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6.6Das Hamsterrad dreht sich immer und überall
ОглавлениеThomas S. Kuhn, der von Hause aus Physiker war, schrieb 1962 ein Buch über wissenschaftliche Revolutionen, das als eines der wichtigsten Werke der Wissenschaftstheorie gilt. [32] Er unterscheidet Phasen der Normalwissenschaft von wissenschaftlichen Revolutionen. Bei wissenschaftlichen Revolutionen kommt es zu einer Änderung zentraler Paradigmen.
Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die wissenschaftliche Revolution von heute der Normalbetrieb von morgen ist. Dieser Normalbetrieb von morgen schwebt stets in der Gefahr, durch die wissenschaftliche Revolution von übermorgen in der Zukunft nur noch mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen zu werden. Die Phase der Normalwissenschaft ist diejenige, in der Aristoteles und all seine Schüler merkwürdige Lehren über physikalische Sachverhalte verbreiteten, ohne sich der Merkwürdigkeit bewusst zu sein. Es ist die Phase, in der Christoph Kolumbus fest davon überzeugt war, in Indien gelandet zu sein, und vehement die Möglichkeit bestritt, dass er selbst einen neuen Kontinent entdeckt haben könnte.
Die Wissenschaft bewegt sich im Normalbetrieb in einer Art Hamsterrad. Sie kann nicht unterscheiden, was sie mit ihrer aktuellen Weltsicht, den jeweils gut etablierten Werten und Theorien bzw. den vorherrschenden Paradigmen zutreffend identifiziert und erklärt und was sie mit ihren Paradigmen nicht einmal im Ansatz sehen kann und deswegen ignoriert, verdeckt oder verzerrt. Innerhalb des Hamsterrades geht alles logisch auf. Alles wirkt stimmig und rund. Die Kunst wäre es, aus einer hypothetischen Perspektive in der Zukunft einen Blick auf die Gegenwart werfen zu können oder irgendeinen anderen Weg zu finden, der uns in die Lage versetzt, aus einer theoretischen Außenperspektive auf das eigene Hamsterrad zu schauen. Die wenigsten Wissenschaftler wollen das. Denn sie bevorzugen es, sich auf ausgetretenen, vorgegebenen und deswegen sicheren Bahnen zu bewegen. Die wenigsten können das, weil es ein schwieriges Unterfangen ist, sich von den aktuell vorherrschenden Paradigmen so weit zu lösen, dass zumindest teilweise ein davon unabhängiger Blick ermöglicht wird.
Das betrifft aber nicht nur die Wissenschaft. Die Wissenschaft ist nur ein spezieller Anwendungsfall dieser Tendenz, die der menschlichen Natur zutiefst naheliegt. Wir mögen stimmige Geschichten. Wir vermeiden kognitive Dissonanz – mit all den beschriebenen Mechanismen und Konsequenzen des RSG-Modells. Daher kann es nicht erstaunen, wie langlebig die Irrtümer des Normalbetriebs der Wissenschaft sind. Denn sie befinden sich in einem sich immer wieder selbst bestätigenden Zyklus von selektiver Beobachtung und selektiver Erkenntnis auf dem Boden vermeintlich gesicherten Wissens und etablierter Normen und Werte. Solange die Menschen glaubten, die Erde sei eine Scheibe, machten sie jeden Tag eine Fülle persönlicher Beobachtungen, die diese Erkenntnis bestätigten. Man muss doch nur geradeaus schauen. Dann sieht man, dass man bis zum Horizont eine gerade Fläche vor sich hat. Das Meer, das Land, die Berge, alles basiert auf geraden Flächen. Nirgendwo sieht man etwas Rundes. So selbstverständlich es uns heute vorkommt, dass die Erde keine Scheibe ist, so selbstverständlich war genau das Gegenteil für die Menschen, die in den Zeiten lebten, bevor dieses Paradigma verändert wurde.
Übrigens nehmen die Anhänger der Theorie, dass die Erde doch eine Scheibe sei, aktuell stark zu. Dabei berufen sie sich mehrheitlich auf die Bibel, in der stehe, dass die Erde eine Scheibe sei, weshalb es gar nicht anders sein könne. So einfach ist das. Einige Anhänger dieser Theorie versorgen die Gemeinschaft mit empirischen Befunden aus eigenen Forschungen. Sie fahren mit dem Schiff auf dem Meer und mit dem Auto auf dem Land herum und berichten, nirgendwo am Horizont eine Krümmung gesehen zu haben. [33; 34] Es ist eine der fatalen Schattenseiten des Internets, dass diese und viele andere Absurditäten und Verschwörungstheorien auf dem Vormarsch sind und zunehmend Anhänger gewinnen.
Die Tendenz zu verzerrenden Einengungen auf nicht kritisch hinterfragte Paradigmen gilt selbstverständlich nicht nur für die Wissenschaft, sondern für alle Erkenntnisse und Sichtweisen. Teilweise handelt es sich um kollektiv vertretene Positionen, die für eine bestimmte Zeitepoche typisch sind. Im antiken Griechenland und im antiken Rom war Sklavenhaltung ein etabliertes Element der Gesellschaftsordnung. Das war so normal, dass kaum jemand Sklavenhaltung als merkwürdig empfunden hätte. Vielleicht wird es irgendwann in Zukunft einmal so sein, dass man auf uns kopfschüttelnd und mit Unverständnis blickt, weil wir unsere Ernährung zu einem großen Teil durch das massenhafte Quälen und Töten von Tieren sicherstellen.