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Dominanz

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Bei allen Aspekten des Selbstschutzes gehen wir davon aus, dass wir den Gegner dominieren müssen. Alle Fähigkeiten, die wir haben oder uns aneignen wollen, laufen am Ende darauf hinaus. Dominanz ist ein Begriff, der vieles in sich birgt: Schnelligkeit, Stärke, Können, Gewalt, immer aber in dem Sinne, es in größerem Maße als der Gegner zu besitzen oder in größerem Maße bereit zu sein, diese Fähigkeiten einzusetzen. Wie gut diese Eigenschaften entwickelt sind, ist gegenüber der Bereitschaft, sie einzusetzen, zweitrangig. Wir dürfen physisch schwächer als der Gegner sein, aber nicht von unserer mentalen Verfassung her. So bedeutet Dominanz in diesem Zusammenhang eher die Beherrschung der Situation als die eines einzelnen Menschen. Jeden Gegner werden wir kaum physisch dominieren können. Wohl aber können wir eine Situation zu unserem Vorteil gestalten. Die meisten Kämpfe sind eine Angelegenheit von Sekunden. Sie beginnen plötzlich und sind genauso schnell wieder vorbei.

Bei sportlichen Wettkämpfen ist das etwas anders. Hier muss man nach entsprechenden Regeln agieren, muss sich an sie anpassen. In einem sportlichen Wettkampf kann man versuchen, den Gegner zu dominieren. Aber in einem realen Kampf geht es um die Beherrschung der Situation, um das Vernichten oder das Vernichtetwerden. Hierfür braucht man weniger kampftechnische Finesse als Skrupellosigkeit. Der Wǔshù-Meister Chéng Jiànpíng hat die Angewohnheit, jeden, dem er begegnet, sei es auf der Straße, bei einer höflichen Vorstellung oder bei sonstigem Kennenlernen, zunächst in Gedanken zu vernichten.1 Es geht ihm dabei nicht nur um den Sieg über einen potentiellen Gegner, es geht ihm buchstäblich um dessen Zerstörung. Dabei ist Meister Chéng stets freundlich. Sein Gesicht spiegelt seine Gedanken nicht wider. Je nachdem, wie sich die Situation entwickelt, passt er auch seine innere Geisteshaltung an. Respektiert man ihn und ist freundlich, ist er es ebenfalls. Die Chinesen haben hierfür den folgenden Spruch: »Tut der Mensch mir nichts, tue ich ihm nichts. Tut er mir etwas, tue ich ihm Schlimmeres an.«2

Perikles3 riet einst den Athenern: »Den Feinden soll man kühn entgegentreten, nicht nur mit Selbstvertrauen, sondern mit dem vollen Bewusstsein der Überlegenheit. Selbstwertgefühl kann ja auch ein Feigling haben, wenn er trotz seiner Dummheit Glück hat. Berechtigtes Überlegenheitsgefühl aber ist nur die Folge des Vertrauens auf die Erkenntnis, dass man dem Gegner wirklich überlegen ist … Das Bewusstsein der Überlegenheit aber stärkt und erhöht den Mut. Der Mutige verlässt sich bei einem gleichartigen Geschick nicht auf die Hoffnung, die erst in der Ratlosigkeit ihre Wirkung tut, sondern auf die Einsicht in die wirkliche Lage der Dinge, aufgrund derer man besser in die Zukunft zu schauen vermag als vermöge der Hoffnung

Wenn es darum geht, einen Gegner zu dominieren, sollte man immer damit rechnen, getroffen und verletzt zu werden. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Sich selbst als unzerstörbaren Kämpfer vorzustellen, ist keine gute Vorbereitung auf alle Eventualitäten. Wir müssen unseren Geist konditionieren, indem wir uns einen siegreichen Kampfverlauf immer und immer wieder vorstellen. Betriebsblinde Kämpfer hören hiermit irgendwann auf, unbewusst meist oder weil sie müde geworden sind. Aber diese Imagination ist für denjenigen umso wichtiger, der sich nicht einer gezielten Kampfausbildung widmen kann.

