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ОглавлениеKapitel 1
Samstag, 16. September 2017
Herbert Neumann freute sich schon seit Tagen auf seinen freien Samstag. Den Ersten seit drei Wochen. Er arbeitete als Wachmann bei der WUSA, der Wach- und Schließgesellschaft Aachen. Er bevorzugte die Nachtschichten oder die Wochenenddienste, weil er dadurch mehr Geld verdienen konnte. Da seine Frau Sonja vor gut einem Jahr gestorben war und er seitdem alleine lebte, machte ihm das auch nicht viel aus. So konnte er immerhin den einen oder anderen Euro zurücklegen. Von dem Ersparten, der Rente seiner verstorbenen Frau sowie der eigenen Pension konnte er sich in ein paar Jahren sicherlich einen angenehmen Lebensabend gönnen. Den heutigen freien Tag hatte er bisher in vollen Zügen genossen. Er war früh aufgestanden, hatte seine Wocheneinkäufe erledigt und den Rasen gemäht. Nach dem Mittagessen war er dann in den Aachener Stadtwald gefahren, um einen langen, ausgedehnten Spaziergang zu machen. So wie er es bis zu ihrem Tod auch gerne mit Sonja getan hatte. Jetzt, am frühen Abend, freute er sich auf die Sportschau. Bis zum Beginn der Sendung hatte er noch knapp zehn Minuten Zeit. Die nutzte er, um sich schnell ein paar Butterbrote zu schmieren. Er hatte es sich in seinem Fernsehsessel gemütlich gemacht und eine Flasche Bier geöffnet, als die Sendung begann. Er wollte gerade in sein mit Salami belegtes Brot beißen, da glaubte er, ein Geräusch zu hören. Er hielt kurz inne, schaltete den Ton am Fernseher mit der Fernbedienung leiser und lauschte. Aber da war nichts. Offensichtlich hatte er sich geirrt. Neumann machte den Ton an seinem TV-Gerät wieder lauter und widmete sich aufs Neue der Sportsendung. In der ersten Werbepause brachte er das schmutzige Geschirr in die Küche. Im Flur stutzte er kurz. Er hätte schwören können, dass er die Küchentür vorhin geschlossen hatte. Aber vielleicht hatte er sich auch nur geirrt. Er wurde langsam vergesslich, wie er sich eingestehen musste. Als er die Küche betrat, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Dann spürte er auch schon einen heftigen Schlag auf seinem Hinterkopf. Jäh wurde es dunkel um ihn herum.
Langsam kämpfte sich sein Bewusstsein wieder an die Oberfläche. Nur schemenhaft nahm er durch die flatternden Augenlider wahr, wo er sich befand. Er saß mitten in seinem Wohnzimmer. Sein Schädel schmerzte fürchterlich. Diverse Fragen schossen ihm durch den Kopf. Wie lange war er bewusstlos gewesen? Und was war überhaupt passiert? War er von einem Einbrecher niedergeschlagen worden? Erst jetzt bemerkte er, dass er an einen Stuhl gefesselt war. Mit Kabelbindern. Er spannte die Muskeln an und versuchte, an den Fesseln zu rütteln. Vergeblich, er war absolut bewegungsunfähig. Sein Mund war mit Klebeband zugeklebt. Und sein Oberkörper war nackt. Die Rollläden waren heruntergelassen. Nur die Leselampe neben der Couch spendete spärliches Licht. Und er war nicht allein. In seinem Fernsehsessel, etwa zwei Meter von ihm entfernt, saß ein Mann. Nicht älter als dreißig Jahre, schätzte er. Übergewichtig und irgendwie unscheinbar. Er hatte ihn noch nie gesehen. Der Fremde saß einfach nur da und beobachtete ihn. Nach schier endlosen Sekunden stand er langsam auf und kam einen Schritt auf ihn zu. Ihm fiel auf, dass der Eindringling nicht maskiert war. Auch wenn er den Mann nicht kannte, er würde ihn beschreiben und der Polizei genaue Angaben machen können. Kein gutes Zeichen. Neumann geriet allmählich in Panik. Er war kein reicher Mann. Das wenige Geld, das er angespart hatte, konnte den Unbekannten wohl kaum ernsthaft interessieren. Eine beängstigende Stille lag in dem Raum. Was immer der Eindringling von ihm wollte, er sagte kein Wort. Er stand einfach nur da und starrte ihn an. Es war offensichtlich, dass er seine Angst genoss. Dann nestelte der Mann plötzlich an seiner Hosentasche, holte ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug hervor