findet, dass er der letzte Glockenton sein wird, mit dem das Jüngste Gericht über die Menschheit hereinbricht, denn es steht geschrieben, dass, wenn Christus erscheint, „er keine Rechtschaffenheit auf der Erde finden wird.“

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