Читать книгу Muster für morgen - Frank Westermann - Страница 12
5. NEU-ING
ОглавлениеMir war sofort klar, dass wir auch hier nicht lange bleiben konnten. Jedenfalls nicht alle. Es war einfach zu klein und eng. Sucherins Versteck war eben nur für eine Person eingerichtet. Und sie wirkte auch selbst etwas hilflos, wie wir uns hier so drängelten.
Sie räumte einige Gegenstände beiseite und verschob hier und da etwas an der spärlichen Einrichtung, damit wir wenigstens das Rene einigermaßen gut unterbringen konnten.
Die ganze Höhle schien von innen heraus immer etwas zu flimmern, als könnte ich die Sachen nicht richtig mit meinen Augen erfassen. Alles verschwamm immer wieder vor meinem Auge.
Sucherin bemerkte meine Irritation und legte mir den Arm um die Schultern: »Du brauchst dich deswegen nicht zu ängstigen. Dieser Effekt, den du wahrnimmst, entsteht aus der besonderen Kombination meiner Psyche mit der technischen Materie dieses Raumes.«
Ich nahm sie in meine Arme und drückte sie an mich.
»Du glaubst doch nicht, dass ich das verstehe.«
»Dummkopf,« flüsterte sie zurück und küsste mich.
Einer der Helfer räusperte sich – es klang jedenfalls wie das Äquivalent eines Räuspern.
»Nicht, dass ich Liebende stören will, aber es werden dringend einige Sachen benötigt, die für das Rene lebensnotwendig sind.«
»Klar«, sagte ich, »wir selbst benötigen ja auch einiges.«
»Vor allem Informationen, wie es draußen aussieht«, bestätigte Sucherin. »Lebensmittel habe ich noch etwas in konzentrierter Form hier. Das dürfte fürs erste kein Problem sein. Aber was braucht das Rene?«
»Vor allem Kälte«, erklärte der andere Helfer. »Das Klima hier wird es auf die Dauer schädigen und schließlich töten. Und Kälte könnte den Heilungsprozess sehr beschleunigen.«
»Hm«, machte Sucherin, »vielleicht können wir etwas zusammenbasteln, das zumindest einen Teil des Verstecks in einen kälteren Zustand versetzt.«
»Dann wird es ja noch enger für uns«, gab ich zu bedenken.
»Ja, wir müssen uns schnell nach was anderem umsehen. Hier können wir nicht einmal zu dritt liegen.«
»Wie gut, dass wenigstens wir keinen Platz wegnehmen«, gab ein Helfer seinen Senf dazu.
»Ich hab schon verstanden«, sagte ich resigniert. »Ich muss nach draußen und einen Unterschlupf suchen. Aber erst mal will ich etwas essen und trinken, sonst tragen mich meine Füße keine 10 Schritte.«
Sucherin kramte ein Stück farbloser Kaumasse hervor. Igitt, dachte ich, aber unsere Raumfahrer-Nahrung hatte ja in schlechten Zeiten auch so ausgesehen.
»Außerdem hab ich hier noch eine Menge Geld«, verriet Sucherin. »Du kannst ja mal sehen, ob es noch etwas wert ist.«
Als Beobachter musste sie damals gut ausgerüstet gewesen sein, ging es mir durch den Kopf. Auch die Luftzufuhr schien ständig frisch zu sein. Die Geldscheine allerdings waren mindestens 10 Jahre alt und schon damals hatten die meisten Leute per Kreditkarte bezahlt. Vielleicht gab es gar kein Bargeld mehr.
Gemeinsam überlegten Sucherin und die Helfer, was sie noch für ihre Kühlkammer brauchten, und insgeheim nahm ich mir vor, auch noch richtige Lebensmittel einzukaufen, wenn alles klappte. Ich hatte jedenfalls nicht vor, ewig von Konzentraten und Wasser zu leben.
Dann machte ich mich daran, mein Äußeres so gut es ging zu verändern. Sie mochten zwar veraltete Fahndungsfotos haben, aber eventuell hatten sie uns auf der Raumstation heimlich fotografiert. Bart und lange Haare mussten also ab. Es war etwas mühselig ohne Rasierer und kurze Stoppeln blieben zurück. Hauptsache, sie hatten hier nicht das Markensystem von den Südlichen Inseln eingeführt, dann hatte ich keine Chance.