und zündete sich eine Kippe an. Genüsslich zog er zweimal daran. Die Zigarettenpackung verschwand wieder in seiner Hosentasche. Das Zippo hielt er weiterhin in der Hand. Dann machte der Einbrecher einen Schritt auf ihn zu, beugte sich zu ihm herunter und blies ihm den Zigarettenrauch mitten ins Gesicht. Dabei lächelte er ihn an. Ein eiskalter Schauer lief Neumann über den Rücken. Noch einmal zog der Unbekannte genüsslich an seiner Zigarette und ohne Vorwarnung drückte er dann die glühende Zigarettenkippe ganz langsam auf dem Handrücken der rechten Hand aus, die an die Stuhllehne gebunden war. Ein wahnsinnig stechender Schmerz durchfuhr Neumann. Das Klebeband auf seinem Mund verhinderte, dass sein kehliger Schrei außerhalb des Wohnzimmers zu vernehmen war. Erst langsam klang der Schmerz ab und ging über in ein dumpfes, brennendes Gefühl. Aber viel Zeit zum Verschnaufen blieb ihm nicht, denn der Unbekannte hatte die Zigarette schon wieder angezündet und setzte erneut an, sie auf seiner Haut auszudrücken. Diesmal war es der Handrücken der linken Hand. Dieser Vorgang wiederholte sich mehrere Male, nun auch auf dem entblößten Oberkörper. Sobald eine Kippe abgebrannt war, zündete er schon die nächste an. Die Schmerzen, die Herbert Neumann auszuhalten hatte, waren unerträglich. Aber sein Peiniger kannte keine Gnade. Erst nach der vierten Zigarette hatte diese Tortur ein Ende. Noch ehe er gänzlich das Bewusstsein verlor, traf ihn ein harter Schlag mitten ins Gesicht. Die Nase brach mit einem lauten Knacken, Blut lief heraus und tropfte auf seinen nackten, geschundenen Oberkörper.
»Es wird nicht geschlafen, Neumann. Du sollst schließlich genießen können, was hier mit dir passiert«, verhöhnte ihn der Mann auf einmal.
Er versuchte zu antworten, aber wegen des zugeklebten Mundes kamen nur undefinierbare Laute über seine Lippen.
»Wirst du um Hilfe schreien, wenn ich das Klebeband entferne?« Herbert Neumann schüttelte den Kopf. »Also gut. Ich reiß es jetzt ab. Aber ich warne dich. Ein Mucks von dir und es knallt.«
Keine Sekunde später riss der Unbekannte ihm das Panzerband mit einer fließenden Bewegung vom Mund. Neumann schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land. Schreien war ohnehin sinnlos, hier hörte sie niemand.
»Ich gebe Ihnen mein ganzes Geld, aber bitte hören Sie mit dieser Quälerei auf«, war das Erste, was Neumann flehend von sich gab.
Der Mann verfiel sogleich in ein langes, herzhaftes Lachen. »Du glaubst also ernsthaft, dass ich das hier wegen Kohle mache?«
Genau solch eine Antwort hatte Neumann befürchtet. Das, was hier mit ihm geschah, war geplant und nicht einfach nur spontane Willkür. Wie sollte er nur aus dieser Situation wieder herauskommen? Er setzte alles auf die Fortsetzung des Gesprächs. »Was wollen Sie dann?«
»Genugtuung.«
»Genugtuung wofür?« Neumann starrte ihn irritiert an.
»Für das Unrecht, das du mir und anderen Menschen vor langer Zeit angetan hast.«
»Ich kenne Sie doch nicht einmal. Das muss eine Verwechslung sein!«
»Oh nein. Ganz sicherlich nicht. Aber um deine Erinnerung aufzufrischen, habe ich hier etwas für dich.« Der Mann nestelte kurz an seiner Jackentasche. Dann warf er einen Gegenstand auf Neumanns Schoß. »Bist du nun immer noch davon überzeugt, dass wir uns nicht kennen?«
Er erkannte sofort, worum es sich handelte. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie der Unbekannte in Besitz der Marke gelangt war. Sie lag doch seit Jahren unberührt in einer Schublade seines Schreibtisches im Arbeitszimmer! »Ich verstehe immer noch nicht, was das mit Ihnen zu tun haben soll? Das ist ein Relikt aus einer anderen Zeit.«
»Da hast du nicht ganz unrecht. Aber ich bin nicht hier, um zu plaudern. Schließlich habe ich heute Abend noch einiges mit dir vor.« Bevor Neumann antworten konnte, hatte der Mann ihm schon wieder den Mund zugeklebt. »Ich möchte nicht, dass du gleich die Nachbarschaft zusammenschreist«, bemerkte der Eindringling zynisch.
