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6.5Das erkenntnisleitende Interesse
Оглавление»Erkenntnisleitendes Interesse« ist ein Begriff der Frankfurter Schule. Er steht im Zentrum einer von Jürgen Habermas formulierten umfassenden Gesellschafts- und Wissenschaftskritik. [29; 30] Die Bezugssysteme, auf die sich Wissenschaften stützen, sind durch Wertungen und Interessen geprägt. Sobald man die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf diese Bezugssysteme bezieht, »zerfällt der objektivistische Schein [der Wissenschaften; F. U.] und gibt den Blick auf ein erkenntnisleitendes Interesse frei«. [29, S. 155]
In einem allgemeineren Sinn beschreibt das erkenntnisleitende Interesse den Einfluss, den eigene Interessen darauf ausüben, was wir für wahr halten. Sichtweisen, die uns nutzen, haben eine sehr viel größere Chance, vehement als Wahrheit vertreten zu werden, als solche ohne einen persönlichen Nutzen.
Diese Verzerrungen erfolgen manchmal bewusst. Häufiger sind sie aber das Ergebnis psychischer Mechanismen. Sie stellen dann einen Spezialfall der Ausrichtung unserer Urteile an einem bequemen und/oder vertrauten und/oder emotional stimmigen psychischen Erleben dar. Nicht, dass man es nicht wissen könnte, dass sich die Urteilsbildung an eigenen Interessen ausrichtet und durch sie beeinflusst wird. Aber es sind all die dienstbaren Verzerrungsmechanismen des RSG-Modells am Werk, diesen Zusammenhang in die weite Ferne einer bestenfalls nur punktuell aufflackernden Ahnung zu schieben, ihn ansonsten aber umzudeuten und zu verschleiern. Dabei ist die Wissenschaft mit ihren hohen moralischen Ansprüchen vor dem Einfluss offensichtlicher oder verdeckter Interessen alles andere als gefeit.
Zwei Beispiele:
Man kann auf den jahrzehntelangen Kampf von Lobbyisten der Tabakindustrie verweisen. In von den Tabakkonzernen finanzierten Studien wurde lange Zeit bestritten, dass Rauchen gesundheitsschädlich sei. Als diese Position nicht mehr aufrechtzuerhalten war, entstanden jahrelang von gleicher Seite in Auftrag gegebene »hochwertige wissenschaftliche Studien« mit der Aussage, dass zumindest Passivrauchen keine Gefahr darstelle. Es wurde gelogen, es wurden Anwälte eingespannt und Medien manipuliert, um unliebsame Wahrheiten zu unterdrücken. Der Umgang mit Kritikern grenzte an mafiöse Methoden (vgl. Kap. 8.7).
Die Steuerung von Forschungsvorhaben und -ergebnissen findet über die Auswahl von Studien statt, die realisiert werden, über die Vergabe von Forschungsgeldern, über Fortbildungen oder schöne Hochglanzprospekte. Dafür gibt es viele Belege. Henry Thomas Stelfox untersuchte Wirksamkeitsnachweise von Calciumantagonisten – Medikamente, die u. a. bei der Behandlung von Bluthochdruck und Angina pectoris eingesetzt werden. »96% der Autoren, die in ihren Studien zu positiven Ergebnissen […] kamen, waren […] finanziell unterstützt worden.« Bei Autoren, die sich kritisch zur Verwendung äußerten, waren es nur 37 Prozent. [31, zitiert nach 19, S. 31]
Was zeigen uns diese Beispiele? Unvollständige, selektierte Informationen, die Objektivität vorgaukeln, aber zu völlig verzerrten Resultaten führen können. Also die WYSIATI-Regel in Reinkultur. Runde, stimmige Geschichten, die bequem oder nützlich sind, die Vermeidung kognitiver Dissonanzen, ein Denken in bequemen, ausgetretenen Pfaden, das fehlende Bewusstsein von Schwächen und Grenzen naturwissenschaftlicher und speziell statistischer Methoden, die Tendenz zur Generalisierung und vieles mehr. Alles typische Elemente des RSG-Modells.
Die Wissenschaft ein Ort objektiver Glückseligkeit? Alles andere als das. Sie ist durch die gleichen Fehlerquellen und Verzerrungsmechanismen geprägt, die untrennbar mit der menschlichen Vernunft verbunden sind. Auch die naturwissenschaftliche Methode ist hier keine Ausnahme. Ihre besondere Gefahr liegt genau darin, dass sie von vielen als eine solche Ausnahme und als Königsweg zu objektiver Erkenntnis propagiert wird. Genau deshalb bietet sie eine gute Grundlage für verhängnisvolle und hartnäckige Fehlbeurteilungen.