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Kapitel 2

Montag, 18. September 2017

Der Anruf ging am Montagmorgen gegen sieben Uhr in der Früh in der Zentrale der Aachener Polizei ein. Der Anrufer berichtete von einer grauenvoll entstellten Leiche, die er entdeckt habe. Der Polizist in der Leitstelle, der das Gespräch entgegengenommen hatte, wählte umgehend die Handynummer von Karl Hansen, dem Leiter der Mordkommission. Hansen, der gerade aufgestanden war, notierte sich die Adresse und informierte anschließend seinen Kollegen Stefan Riedmann sowie die Spurensicherung. Nachdem er sich gewaschen und angezogen hatte, machte er sich sofort auf den Weg. Vor dem Haus in der Rosenstraße in Aachens Norden standen schon mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei. Unter anderem entdeckte Hansen den Wagen der neuen Leiterin der KTU, Laura Decker. Sie hatte die Nachfolge seines ehemaligen Kollegen Paul Mertens angetreten, der einige Monate zuvor als Mörder in einer der spektakulärsten Ermittlungen in Aachen entlarvt wurde. Hansen war die Erinnerung daran immer noch unbehaglich. Er hatte Mertens seit vielen Jahren gekannt und am Ende selbst die Verhaftung durchgeführt. Gut einen Monat danach war die Stelle neu besetzt worden. Dass die Wahl auf Laura Decker fiel, war kein Zufall. Kriminalrat Hellhausen war ein Freund ihres Vaters. Dementsprechend skeptisch war Hansen von vornherein, was die Personalie betraf. Allerdings wusste sie diese Zweifel schnell durch ihre Kompetenz und ihr einnehmendes Wesen zu zerstreuen. Decker war mittelgroß, hatte eine sportliche Figur und war zumeist leger gekleidet. Ihre langen, braunen Haare waren fast immer zu einem Zopf zusammengebunden. Mit ihren fünfunddreißig Jahren sah sie nicht nur blendend aus, sondern schien Mertens in Sachen Kompetenz kaum nachzustehen, wie Hansen zugeben musste. Außerdem war sie durch und durch ein Öcher Mädchen, was sie nach ihren vier Jahren als stellvertretende Leiterin der KTU im Kölner Exil wieder zeigen konnte, in dem sie die Kollegen mit ihrem Öcher Platt immer wieder in den Wahnsinn trieb. Hansen war gerade im Begriff, durch die offene Haustür einzutreten, als ihm Decker entgegenkam.

»Morgen, Karl. Schon wieder zurück aus Hamburg? Wie war es denn?«, begrüßte sie den Hauptkommissar freundlich und zündete sich eine Zigarette an.

»Moin, Laura. Es tat gut, mal wieder norddeutsche Hafenluft zu schnuppern. Und Vater wiederzusehen war natürlich auch schön. Er hat Christine und mir zwar die üblichen Vorhaltungen gemacht, dass wir ihn nur zum Geburtstag und an Weihnachten besuchen. Aber daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Und wie jedes Mal gab es bei unserer Abreise die altbekannten Diskussionen mit Hansen Senior. Er kann einfach nicht nachvollziehen, dass es mich immer wieder nach Aachen treibt. Seit Mutters Tod und seiner Rückkehr nach Hamburg hat er jeglichen Bezug zu unserer schönen Stadt verloren. Ich bin halt kein Fischkopf wie er. Aber lassen wir das. Erzähle mir lieber, was mich im Haus erwartet.«

»Eins kann ich dir auf jeden Fall schon einmal verraten. Es ist kein schöner Anblick. Man kann seinen Morgen auch angenehmer beginnen«, stellte Decker nüchtern fest.

»Was genau ist denn überhaupt passiert? Ich weiß bisher nur, dass ein Wachmann seinen Kollegen tot in dessen Haus aufgefunden hat.«

»Richtig. Der Tote heißt Herbert Neumann, neunundfünfzig Jahre alt. Er lebte alleine in diesem Haus, seit seine Frau vor zwölf Monaten gestorben ist. Er arbeitete als Wachmann bei der Wach- und Schließgesellschaft Aachen, kurz WUSA genannt. Der Kollege, der ihn gefunden hat, heißt Kai Paulus. Er wollte Neumann heute Morgen zur Arbeit abholen. Der hat aber nicht geöffnet und ist auch nicht ans Telefon gegangen, was laut Aussage von Paulus sehr ungewöhnlich war. Also ist er hintenrum durch den Garten und hat festgestellt, dass die Terrassentür nicht abgeschlossen war. Er ist dann hineingegangen und hat Neumann gefunden. Ich will gar nicht wissen, wie viele Spuren er dabei zerstört hat«, seufzte die junge Kollegin. »Er wartet übrigens drinnen auf dich!«