Dann holte er einen Hammer aus einer Sporttasche heraus, die zu seinen Füßen auf dem Boden stand. Nur einen kurzen Augenblick später sah Neumann mit aufgerissenen Augen, wie der Unbekannte mit dem Hammer zum Schlag ausholte und er spürte, wie die Kniescheibe seines rechten Beins brach. Beinahe wäre er vor Schmerz in Ohnmacht gefallen. Aber sein Peiniger hatte vorgesorgt. Ehe er kollabierte, hielt der Mann ihm ein Fläschchen Riechsalz unter die Nase. Statt in die Tiefen der Bewusstlosigkeit abzutauchen, war er wieder hellwach und musste zusehen, wie sich sein rechtes Hosenbein dunkelrot färbte. Dann wurde ihm die Kniescheibe des linken Beins zertrümmert. Anschließend das rechte und linke Handgelenk. Eine Schmerztsunami jagte den nächsten. Immer, wenn er drohte, bewusstlos zu werden, holte ihn der Unbekannte ins Hier und Jetzt zurück. Selbst wenn der Fremde ihn am Leben lassen würde, wovon er nicht ausging, würde er seinen Lebensabend wohl als Krüppel im Rollstuhl verbringen müssen, dachte er. Er wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, was ihm lieber gewesen wäre. Wenn er doch nur gewusst hätte, warum man ihm all das hier antat? Aber was auch immer der Grund des Überfalls war, das hatte niemand verdient! Und er ganz bestimmt nicht!
»Na, tut´s weh?«
Der Mann sah ihn höhnisch an. Neumann reagierte nicht, stöhnte nur vor Schmerz. Sein Kinn war auf seine nackte Brust gesunken. Plötzlich riss ihm sein Peiniger erneut das Klebeband vom Mund und schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.
»Ich habe dich was gefragt!« Seine Stimme war jetzt voller Hass.
Aber mehr als ein leise gehauchtes »Ja, es tut schrecklich weh«, brachte Neumann nicht hervor.
»Das sollte es auch! Du sollst spüren, was es heißt, zu leiden!« An der Art, wie der Mann das sagte, erkannte Neumann, dass sein Martyrium noch lange nicht zu Ende war. »Und das Beste ist, wenn man glaubt, dass es gar nicht mehr schlimmer werden kann, hat man sich meistens getäuscht«, fügte sein Peiniger hinzu, so als ob er seine Gedanken lesen konnte. »Hast du vielleicht noch irgendetwas zu sagen, bevor wir weitermachen?«
Neumann nahm seine ganze Kraft zusammen, um zu antworten. »Ich will eigentlich nur wissen, warum Sie mir das alles hier antun?«, brachte er mühselig heraus.
»Darauf musst du schon alleine kommen. Aber ich werde dir einen Hinweis geben.« Dann holte der Mann ein Foto aus seiner Sporttasche und hielt es ihm direkt vor die Nase. »Und, erinnerst du dich?«
Schwerfällig betrachtete Herbert Neumann das Foto, das der Mann in seinen Händen hielt. Es dauerte einen Moment, aber dann erkannte er die Person auf dem Bild. Die Vergangenheit hatte ihn ganz offensichtlich eingeholt. Trotzdem begriff er den Zusammenhang noch nicht. Wieder sammelte er seine Kraft, um eine Frage zu stellen. »Wer sind Sie, und was haben Sie mit der Sache von damals zu tun?«
»Sagen wir jemand, der ein Interesse daran hat, dass das Unrecht nicht ungesühnt bleiben darf. Mehr musst du nicht wissen!«
Neumann hatte einen leisen Verdacht, wovon der Mann sprach, hätte aber gerne noch mehr erfahren, doch bevor er etwas sagen konnte, wurde ihm schon wieder der Mund zugeklebt. Dann verließ der Mann das Wohnzimmer.
