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Kapitel 12

1988 in der Nähe von Großburschla

Birgit Schneider, von ihren Freunden nur Biggi genannt, saß auf dem Sofa und starrte an die weiße Raufasertapete an der gegenüberliegenden Wand ihres Wohnzimmers. Peter war verschwunden. Gerade überlegte sie, wie viele Motive es dafür geben und welche man ausschließen könnte, als es klingelte. Zwei Männer hielten ihr, nachdem sie geöffnet hatte, einen Dienstausweis vor die Nase, der sie als Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit auswies. Sie hielten sich nicht lange mit Reden auf und baten sie mitzukommen. Kaum hatte sie sich ihren Mantel und ihre Stiefel angezogen, saß sie auch schon auf der Rückbank eines himmelblauen Wartburgs. Sie ahnte inzwischen, dass der unerwartete Besuch im Zusammenhang mit Peters Verschwinden stand. Es war eine lange Fahrt, aber sie hatte schnell erkannt, wohin es ging, obwohl es draußen dunkel war. Die Männer fuhren nach Dresden, in ihre Heimatstadt. Jede Frage, die sie den beiden Stasi-Mitarbeitern stellte, wurde mit stummer Verachtung beantwortet. Als das Fahrzeug sein Ziel erreichte und sie die von den Strahlern angeleuchtete gelbe Klinkerfassade sah, wusste sie, wo sie waren. Es überraschte sie nicht. Wenigstens hatte sie jetzt Gewissheit. Sie standen vor dem Einfahrtstor von Bautzen, dem meist gefürchtetsten Gefängnis der DDR. Die Bevölkerung nannte den Knast in Anlehnung an die gelbe Fassade nur „Gelbes Elend“. Schon eine halbe Stunde später begann das erste Verhör.

»Sie wissen, warum Sie hier sind, Fräulein Schneider?«

Der Mann mit dem bestimmten Gesichtsausdruck und der scharfen Stimme strahlte eine unheimliche Autorität aus. Der Kurzhaarschnitt, die betont gerade Sitzhaltung und die ausdruckslosen Augen unterstrichen diesen Eindruck. Vor dem Mann lag auf dem Tisch eine geschlossene Akte. Aber Birgit Schneider konnte nicht erkennen, was auf dem Deckblatt stand.

»Nein, das weiß ich nicht. Und ich möchte jetzt endlich wissen, was hier eigentlich los ist«, flehte sie.

»Glauben Sie ernsthaft, dass Sie in der Position sind, irgendwelche Fragen oder gar Forderungen zu stellen, Fräulein Schneider?«, erwiderte der Mann mit eisiger Stimme. »Die einzige Person in diesem Raum, der es erlaubt ist, Fragen zu stellen, bin ich! Haben Sie das verstanden?« Mehr als ein vorsichtiges Nicken bekam Biggi nicht zustande. Sie war eigentlich kein ängstlicher Mensch. Aber der Mann, der ihr gegenübersaß, schien ihr unheimlich. »Gut! Wo befindet sich Ihr Freund Peter Dreschers?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn seit gestern morgen nicht mehr gesehen!«, antwortete sie wahrheitsgemäß. Sie hatten schon oft über seine Pläne gesprochen. Aber sie war immer die Unentschlossene gewesen. Und Peter wollte nicht ohne sie gehen. Eigentlich ...

»Ich frage Sie noch einmal: Wo ist Peter Dreschers?«

»Ich weiß es wirklich nicht«, wiederholte sie.

»Sie wollen uns also ernsthaft erzählen, dass sie nicht darüber informiert waren, dass ihr Verlobter einen Fluchtversuch unternommen hat?« Die Schärfe in der Stimme des Mannes hatte zugenommen.

»Fluchtversuch? Wovon reden Sie da eigentlich?« Doch es klang längst nicht so überzeugend, wie sie es wollte. Außerdem stieg langsam Panik in ihr auf. War Peter die Flucht gelungen oder saß sie hier, weil sie ihn geschnappt hatten? Die Art, wie der Beamte fragte, ließ Vermutungen in beide Richtungen zu.

»Ich wiederhole meine Frage noch einmal, Fräulein Schneider. Sie wissen weder, wo sich Peter Dreschers zurzeit befindet, noch haben Sie jemals mit ihm über eine Flucht aus der DDR gesprochen?«

»Nein, ich weiß nichts darüber«, blieb sie bei ihrer Version.

»Natürlich ist Ihnen auch nicht bekannt, dass Peter Dreschers bei Heldra, wo ihr Verlobter zufällig für die Instandhaltung der Grenzschutzanlage verantwortlich ist, versucht hat, die Grenze zu übertreten? Er hat nie mit Ihnen darüber gesprochen?« Die Augen des Mannes waren jetzt zu Schlitzen verengt.

»Nein, das hat er nicht!«, sagte sie verzweifelt. Und auch das entsprach der Wahrheit. Peter hatte sie offenbar schützen wollen, indem er ihr nichts erzählt hatte.

»Dann wissen sie natürlich auch nicht, ob ihm jemand bei dem Versuch geholfen hat?«

»Nein, verdammt noch mal. Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass ich nichts darüber weiß. Wie geht es Peter denn? Geht es ihm gut?«

»Wir gehen davon aus, dass er auf bei dem Fluchtversuch ertrunken ist«, erwiderte der Vernehmer, der keine Miene verzog.

»Das ist gelogen«, gab sie schließlich trotzig zur Antwort. »Wenn Peter tot wäre, würde ich nicht hier sitzen«, fuhr sie mit einem triumphalen Lächeln fort.

»Wer war in die Fluchtpläne Ihres Verlobten eingeweiht, Fräulein Schneider?«, wiederholte der Mann, ohne auf ihre letzte Bemerkung einzugehen.

»Und wenn Sie mich noch hundert Mal fragen, ich weiß nichts darüber. Und selbst, wenn ich etwas wüsste, würde ich Ihnen nichts über die Einzelheiten erzählen«, erwiderte Biggi trotzig, die in diesem Moment wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Der Mann ihr gegenüber zündete sich daraufhin eine Zigarette an, zog einmal daran und mit einer schnellen Bewegung, die Birgit Schneider nicht mal im Ansatz erahnt hatte, packte er ihr Handgelenk der rechten Hand. Was dann folgte, war ein Schmerz, wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte.

Sündenrächer

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