Nachdem Sucherin und ich dann mit Essen fertig waren, entschied ich mich, sofort aufzubrechen. Es hatte keinen Sinn, es noch weiter hinauszuschieben. Einerseits hatte ich verteufelte Angst, weil ich nicht einschätzen konnte, was auf mich zukam, andererseits drängte es mich, dieses neue Neu—Ing kennenzulernen. Ich hoffte, dass ich mich noch zurecht fand. So sehr konnte es sich ja nicht verändert haben. Und wer weiß, vielleicht traf ich sogar alte Bekannte.
»Eines ist mir noch unklar: Wie komme ich hier rein und raus?« fragte ich Sucherin. »Ein Schlüssel tut’s ja wohl nicht.«
»Das ist nicht so schwierig. Ich kann Personen auf kurze Entfernung mit einiger Mühe per Nullschritt versetzen. Ich werde auch rechtzeitig merken, wenn du dich dem Versteck näherst, und kann dich dann reinholen.«
»Bei dir muss ich wohl immer auf Überraschungen gefasst sein«, sagte ich kurz. Meine Stimme klang etwas zittrig in Erwartung dessen, was mir in Neu-Ing alles bevorstehen mochte.
Sucherin umarmte mich heftig. »Also, mach’s gut. Und bleib nicht zu lange weg.«
Ich versprach es ihr. Dann konzentrierte sie sich, und von einer Sekunde zur anderen stand ich im Freien.
Sie hatte gut gezielt, denn ich befand mich hinter ein paar Büschen, die die Sicht von der Straße versperrten. Es schien aber auch jetzt nicht viel dort los zu sein, und so konnte ich ungehindert hervorschlüpfen.
Mir wurde schnell klar, dass ich mich in einem der äußeren Bezirke von Neu-Ing aufhielt. Ich kannte diese Ecke nicht, es war aber ein hingeklotztes Neubauviertel. Nicht weit von hier musste schon die öde Steinwüste des unbewohnten Gebietes beginnen.
Jetzt im Tageslicht – die Sonne kam allerdings nicht hervor – sah ich, dass Sucherins Versteck unter einem völlig kargen Stück Land lag. Vielleicht diente dieser Hinterhof als Kinderspielplatz, doch die Kinder hielten sich dann doch wohl noch eher in Treppenhäusern auf. Hier stand nur in einer Ecke eine Art Geräteschuppen, aber nichts zum Spielen.
Ich ging ein Stück weiter die Straße entlang, noch sehr unsicher. Überall die gleichen Hochhäuser, einige bunt angemalt, aber die Farbe blätterte schon wieder ab, als weigerte sie sich, das graue Innere zu überdecken.
Der Lärm von der Straße war einigermaßen auszuhalten. Ich bemerkte einen großen Anteil schrottreif aussehender Autos und verbeulter Robot-Busse. Fußgänger stapften gleichgültig mit niedergeschlagenen Augen aneinander vorbei, von der Hochstraße kam ein dumpfes Grollen und in der Ferne sirrten einige Schweber herum.
Ich seufzte: es war alles wie gewohnt.
Ziellos trabte ich weiter und die Silhouette der gigantischen Stadt prägte sich mir wieder ein. Wie ein wachsender Moloch, der jedes Leben verschlang.
Und dann, als ich aus der Siedlung raus war, der Blick auf einen riesigen Industriekomplex: hoch aufragende Fabrikschornsteine, aus denen gelblicher Rauch strömte, langgezogene graue, fensterlose Hallen, Bürogebäude, Stacheldrahtzäune mit Robot-Wächtern und das Stampfen und Dröhnen der Maschinenanlagen.
Sogar der Boden unter meinen Füßen erzitterte, und je mehr ich darauf achtete, desto sicherer wurde ich, dass der Krach nicht nur aus der Entfernung kam, sondern auch aus der Tiefe. Der weitaus größte Teil der Fabrikation fand also unterirdisch statt.