»Ich spreche mit ihm, wenn Stefan da ist. Ich frage mich ohnehin, wo er bleibt? Er hat doch einen viel kürzeren Weg als ich. Wie ist Herbert Neumann gestorben?«

»Doktor Bode meinte, dass er zu Tode gewürgt wurde. Wahrscheinlich mit einem Strick. Es gab aber eindeutige Hinweise wie petechiale Blutungen und einer leichten Zyanose des Gesichts«, sagte Laura Decker und hielt kurz inne. »Das ist leider längst nicht alles.«

»Was meinst du damit?«

»Das Opfer wurde an einen Stuhl gefesselt und vor seinem Tod brutal gefoltert. Ich habe schon lange keinen derart geschändeten Leichnam mehr gesehen.«

»Das Opfer wurde vor dessen Tod gefoltert, sagst du?«, wiederholte Hansen ungläubig.

»Ich sagte ja, dass das da drinnen kein schöner Anblick ist. Aber Doktor Bode kann dir sicherlich mehr zu den Einzelheiten sagen«, erklärte die KTU-Chefin.

»Der ist noch da?«

Laura Decker nickte. »Er hat auf dich gewartet. Da kommt übrigens gerade der Kollege Riedmann angefahren. Dann könnt ihr euch direkt selbst ein Bild von der Schweinerei machen. Ich habe nämlich noch einiges zu tun«, meinte Decker, drückte ihre Zigarette mit der Sohle ihres Schuhs aus und kehrte wieder zurück in das Haus. Hansen ging währenddessen auf das Auto seines Kollegen zu, der gerade im Begriff war auszusteigen.

»Morgen«, sagte Riedmann mürrisch, als er seinen Chef erblickte.

»Schlechte Laune?«

»Nein, schlecht geschlafen. Ist gestern spät geworden.«

»Dann wird das hier nicht gerade deine Laune steigern«, bemerkte Hansen ironisch.

»Was ist denn passiert?«

»Ich habe es selbst noch nicht gesehen. Ich wollte mir das Vergnügen aufsparen, bis du hier bist. Aber Laura hat mich gerade kurz aufgeklärt, dass der Hausbewohner zunächst misshandelt und dann allem Anschein nach erdrosselt wurde. Sein Kollege, ein gewisser Kai Paulus, hat ihn heute Morgen gefunden«, fasste Hansen kurz und knapp zusammen.

»Erst gefoltert und dann erwürgt. Hört sich nach etwas Persönlichem an, wenn da so viel Wut im Spiel war«, meinte Riedmann und runzelte die Stirn.

»Genau deshalb sollten wir keine weitere Zeit vergeuden und reingehen. Ich möchte mir gerne selbst ein Bild von der Sache machen und mit Doktor Bode sprechen«, meinte Hansen, als sie auf den Eingang zusteuerten.

Beim Betreten des Hauses registrierte er als erstes die Alarmanlage im Flur. Ein Kollege der Streifenpolizei wies ihnen den Weg in das Wohnzimmer. Hansen betrat den Raum und verharrte einen Moment im Eingangsbereich, um sich einen ersten Eindruck vom Tatort zu verschaffen.

»Du hast mit deiner Beschreibung nicht untertrieben Laura«, entfuhr es Hansen beim Anblick der Leiche. »Das sieht wirklich übel aus!«

»Das sieht nicht nur übel aus, Herr Kommissar. Das war auch ganz bestimmt mehr als schmerzhaft für das Opfer«, antwortete Nils Bode, der gerade dabei war, seine Instrumente einzupacken. Der trotz seiner achtundvierzig Jahre mit einem jungenhaften Aussehen ausgestattete Gerichtsmediziner war wie immer adrett gekleidet, wie Hansen feststellte. Den Schutzanzug hatte der Mediziner bereits abgelegt. Offenbar war er mit seiner vorläufigen Untersuchung des Leichnams fertig. Bode galt als akribischer Arbeiter mit wachem Verstand. Gleichzeitig war er im Institut als Feingeist bekannt, der schon einmal zur Ungeduld neigte, wenn man seinen mit Fachwörtern ausgeschmückten Ausführungen nicht folgen konnte.