Kurze Zeit später kam er zurück. Er trug einen Gegenstand. Bei genauerer Betrachtung erkannte Neumann die kleine Wanne aus seiner Küche, in der er immer seine Fußbäder nach anstrengenden Schichten machte. Der Unbekannte stellte sie vor ihm auf dem Boden ab. Der Bottich war zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Er wusste zwar nicht, was der Mann als Nächstes vorhatte. Aber er hatte Todesangst. Vor lauter Panik entleerte sich seine Blase, woraufhin ihn ein harter Schlag in die Magengegend traf. Er keuchte und hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen. Er kämpfte dagegen an, nicht das erste Mal, seit sein Martyrium begonnen hatte. Der Mann kniete sich vor seinem Stuhl nieder und zog ihm die Hausschuhe aus. Dann die Socken. So sehr sich Neumann auch mühte, er konnte sich nicht dagegen wehren. Zu fest saßen die Fesseln. Und zu geschwächt war er mittlerweile. Der Unbekannte löste die Fußfesseln und stellte Neumanns nackten Füße in die mit Wasser gefüllte Fußwanne. Es war eiskalt. Dann band der Peiniger seine Wadenbeine mit Kabelbindern so an die Stuhlbeine, dass es ihm unmöglich war, seine Füße aus der kleinen Schüssel zu heben. Der Unbekannte stand wieder auf und holte ein Elektrogerät aus seiner Sporttasche, das er ihm direkt vors Gesicht hielt. Es handelte sich einen großen Tauchsieder, 2000 Watt stark stand auf dem Haltegriff. Neumann musste mehrmals hintereinander schlucken, Tränen rannen ihm über die Wangen. Dann holte der Unbekannte ein Verlängerungskabel aus der Tasche, steckte es in eine freie Steckdose, schloss den Tauchsieder an und legte diesen in die Wanne. Dann setzte er sich wieder hin und wartete.
Neumann wusste, was das bedeutete. Seine Füße würden in dem stetig heißer werdenden Wasser verbrühen. Ihm war diese Vorgehensweise durchaus vertraut. Auch er hatte diese Methode in seinem früheren Leben schon einmal angewandt, um einer Person Informationen zu entlocken, die sie auf keinen Fall preisgeben wollte. Er wunderte sich nur, woher sein Peiniger davon wusste. Er versuchte, seine Füße aus dem Wasser zu heben, doch vergeblich. Während die Flüssigkeit immer heißer und heißer wurde, saß der Unbekannte einfach nur da und betrachtete sein Opfer lächelnd. Mehr als eine Viertelstunde lang. Er genoss Neumanns aufsteigende Panik in vollen Zügen.
»Keine Angst, mein Lieber«, sagte der Fremde plötzlich. »Das Schlimmste hast du jetzt schon hinter dir. Was dich nun erwartet, geht schnell.«
Das waren die letzten Worte, die Herbert Neumann in seinem neunundfünfzigjährigen Leben zu hören bekam. Der Unbekannte holte einen Strick aus seiner Sporttasche und stellte sich hinter ihn. Er legte das Seil um den Hals des gefesselten Mannes, dem immer wieder der Kopf nach vorne sank. Dann zog er die Schlinge mit aller Kraft zu. Der Todeskampf dauerte etwa drei Minuten. Neumann rüttelte zunächst noch vergeblich an den Kabelbindern, dann wurde er ohnmächtig. Nach weiteren sechzig Sekunden war der Wachmann tot. Der Fremde packte den Strick, den Tauchsieder und das Verlängerungskabel wieder in seine Sporttasche. Nach einem letzten verächtlichen Blick auf sein Opfer verließ er das Haus auf dem gleichen Weg, wie er es betreten hatte. Falls ihn jemand beobachtete, würde der- oder diejenige der Polizei einen übergewichtigen Mann beschreiben. Er hatte ein paar spezielle Körperpolster angelegt und auch sein Gesicht mit Silikonpolstern und ein wenig Theaterschminke verändert. Auf dem Weg zu seinem Auto, das er in der Nähe abgestellt hatte, kamen ihm unvermittelt ein paar Tränen. Es waren Tränen der Erleichterung, aber auch der Verzweiflung. Immerhin hatte er noch nie zuvor einen Menschen gefoltert und getötet!