Ich schauderte. Ein wahrhaft höllischer Fortschritt. Wahrscheinlich bekamen die Arbeiter dort niemals Tageslicht zu sehen.
Ich machte einen großen Bogen um den Komplex und angesichts der Wachen wunderte ich mich erst jetzt, dass ich auf meinem bisherigen Weg keinen einzigen Cop zu Gesicht bekommen hatte. Stattdessen waren mir mehrere Pulks Jugendlicher aufgefallen, die unverhohlen die verschiedensten Waffen zur Schau trugen.
Ich hatte mich ängstlich von ihnen ferngehalten, sie hatten aber nirgends einen Zwischenfall provoziert.
Plötzlich kam mir der Gedanke, wie es wohl nachts hier aussehen würde. Ob solche Banden dann die Gegend kontrollierten?
Aber ich wusste ja nichts über ihre Motive und Ziele. Vielleicht nahmen sie nur bestimmte Geschäfte und Leute aufs Korn oder waren sogar völlig harmlos.
Ich sollte mich davor hüten, voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen, dachte ich, und der Mangel an aktuellen Informationen machte mir wieder zu schaffen.
Während ich immer weiterging, wurde mir klar, dass dies eigentlich das dringendste Problem war. Ich musste erfahren, was sich in den Jahren meiner Abwesenheit hier ereignet hatte, um wieder handlungsfähig zu werden. Dazu war es notwendig, alte Bekannte aufzutreiben und sie auszufragen. Ein paar abgehörte Funksprüche, als wir uns der Erde näherten, reichten da nicht aus.
Mit einem neuen Ziel vor Augen war ich jetzt wesentlich sicherer. Ich war nun auch überzeugt, dass ich weiter nicht auffiel, und Fahndungsplakate oder -holos hatte ich noch nirgends gesehen.
Meldungen über uns Terroristen konnten bisher nur über Tri-Di gelaufen sein. Und wer prägte sich schon angesichts einer Fernsehsendung genau fremde Gesichter ein?
Da ich mich hier überhaupt nicht auskannte, musste ich zunächst weiter ins Zentrum kommen. Ich hielt nach einer U-Bahn-Station Ausschau und testete dort angekommen am Fahrkarten-Automat gleich die Münzen, die ich von Sucherin bekommen hatte. Eine Anzahl fiel einfach durch, aber ein paar hatten noch ihren Wert und so kam ich zu einem Fahrschein (Schwarzfahren wäre doch sehr riskant gewesen, zumal ich nicht wusste, welche Kontrollen es gab).
Ich stellte dann fest, dass die Station nicht nur als Bahnhof benutzt wurde, sondern es eine Reihe gewaltiger Anti-Grav-Fahrstühle gab, die anscheinend die Arbeiter und Arbeiterinnen in die unterirdischen Fabriken brachte. Eine Gruppe von ihnen, die wohl Feierabend hatte, strömte mir entgegen: blasse Gesichter und abgemagerte Gestalten, alle in eine blaue Montur gekleidet. Sie sprachen kaum miteinander und strebten rasch dem Ausgang zu. Das waren bestimmt keine Leute, die nur auf Knöpfe drückten und Computerprogramme überwachten. Die übelste Arbeit wurde wie immer von den ärmsten Leuten ausgeführt. Da waren sogar Maschinen und Roboter zu teuer.
Ich schüttelte mich und trat auf den Bahnsteig. Leise zischte kurz darauf die Röhrenbahn heran. Natürlich wurde sie vollautomatisch gesteuert. Die Atmosphäre drinnen war so, wie ich sie in Erinnerung hatte: die Leute saßen stumm auf den zerschlissenen Plastikbänken, teilweise kleinformatige Zeitungen lesend, einige hörten Nachrichten- oder Musikspulen an. Hier sah ich auch zum ersten Mal einen großen Anteil Schwarzer, die wohl ebenfalls von irgendeiner Drecksarbeit kamen. Auswanderer von den Südlichen Inseln, die hier für einen Hungerlohn schuften mussten. In ihrer Heimat wären sie wahrscheinlich in den Slums umgekommen.
