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»Gewinnen ist eine Angewohnheit«

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Dieser Spruch stammt von Vince Lombardi.1 Er verweist mit knappen Worten auf den Kern der Sache. Gewinnen muss man wollen. Es spielt dabei keine Rolle, ob man einen Kampf am Ende tatsächlich gewinnt oder nicht. Wenn man aber die Möglichkeit eines solchen in Betracht zieht, sollte man auch gewinnen wollen. Ohne diesen unbedingten Willen ist es nicht ratsam, sich auf Gewalt einzulassen. Doch auch wenn Sie bereit sind, sich darauf einzulassen, sollten Sie sich der Gefahren bewusst sein. Es ist immer möglich, dass Sie während eines Kampfes verletzt oder getötet werden. Und auch nach einem erfolgreich bestandenen Kampf drohen unter Umständen große Gefahren: Sie könnten das Opfer eines Racheakts werden, oder Sie werden zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil Sie aus Sicht des Richters unverhältnismäßig auf eine Bedrohung reagiert haben.

Hinzu kommt der Aspekt des Gewissen. Falls Sie gezwungen waren, den Gegner zu töten – selbst wenn das Recht dabei auf Ihrer Seite war –, bleibt abzuwarten, ob Sie damit umzugehen verstehen. Der beste Weg ist und bleibt der, sich, soweit es geht, von körperlicher Gewalt fernzuhalten, obwohl wir fairerweise zugeben müssen, dass man diese Gewalt oft nur verstehen lernt, wenn man sich mit ihr direkt befasst, d. h., wenn man Auseinandersetzungen nicht immer aus dem Weg geht. Doch Gewalt erzeugt grundsätzlich Gegengewalt. Rache und Vergeltung sind starke Motivationen. Und die Situation kann derart eskalieren, dass Sie als Einzelner keinen ausreichend Schutz vor der Gewalt mehr finden können.

Früher, vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, war es oft so, dass Straßenschläger sich nach einem Kampf die Hände reichten. Man sah das Ganze in einem sportlichen Sinne. Von roher Gewalt hatten die Menschen damals mehr als genug. Doch wir sind vergesslich. Bereits in den 60ern nahm man es mit der Fairness nicht mehr so genau. In den letzten Jahren hat die Gewaltbereitschaft potentieller Gewalttäter ein Maß erreicht, das kaum noch steigerbar zu sein scheint.2

Geht es um Gewalt und Gegengewalt, zählt nur noch das Recht des Stärkeren beziehungsweise des Gewalttätigeren. Um sich einen Vorteil zu schaffen, muss man in vielen Fällen einfach zuerst zuschlagen, nachsetzen und alles an Zerstörungskraft auf den Gegner niederprasseln lassen, was in den eigenen Kräften steht, vor allem, wenn man es mit einem offenkundig kampferprobten Gegner zu tun hat. Das bedeutet auch, dass wir im Falle eines Angriffs geistig sofort auf Kampf umschalten.

Im Vorfeld eines Kampfes ist jeder Trick, jede List zulässig. Seien Sie freundlich, verlegen, ängstlich, schüchtern, wenn es Ihrem Ziel, den Konflikt zu gewinnen, dienlich ist. Führen Sie den Gegner mit falschen Emotionen hinters Licht. Die meisten Schläger verwechseln Freundlichkeit mit Schwäche. Dann, wenn es die Situation erfordert, schalten Sie um. Werden Sie rücksichtslos und brutal. Gute Türsteher und erfolgreiche Schläger kennen sich mit den menschlichen Emotionen besser aus als mancher Psychologe. Die alten Chinesen prägten für diese Herangehensweise einen klugen Spruch: »Verstecke das Messer hinter einem Lächeln.« Diese Art des hinterlistigen Kampfes ist tatsächlich uralt. Je rücksichtsloser und hinterlistiger Sie vorzugehen bereit bist, desto freundlicher und bescheidener können und sollten Sie auftreten. Wer häufig mit Gewalt konfrontiert wird, dem gelingt es oftmals nur schwer, die Maske der Freundlichkeit aufzusetzen. Aber eine herausfordernde Haltung bringt einem letztendlich nur umso mehr Herausforderungen ein. Viele Meister der Kampfkünste befanden sich in diesem Dilemma. Sie bauten sich einen Ruf auf, um potentielle Angreifer abzuschrecken und mussten dann oft gerade deswegen kämpfen.

