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5.2.2Das Hirn kann alles erklären – auch ohne jedes Wissen
ОглавлениеDass wir die ausgeprägte Tendenz haben, Geschichten zu konstruieren, die sich an einer subjektiven Stimmigkeit und nicht an der Abbildung der äußeren Realität ausrichten, kommt beispielhaft in einem berühmten Experiment zum Ausdruck.
Ende der 60er-Jahre wurde bei Patienten mit einer bestimmten Form von Epilepsie durch operative Eingriffe die Verbindung zwischen den beiden Hemisphären des Gehirns unterbrochen. Aufgrund dieser Operation war es bei den (ansonsten psychisch gesunden) Patienten möglich, die linke oder die rechte Hirnhälfte durch bestimmte Versuchsanordnungen gezielt anzusprechen, weil sie nicht mehr in einem ständigen Austausch miteinander standen.
In der Folge wurden verschiedene Untersuchungen an diesen sogenannten Split-Brain-Patienten durchgeführt. [15; 16; 17]
»Erstaunt nahm man zur Kenntnis, dass jede Hemisphäre über ein gewisses Eigenleben verfügte. Rechte und linke Hirnhälfte unterschieden sich in ihren Wahrnehmungen, Konzepten und Handlungsimpulsen […]. Beide Hemisphären haben unterschiedliche Stärken. So konnten beispielsweise Gegenstände, die in der rechten Gesichtsfeldhälfte gezeigt wurden, benannt werden und durch die rechte Hand aus einer Reihe anderer Gegenstände herausgefunden werden. Worte konnten gelesen oder notiert und mit der rechten Hand der zugehörige Gegenstand identifiziert werden. Rechte Hand und rechte Gesichtsfeldhälfte entsprechen dabei einer Verarbeitung in der linken Hirnhälfte, da die Verbindungswege auf ihrem Weg vom Gehirn zur Peripherie die Seite wechseln.
Gegenstände, die der rechten Hirnhälfte präsentiert wurden, konnten weder mündlich noch schriftlich wiedergegeben werden. Allerdings war es möglich, mit der Hand die entsprechenden Gegenstände herauszufinden, ohne daß sie sprachlich bezeichnet werden konnten. Worte konnten nicht gelesen werden.
Daraus ergaben sich folgende Schlußfolgerungen:
1.›Bezüglich Sprache und Bewußtsein ist die isolierte linke Hemisphäre weder aus der subjektiven Sicht des Patienten noch nach dem objektiv beobachtbaren Verhalten von den Leistungen des Gesamthirns zu unterscheiden. Die linke Hemisphäre kontrolliert beim Rechtshänder das Sprechen und das Schreiben.
2.Die isolierte rechte Hemisphäre kann sich weder schriftlich noch mündlich sprachlich äußern. Ihre integrativen sensomotorischen Prozesse werden dem Patienten nicht bewußt. Sie können nur vermittels der linken Hirnhälfte zum Bewußtsein gelangen. Sie erscheinen passiv der linken Hirnhälfte untergeordnet.
3.Weiterhin haben die Versuche gezeigt, daß nur die linke Hemisphäre rechnerische Operationen ausführen kann, die über das Addieren und Subtrahieren von einstelligen Zahlen hinausgehen. Sie ist zuständig für das Erfassen von Einzelheiten und für analytische Denkaufgaben, die offensichtlich an die sprachliche Kommunikation gebunden sind.‹ [18, S. 167–168]
Dennoch ist die rechte Hemisphäre durchaus zu eigener Erfassung und Wahrnehmung in der Lage. Ein Experiment mit den oben erwähnten sogenannten Split-Brain-Patienten verdeutlicht dies: Wurde der rechten Hemisphäre das Bild eines nackten jungen Mädchens dargeboten, so erklärten die Patienten, daß sie ein weißes Licht gesehen hatten, aber nichts erkannten. Das war eine typische Reaktion für Bilder, die der rechten Hemisphäre angeboten wurden, da sie nicht logisch zusammengesetzt werden konnten. Aber es ließ sich etwas anderes beobachten. Die Patienten lächelten, erröteten, kicherten oder veränderten den Tonfall ihrer Stimme. Befragte man die Patienten, so sagten sie zum Beispiel, daß sie über den Diaprojektor oder das Licht lachten. Die ›sprechende‹, linke Hemisphäre hatte keine Vorstellung, worum es sich handelte. Dennoch hatte die rechte Hirnhemisphäre, die sich nicht sprachlich artikulieren kann, eine deutliche Vorstellung von dem Bild entwickelt.« [15; 19, S. 235–236]