Eine Gruppe Jugendlicher fiel durch ihre Kleidung und ihr Aussehen auf. Sie waren alle stark geschminkt und trugen eine Art Glitzerklamotten. So etwas änderte sich eben alle paar Monate.
Die Modeindustrie musste ja auch ihren Umsatz machen.
Die Stille wurde andauernd durch Werbesprüche unterbrochen, die über Lautsprecher in den Wagen blökten. Dazu leuchteten Reklametafeln auf, von denen aber ein großer Teil zerstört worden war. In einer Ecke hing sogar ein Tri-Di-Apparat – ebenfalls – zerdeppert.
Allmählich kamen mir die Haltepunkte bekannt vor und ich überlegte, wo ich aussteigen sollte. Plötzlich schoss mir die Frage durch den Kopf, ob meine Eltern wohl noch lebten. Aber was nützte ein Treffen mit ihnen? Wir hatten uns schon lange nichts mehr zu sagen gehabt, immer nur gegenseitige Anmache ... Wahrscheinlich hatten sie die ganze Zeit angenommen, dass ich längst tot war. Die Hetzjagd auf mich als Terroristen würde ihnen einen ganz schönen Schock versetzen. Ich konnte mir sogar vorstellen, dass mein Vater sofort die Cops benachrichtigen würde, wenn er wüsste, wo ich mich aufhielt. Die würden sowieso früher oder später ins Haus kommen, um rauszukriegen, ob ich mich dort gemeldet hatte.
Nein, das hatte also keinen Sinn. Die erste, die mir sonst einfiel, war Flie. Ich beschloss, zu ihrer alten Wohnung zu gehen, wo sie mit Lucky und anderen gewohnt hatte. Wahrscheinlich würde ich sie dort nicht antreffen, denn sie hatte ja zuletzt als Dolmetscherin gearbeitet und da hatte sie wohl in eine andere Umgebung umziehen müssen. Aber vielleicht konnte ich über die Nachmieter etwas erfahren. Obwohl, nach neun Jahren ...
Wieder einmal wurde mir bewusst, dass ich eigentlich zwei Flies kannte: die erste, die jetzt in der anderen Realität war, und die zweite, die ich auf den Südlichen Inseln wiedergetroffen hatte. Ich hatte lange Gespräche mit Sucherin über dieses Phänomen geführt, und sie war ziemlich entsetzt über diese Verwirrung der Existenzebenen, wie sie es nannte. Sie gab sich selbst einen Teil der Schuld daran, weil sie meinte, damals als Beobachter uns einen unvollständigen Ebenenwechsler gegeben zu haben. Das Modell der damaligen Regs hatte einiges durcheinandergebracht.
Nicht erklärt war damit meine selbstständige Rückkehr in die alte Realität. Ich selbst hatte einmal zaghaft die Vermutung geäußert, dass es sich hier gar nicht um meine Ursprungsrealität handelte, sondern um eine geringfügig neue. Sucherin war davon nicht überzeugt, weil ein Wechsel in eine dritte Realität noch schwieriger zu erklären war. Sie meinte, dass ich durch meine Rückkehr das ohnehin angeknackste Ebenen-Gefüge weiter in Unordnung gebracht hätte und dadurch diese Doppelpersonen heraufbeschworen hätte. (Wie dabei eine so ähnliche Flie und gleichzeitig eine so unähnliche Winnie entstehen konnten, wusste sie allerdings auch nicht).
Auf jeden Fall waren für sie diese Vorgänge beunruhigend, wenn nicht sogar gefährlich, und sie wollte sie auch deshalb im Auge behalten. Ich konnte ihr nicht helfen, weitere Vorfälle dieser Art zu verhindern, da ich diese Realitätsversetzung nicht bewusst steuern konnte. Ich rechnete aber nicht damit, dass es mir noch einmal passierte.
Schon als ich in die Nähe der Straße kam, in der Flie gewohnt hatte, wurde mir klar, dass ich hier weder sie noch irgendwelche Nachmieter finden würde. Das ganze Viertel war saniert worden, d.h. die alten Häuser abgerissen und durch teure neue Wohnblocks ersetzt worden.