Umgekehrt bedeutet dies auch, sich stets ein gesundes Misstrauen zu bewahren, wenn jemand sich ohne erkennbaren Grund Ihnen gegenüber freundlich und zuvorkommend verhält. Naivität kann in solch einer Situation sehr gefährlich sein. Es kann geschehen, dass auf diese Weise nur Ihre Aufmerksamkeit abgelenkt werden soll, und im nächsten Augenblick sind Sie plötzlich das Opfer eines Raubüberfalls. Viele Diebesbanden gehen so vor.

Im Grunde geht es bei all dem um Anpassungsfähigkeit. Halten Sie sich stets alle Möglichkeiten offen, soweit dies machbar ist. Bleiben Sie so flexibel, wie es geht.

Für Gewalttäter gibt es keine Regeln und Grenzen. Der Kampf mit ihnen kann demzufolge auch nicht wie im Schulunterricht gelehrt werden. Aus diesem Grund funktionieren so viele Kampfsportarten bei einer Schlägerei auf der Straße nur selten. Deren Techniken sind an das Umfeld der Sporthalle angepasst. Sie haben sich im Laufe der Zeit verändert, wurden entschärft und vielfach sogar ästhetischen Vorstellungen unterworfen. Die ursprünglichen Bewegungen der alten Kampfkünste sind hingegen knapp, ohne Schnörkel und nur auf Wirksamkeit ausgerichtet. In der Tat erkennt man zwischen den Kampfbewegungen eines Schlägers und denen eines traditionell ausgebildeten Kampfkünstlers oft keinen Unterschied. Das hat den Vorteil, dass diese natürlichen Bewegungen »leicht zu merken« sind. Sie werden vom Körper als natürlich empfunden, da sie eben nicht künstlich anerzogen wurden. Während eines Kampfes brauchen Sie daher nicht zu überlegen, ob Ihre Technik »korrekt« ist oder nicht. Sie wird funktionieren, wenn Sie gewillt sind, sich zu schützen.

Selbstschutz ist heute genauso notwendig wie vor tausend Jahren. Angegriffen konnte man damals und kann man heute werden. Aber die Bequemlichkeiten und die scheinbare Sicherheit der modernen Zeit lassen uns dies vergessen. Zwar werden wir mit unzähligen Gewaltberichten in den Medien konfrontiert, aber die meisten von uns haben das Gefühl, dass sie so etwas gar nicht betreffen kann. Wir blenden die Gefahr aus oder verharmlosen sie zumindest. Das ist gefährlich, denn wir bereiten uns nicht mehr energisch genug auf einen möglichen Angriff vor. Der Staat, so gut er auch insgesamt für seine Bürger sorgen mag, ist machtlos bei einem gegen Sie gerichteten Angriff. Die Staatsmacht ist nicht da, wenn wir auf offener Straße, bei Tag oder Nacht, angegriffen, schwer verletzt oder getötet werden. Je besser der Staat zu sein scheint und je demokratischer seine Ausrichtung, desto weniger werden Sie vor Übergriffen durch Gewalttäter sicher sein. In autoritären Regimes wirkt die vom Staat ausgeübte Gewalt, die massive Präsenz von Polizei und Militär der Gewalttätigkeit Krimineller wirksamer entgegen, als dies in Demokratien der Fall ist. Doch der Preis für die höhere Sicherheit ist die Beschränkung der persönlichen Freiheiten.

Verlassen Sie sich nur auf sich selbst, wenn es um Ihre Sicherheit geht. – Gewinnen ist eine Angewohnheit … Es liegt vollkommen bei Ihnen, wie Sie mit einer realen Gefahr von Seiten anderer Menschen umgehen. Das Motto für die Art des Kämpfen, die wir für sinnvoll halten, lautet: »Agiere, wenn du kannst; reagiere, wenn du musst.« Beim ersten Anzeichen einer gegen Sie gerichteten Gefahr müssen Sie der Bedrohung zuvorkommen. Lassen Sie sich niemals das Heft aus der Hand nehmen. Ergreifen Sie vor ihrem Kontrahenten die Initiative, machen Sie seine Vorteile zunichte. Es kann natürlich sein, dass ein erheblicher Unterschied in Ihrer Biographie und der Ihres Angreifers existiert. Sie sind vielleicht von Natur aus friedfertig, und das kriminelle Milieu ist Ihnen völlig fremd. Ihr Gegner hat dagegen vielleicht schon Jahre hinter Gittern verbracht. Damit haben Sie wahrscheinlich einen gut motivierten und umfassend trainierten Kämpfer vor sich. Denn das Gefängnis dient vielen Insassen in dieser Hinsicht als »Schule«. Werden sie entlassen, sind sie oft gefährlicher als vorher. Sie sind häufig voll Hass, haben nur wenige Skrupel, aber dafür haben sie viel Erfahrung darin gesammelt, wie sie friedfertige Leute noch besser terrorisieren können als zuvor. Sollten Sie von einem derartigen Zeitgenossen angegriffen werden und bringen nicht die nötige Entschlossenheit zur Gegenwehr mit, dann haben Sie verloren.