»Können Sie uns schon Einzelheiten geben?«, wollte Hansen von dem Doktor wissen.

»Nun ja. Wie Sie unschwer sehen können, wurde das Opfer bestialisch gefoltert. Neumann hat diverse Hämatome am ganzen Körper, vermutlich durch Faustschläge beigebracht. Das Nasenbein ist gebrochen. Offensichtlich sogar mehrfach. Dem Mann wurden beide Handgelenke und die Kniescheiben mit einem schweren Gegenstand zertrümmert. Mutmaßlich mit einem Hammer. Außerdem wurde er gebrandmarkt. Der Größe der Wunden nach offenbar mit einer Zigarette oder einem Zigarillo. Ich habe an die fünfundzwanzig solcher kleinen Brandwunden entdeckt. Darüber hinaus wurden die Füße des Opfers, wie ich vermute, schwer verbrüht, wenn nicht sogar gekocht.«

»Moment«, unterbrach Hansen Bodes Ausführungen. »Sagten Sie gerade wirklich, dass seine Füße gekocht wurden?«

»Ja, so sieht es jedenfalls aus. Ich habe zwar zunächst gedacht, dass das Opfer von seinem Mörder bei einem Fußbad überrascht wurde, als ich die Fußwanne gesehen habe. Aber dann habe ich mir das einmal ganz in Ruhe angesehen. Bei dem schweren Grad der Verbrühung beider Füße vermute ich, dass dies ein Teil der Folter war. Er muss furchtbar gelitten haben vor seinem Tod«, fasste der Doktor seine ersten Eindrücke zusammen.

»Wer zum Teufel tut so etwas?«, fragte Riedmann völlig konsterniert.

»Jemand, der einen tiefen persönlichen Hass auf das Opfer hatte. Oder ein Mensch, der Spaß am sadistischen Töten hat«, kam Hansen dem Doktor mit einer Antwort zuvor.

»Oder beides«, bestätigte Bode mit einem Nicken.

»Können Sie uns schon etwas über den möglichen Todeszeitpunkt sagen?«, wollte Hansen wissen.

»Nicht länger als achtundvierzig Stunden. Genaueres dann nach der Obduktion.«

»Also am Samstag«, stellte Hansen fest.

»Richtig. Deshalb wurde er wohl auch nicht früher gefunden. Sein Kollege berichtete uns, dass Neumann am Wochenende frei hatte«, meinte Decker aus dem Hintergrund. »Und dass er ziemlich zurückgezogen lebte«, schob sie hinterher.

»Dann sollten wir uns jetzt einmal mit diesem Kollegen unterhalten, Stefan. Und sobald der Obduktionsbericht vorliegt, geben Sie uns bitte Bescheid, Herr Doktor«, meinte Hansen an Bode gewandt.

»Und das wie immer am liebsten gestern«, entgegnete dieser mit einem Lächeln, dann klappte er den Koffer zu, in dem die Gerätschaften für die Untersuchung der Leiche untergebracht waren.

»Wo finden wir eigentlich den Zeugen?«, wollte Riedmann von Hansen wissen.

»In der Küche«, rief Laura Decker, die seine Frage zufällig mitbekam, aus dem Hintergrund.

»Danke«, antwortete Hansen und ging schnurstracks auf eine Tür zu, hinter der er die Küche vermutete.

»Moment, Karl«, rief Decker ihnen hinterher. »Ich habe euch noch gar nicht erzählt, was wir bei der Leiche gefunden haben.«

»Nämlich was?«, fragte Riedmann neugierig.

»Diese Polizeimarke hier«, erwiderte sie und hielt ihnen das Beweisstück, das in einem Plastikbeutel verstaut war, unter die Nase.

»Das ist ja interessant«, stellte Hansen fest.

»Das ist eine Polizeimarke aus der DDR. Sie lag im Schoß des Opfers. Wohl vom Täter hinterlassen. Neumann wird sie sich eher nicht selbst auf die Beine gelegt haben. Auf der Rückseite steht sogar der Name des Opfers und das Dezernat, für das er anscheinend gearbeitet hat. Vielleicht kann uns der Zeuge ja etwas darüber erzählen.

»Danke, Laura!«, meinte Hansen und setzte sich in Bewegung.

»Stets zu euren Diensten«, erwiderte Decker mit einem Knicks und wendete sich wieder ihrer Arbeit zu.

Sündenrächer

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