Mir blieb nur eins übrig: die Firma aufzusuchen, für die sie gearbeitet hatte. Zum Glück fiel mir der Name wieder ein und ich fragte einen Robot-Kommunikator nach der Adresse und machte mich auf den Weg. Die Firma existierte also noch.
Ich ging eine ganze Strecke zu Fuß Richtung City, um noch mehr von der Umgebung mitzukriegen. Einmal blieb ich stehen, um die Mittagsnachrichten, die aus einem Elektronik-Geschäft auf die Straße übertragen wurden, mit anzuhören. Ich war erleichtert: über uns und unsere Flucht wurde noch nichts durchgegeben. Wahrscheinlich waren sich die Regs noch nicht einig, was sie genau veröffentlicht haben wollten. Wenn sie die allgemeine Jagd auf uns freigaben, konnte es gut passieren, dass voreilige Cops oder Roboter uns töteten. Und daran schienen sie ja nicht unbedingt interessiert zu sein. Sie wollten ja irgendwelche Informationen von uns. Ich musste etwas lachen. Da schonten sie uns wegen dieser merkwürdigen Barriere, von der wir selbst nicht wussten, was das sein sollte.
Durch die Nachrichten bekam ich immerhin einigermaßen etwas mit von der politischen Weltlage – natürlich aus offizieller Sicht. Doch selbst diese Berichte klangen ziemlich düster: es gab wohl mit Hilfe der Renen-Technik errichtete Stützpunkte auf dem Mars und Mond, die für Nachschub an Idustrie-Rohstoffen sorgen sollten. Aber das war wohl ein sehr kostspieliges Unternehmen, und es klappte hinten und vorne nicht. Die Preise waren enorm gestiegen und einige Gebrauchsgüter wurden zumindest auf den Inseln knapp, so dass es dort schon zu kleineren Aufständen und Streiks gekommen war.
Auch in Neu-Ing schien die Lage brisant zu sein, weil das Kapital die Krise brutal gegen die Bevölkerung einsetzte, und es war häufig von Straßenschlachten und Demonstrationen die Rede. Natürlich sendeten sie zum Schluss eine Portion Optimismus, um wenigstens einige Leute bei der Stange zu halten. Die Privilegierten wurden zur Ruhe und Wachsamkeit gegenüber den inneren Feinden aufgerufen und eine große wirtschaftliche Wende für das nächste Jahr wurde prognostiziert. Da wurde gelabert über Raumflüge außerhalb des Sonnensystems und der Urbarmachung von Gebieten, die wegen der radioaktiven Verseuchung jetzt noch unzugänglich waren. Das waren natürlich alles nur schöne Worte. So wie ich die Lage mit meinen zugegeben wenigen Informationen einschätzte, würde es eher noch schlimmer werden. Auf jeden Fall für diejenigen, die für die kleine Oberschicht die Arbeit machen mussten, für die, die von der Hand in den Mund lebten, und für die, die Tag für Tag auf der Straße verhungerten.
Denn das war das eigentlich neue: Elendsviertel und Armut in diesem Ausmaß hatte es in Neu-Ing früher nicht gegeben. Neu-Ing hatte immer das Ansehen eines Wohlfahrtstaates gehabt, wo niemand Not zu leiden brauchte. Natürlich war das schon immer Augenwischerei gewesen, aber der neue Aufschwung und die Krise hatten hier hauptsächlich Verelendung gebracht. Diesen Leuten nützten die Raumfahrt und andere spektakuläre technische Neuerungen nichts. Das waren Spielereien für die Reichen, die Bürokraten und Knopfdruckspezialisten, die Überwachungs- und Computertechniker.
Aber ich konnte eben auch raushören, dass sich Widerstand regte, dass diesmal nicht Apathie und Resignation Einzug hielten. Und auch der Ruf nach einem starken Mann oder dem Militär, also ein Rechtsruck, schien nicht auf der Tagesordnung zu stehen.
Ob die Leute wirklich begriffen hatten, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen mussten und das nur ging über den Sturz jeglichen Herrschaftssystems?
