Читать книгу Gewalt - Frank Rudolph - Страница 16
Fürchte nicht den mächtigen, sondern den kleinen Gegner
Оглавление»Man beleidigt lieber den mächtigen Mann, aber man beleidigt nicht den kleinen Mann.« – Dieser Satz stammt von einem der mächtigsten Bosse der heutigen chinesischen schwarzen Gesellschaft (chin. hēishèhuì). Allerdings ist der dahinterstehende Gedanke schon sehr alt in China.1 Auf den ersten Blick scheint diese Aussage nicht zu stimmen. Aber tatsächlich ist sie wahr. Die meisten von uns haben mehr oder weniger Furcht vor mächtigen Menschen. Wir biedern wir uns bei ihnen an und erfüllen ihnen alle Wünsche. Wir erstarren vor ihnen aus Angst und Respekt. Nur warum? Gleichzeitig haben wir die Angewohnheit, auf die Kleinen herabzusehen und sie zu verachten. Nach oben buckeln, nach unten treten, das scheint uns im Blut zu stecken. Dabei sollte eigentlich das Gegenteil der Fall sein: Wer nichts zu verlieren hat, hat oft die besten Karten.2
Ein mächtiger und finanziell gutgestellter Mensch ist ein viel besserer Gegner als der kleine Mann. Denn die Reichen haben in einem Konflikt kaum etwas zu gewinnen, hingegen viel zu verlieren. Sie sind daher in der Regel nicht zu einem kompromisslosen Kampf bereit. Es gibt sicher Ausnahmen, aber die meisten setzen ihren Status und ihre finanzielle Sicherheit nicht in einer Auseinandersetzung mit einem kleinen Mann aufs Spiel. Ein Mächtiger kann in der modernen Gesellschaft einen »Niederen« kaum ohne Folgen zerstören. Wir »einfachen Leute« hingegen können gegen einen mächtigen Gegner fast immer gewinnen, selbst in der Niederlage, wenn diese seinen Ruf nachhaltig schädigt. Der kleine Mann, der weder Status noch irgendwelche Sicherheiten besitzt, wird ganz natürlich nach dem Prinzip der Biene kämpfen. Er hat nichts zu verlieren und wird zum gefährlichsten Gegner, den jemand haben kann. Das bekannteste Beispiel ist wohl Philipp II. von Makedonien (ca. 382 - 336 v. u. Z.), Vater Alexanders des Großen. Er beleidigte einen kleinen Mann und wurde später von diesem umgebracht.
Es ist jedoch klug, generell auf Beleidigungen und Drohungen zu verzichten, denn um es mit den Worten Machiavellis zu sagen: »Weder die Beleidigung noch die Drohung haben irgendeinen positive Nutzen, im Gegenteil, das eine macht den Gegner wütend und rachsüchtig, das andere macht ihn vorsichtig.«
Um die obengenannten Prinzipien und Strategien deutlich werden zu lassen, geben wir hier eine wahre Geschichte wider, die sich im modernen China abgespielt hat.
Der mächtige und gefürchtet chinesische Mafiaboss H. aus der chinesischen Provinz Hubei war früher ein unbedeutender Mann ohne Perspektiven und Kontakte. Mit Mühe und Not schaffte er es, sich zu ernähren. Er war in der Baubranche tätig, wobei seine Arbeit darin bestand, kleine Häuser abzureißen. Der ortsansässige Mafiaboss wollte ihm diese Projekte wieder entreißen.3 Jeder, der schon einmal versucht hat, ohne Beziehungen in China etwas auf die Beine zu stellen, versteht, weshalb der Kleinunternehmer entschlossen war, diese Ungerechtigkeit mit allen Mitteln zu verhindern. Er ließ es also darauf ankommen. Am Abend sagte er dem Mafiaboss, dass er mit seinen Arbeitern sein Territorium mit Waffengewalt verteidigen werde und sie ruhig kommen sollten. Daraufhin verlor der Mafioso die Selbstbeherrschung und schickte mehrere mit Schusswaffen versehene Männer auf den Bau. H. hatte allerdings die Polizei alarmiert, die die bewaffneten Banditen unverzüglich festnahm. Waffenbesitz gilt in China als eines der schwersten Vergehen und wird streng bestraft. Die nachfolgenden Ermittlungen ergaben, dass H. bedroht worden war und er und seine Männer sich lediglich mit ihren Arbeitsgeräten schützen wollten. Der Mafioso musste sich nun verantworten und kam ins Gefängnis, wo er schließlich starb. H. hingegen wurde weder verhaftet noch angeklagt. Im Gegenteil, von nun an hatte er Ruhe und konnte sein Projekt zu Ende bringen. Durch diesen Streich über den mächtigen Mafiaboss wurde er selbst zu einem mächtigen Mann. Aus dem kleinen Mann H. wurde der bis heute mächtigste und reichste Mafiaboss der Gegend. Von ihm stammt auch das obenstehende Zitat.
Weshalb viele der Mächtigen auf Dauer mächtig bleiben, liegt daran, dass diese Menschen oft zu Institutionen geworden sind und ihre persönlichen Sündenböcke besitzen. Das sind Leute, die die Drecksarbeit erledigen, während die Hände der Bosse sauber bleiben. Friedrich Nietzsche beschrieb das sehr passend mit den Worten: »Ein Mensch ist wie ein Baum. Je höher er ins Licht wächst, desto tiefer müssen seine Wurzeln ins böse schwarze Erdreich gehen.« Die Mächtigen müssen ihre Wurzeln zwangsläufig im Dunkeln haben, sonst könnten sie nicht wachsen. Das ist aber auch die Schwachstelle, die immer wieder zum Sturz einst Mächtiger führt.
Ignorieren Sie solche Zusammenhänge nicht, sondern versuchen Sie, sie zu verstehen. Das ist wichtig für Ihren Selbstschutz, denn der Selbstschutz fängt nicht erst beim körperlichen Kampf an, sondern schon lange davor.