Vergessen Sie, wenn Sie bedroht werden, aber jeglichen Vorsatz in Bezug auf Ihre Techniken. Techniken lassen Sie nachdenken. Vergessen Sie auch alles, was Sie über die Verhältnismäßigkeit der Mittel gehört haben.3 Das würde Sie in die Defensive zwingen. Während eines gegen Sie gerichteten Übergriffs haben Sie keine Zeit, über solche Aspekte nachzudenken. Lassen Sie das Tier in sich los. Oder anders ausgedrückt: Ihre Gegengewalt muss die gegen Sie verübte seelische oder körperliche Gewalt noch überbieten.

In einem Kampf auf Leben und Tod können Sie sich keine Skrupel erlauben.4 Aber woher soll man wissen, ob man sich mit allen Mitteln schützen muss oder ob es sich bloß um eine normale Rauferei handelt? Nun, das herauszufinden ist recht einfach. Entweder Sie üben sich im Kämpfen, und wenn Sie das nicht wollen oder können, dann verlassen Sie sich auf Ihre Instinkte. Meist werden Sie damit richtig liegen. Aber um es noch einmal klar auszudrücken, für einen im Kämpfen mehr oder weniger unerfahrenen Menschen kann sich eine bewusste Situationsanalyse fatal auswirken. Die Sekunden, die Sie benötigen, um sich angemessen zu entscheiden, sind vielleicht die letzten Ihres Lebens. Gehen Sie kein Risiko ein. Das heißt zum Beispiel: Greift man Sie mit einem Faustschlag an, kontern Sie mit einem Handkantenschlag auf die Halsschlagadern Ihres Kontrahenten und zwar mit doppelter Wucht und Aggressivität.5 Wer das für übertrieben hält, dem halten wir entgegen, dass der Angriff mittels Faustschlag meist nur der Auftakt ist und dass manche Schläger, wenn sie erst die Oberhand gewonnen haben, eine geradezu unglaubliche Brutalität entwickeln und selbst reglos am Boden liegende Opfer noch mit Fußtritten traktieren, und dies ohne die geringsten Hemmungen. Wenn man die Gewalt nicht im Ansatz neutralisiert, hat man oft keine Chance mehr dazu. Wer will also entscheiden, was für unser eigenes Leben das Beste ist? Das kann niemand, weder ein Richter, noch ein Staatsanwalt oder ein Polizist. Wir persönlich fänden es sehr vermessen, wenn uns jemand vorschreiben wollte, wie und mit welchen Mitteln wir uns verteidigen dürfen. Wenn wir angegriffen werden, dann haben wir jedes natürliche Recht, unser Leben zu schützen. Kommt unser Kontrahent dabei zu Schaden, ist dies nicht unsere Schuld. Er hätte eben seine Finger von uns lassen müssen.

Wir geben zu, dass es im größten Teil der Welt die meiste Zeit über friedlich zugeht. Auch in unserem Land mit seinen über 80 Millionen Einwohnern gibt es verhältnismäßig wenige »Entgleisungen«. Dieser Zustand ist lobenswert, doch trügerisch. Wir verlernen heute im Großen und Ganzen, uns auf uns selbst zu verlassen, auf unsere Sinne und Instinkte zu vertrauen. Es gab sicher nicht viele Zeitpunkte in der Geschichte, in denen wir Kurse und Seminare besuchen konnten und mussten, in denen wir dieses Auf-uns-selbst-vertrauen von Grund auf erlernen müssen. Jahrtausendelang war das eine reine Selbstverständlichkeit. Soldaten, Krieger und auch Jäger der früheren Tage bekamen leicht ein Gespür für die Situation. Sie erkannten Gefahren, ehe sie sich manifestierten. Wir hingegen bekommen kaum noch etwas von dem mit, was sich um uns herum abspielt. Funakoshi Gichin6 sagte einst: »Unglück geschieht immer aus Unachtsamkeit«. Das können wir unterschreiben.

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