Hier stoppten meine Gedanken, da ich mich einfach nicht länger konzentrieren konnte. Ich war in ein Geschäftsviertel vorgedrungen und dauernd dröhnten Werbespots auf mich ein und die Leuchtreklame flirrte schon am Tag über den Straßen. Ich hatte den Eindruck, es wurden selbst irgendwelche chemischen Anregungsmittel versprüht. Es stank jedenfalls überall penetrant und ich musste mich anstrengen, nicht in einer Art Trance weiterzugehen.
Schließlich stand ich vor dem gewaltigen Betonklotz der Handelsfirma, für die Flie tätig gewesen war. Nun meldete sich aber doch wieder meine Vorsicht und ich wollte erst mal anrufen, bevor ich mich persönlich dort sehen ließ. Zum Glück passten auch fürs Visifon alte Münzen und ich ließ mich mit der Firma verbinden.
Auf dem kleinen Bildschirm vor mir erschien das puppenhafte Gesicht einer Repräsentierfrau – oder vielleicht war es auch ein Robot – und sie fragte nach meinen Wünschen. Ich erkundigte mich nach Flie und erfuhr, dass unter ihrem Namen dort niemand arbeitete.
Resigniert schaltete ich aus und trat wieder auf die Straße.
Wie hatte ich auch annehmen können, dass jemand wie Flie so einen Job über Jahre ausübte? Sie hatte mir doch schon damals auf den Inseln erzählt, wie beschissen sie diese Rolle fand. Sie hatte sie ja auch nur angenommen, um als Spionin arbeiten zu können und außerdem eine Menge rumzukommen, wobei sie Kontakt zu einzelnen Widerstandsgruppen halten konnte.
Jetzt konnte ich natürlich von einer Adresse zur nächsten flitzen, aber das erschien mir ebenso hoffnungslos, denn ich hatte kaum Leute gekannt, die länger als ein paar Jahre am gleichen Ort wohnten. Da war es wohl doch besser, bis zum Abend zu warten und dann die einschlägigen Kneipen abzuklappern. Das versprach wesentlich mehr Aussicht auf Erfolg,
Außerdem durfte ich nicht zu lange wegbleiben, sonst befürchtete Sucherin bestimmt, dass mir etwas zugestoßen war. Langsam misstraute ich auch meinem Glück, noch keiner Cop-Kontrolle über den Weg gelaufen zu sein. Eine Ausweisüberprüfung würde mir gar nicht gut bekommen.
Ich suchte also den nächsten Alles-Kauf auf und besorgte die Teile, die auf meiner Liste standen. Ich bekam zwar alles anstandslos – Verkaufsautomaten stellen keine Fragen – aber manches klang so merkwürdig, dass ich mich fragte, ob solche außergewöhnlichen Wünsche nicht irgendwo registriert wurden.
Hastig klaubte ich noch einige Lebensmittel zusammen, die zwar auch nicht natürlich waren, aber immerhin besser als die eklige Konzentratnahrung. Damit war mein Vorrat an Geld, das noch was wert war, auch erschöpft.
Hier im Supermarkt wurde ich auch endlich von meinen letzten Zweifeln erlöst, dass vielleicht doch so etwas wie ein Markensystem à la Südliche Inseln eingerichtet worden war: die Kreditkarten, mit denen die Leute hier bezahlten, hatten keinerlei Ähnlichkeit mit den Marken, wie ich sie von den Inseln kannte.
Verkäufer/innen oder Kassierer/innen gab es natürlich nicht, nur ein paar Auffüllroboter schwirrten herum. Wenn man etwas nicht gleich fand, konnte man sich an eine der Auskunftssäulen wenden, die überall aufgebaut waren.
Ich machte mich so schnell es ging auf den Rückweg mit dem festen Vorsatz, heute Abend einen Kneipenbummel zu unternehmen. Ich fühlte mich jetzt viel sicherer und traute mir zu, Gefahren erkennen und aus dem Weg gehen zu können.
Schließlich hatten wir auch keine Wahl. Wenn wir uns freier bewegen wollten, mussten wir Antworten auf eine Menge Fragen bekommen und Leute finden, die uns weiterhalfen.