Diese Bereitschaft, herauszufinden, wie man »immer« dominant sein kann, hat einen hohen Preis. Viele Kämpfer zahlen ihn nicht, da sie vor den Konsequenzen erschrecken. Doch wir wollen wieder an das Prinzip der Biene erinnern. Unser Selbstschutz ist zweckgebunden und richtet sich ausschließlich gegen die Bedrohung unserer Person oder unserer Familie. Warum kämpfen wir überhaupt, warum befassen wir uns überhaupt mit dieser Materie, wenn wir nicht alles daran setzen wollen, diesen Kampf zu gewinnen? Wo ziehen wir eine Grenze? Gibt es überhaupt eine solche? Hier stößt man auf Antworten, nach denen zu suchen sich auch harte Kämpfer scheuen. Denn nur wenige gehen davon aus, dass es bei einem Kampf plötzlich um ihren Tod, den ihrer Familie oder auch den ihres Gegners geht. Ab wann wollen wir aber entscheiden, wie weit wir zu gehen bereit sind? Ist das von Fall zu Fall zu bewerten? Oder steht das von Anfang an fest? Viele werden antworten, es komme auf den Preis an, das, worum es bei diesem Kampf geht. Das ist jedoch eine sehr verführerische Ansicht, die uns glauben lässt, alles würde in festen Bahnen verlaufen. Bei einer Kneipenschlägerei geht es um Beulen und Blessuren und vielleicht einige Tausend Euro Schadensersatz. Wer garantiert Ihnen aber, dass der Kampf nicht eskaliert? Bei einem Raubüberfall geht es um unser Geld, um Wertsachen oder um unsere Gesundheit. Aber niemand kann sagen, ob wir als Zeugen nicht auch noch beseitigt werden sollen. Bei einem gegen uns gerichteten ideologisch oder rassistisch motivierten Angriff geht es mindestens um unsere Gesundheit. Wenn es jedoch um etwas so Essentielles geht, dann betrifft es meist auch unser Leben und das unserer Familie. Sind Religionen, Ideologien, hohe materielle Werte oder einfach die Gier im Spiel, kann ein Kampf sehr schnell eskalieren.

Es ist schon sehr erstaunlich, dass wir uns den Luxus erlauben, unser Leben wegen absolut geringfügiger Gründe zu riskieren. Immer wieder kommt es zu Streitigkeiten um Nichtigkeiten, die nicht selten in tödlichen Auseinandersetzungen münden. Die Frage ist, ob es sich wirklich lohnt, sein Leben zu riskieren, wenn es beispielsweise um eine Sportmannschaft geht, über deren Qualität man in Streit gerät. Viele Situationen sind nicht von vornherein bedrohlich, neigen aber dazu, zu eskalieren. Wir könnten jederzeit aufhören oder weggehen. Dennoch tun wir es nicht und verlieren nach und nach die Kontrolle über das Geschehen. Wir steigern uns in Rage und provozieren unser Gegenüber, bis es zum Äußersten kommt. Paradoxerweise verhalten wir uns in einer wirklich gefährlichen Situation, einem Überfall zum Beispiel, entgegengesetzt. Hier sind wir – wenn wir mental nicht darauf vorbereitet sind – plötzlich völlig hilflos und wie gelähmt.

Wir wollen jeden Kämpfer warnen: Auch eine harmlose Keilerei kann sehr persönlich werden. Wie schnell die Stimmung umschlagen kann, beweisen die vielen Opfer solcher Situationen. Jeder Kampf sollte unbedingt so geführt werden, dass der Gegner sowohl unsere Tötungsabsicht verspürt, als auch unsere Bereitschaft, bis zum Tode zu kämpfen. Das heißt, wir sollten die Situation sofort zu unserem Vorteil gestalten.

Das wichtigste, das wir uns immer wieder vor Augen halten müssen, ist die Tatsache, dass es bei all dem um unser Leben geht. Da wir nur ein einziges davon besitzen, werden wir es um keinen Preis »verkaufen«. Trachtet uns jemand nach dem Leben, so müssen wir bereit sein, ihn zu töten, um selbst zu überleben. Dabei müssen wir unter Umständen das Risiko eingehen, danach selbst als Gewaltverbrecher zu gelten, wenn ein Gericht unsere Einschätzung der Situation nicht teilt. Die Alternative wäre, unser Leben aufs Spiel zu setzen, und solch eine Alternative ist inakzeptabel.

Hieraus ergibt sich eine ganz natürliche Kampfbereitschaft, die sehr weit geht. Jeder Mensch ist ein Raubtier. Auch Sie sind eines. Dieses Tier müssen Sie kontrolliert in sich ins Leben rufen. Nähren Sie es, doch halten Sie es an der Kette. Es ist anfangs beunruhigend, wenn man als Folge von Training und mentaler Vorbereitung seine Kräfte spürt und sich wünscht, diese einmal auszutesten. Extreme Gewaltphantasien können die Folge sein.

Gewalt

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