Читать книгу Muster für morgen - Frank Westermann - Страница 5
DIE SITUATION
ОглавлениеMit einem gewaltigen Ausrottungsfeldzug gegen jeden militanten Widerstand gelang es der neu etablierten Militärdiktatur der Südlichen Inseln, das Blatt noch einmal zu ihren Gunsten zu wenden. Tausende von Menschen fielen diesem Massaker zum Opfer, wurden hingerichtet, in Lager gesperrt, ins Gefängnis geworfen, gefoltert und verstümmelt. Hinterher herrschten das Schweigen der Toten und das Flüstern der Verfolgten auf den Straßen der Städte und Dörfer.
Speedy und Lucky waren der Vernichtungsmaschinerie wie bekannt im letzten Moment entkommen.
Die nächsten Jahre waren vom Bemühen der Machthaber geprägt, die Kontrolle über die Menschen wiederherzustellen.
Doch kaum war ihnen das hier ansatzweise gelungen, geriet das Regime der Regs in Neu-Ing ins Schwanken.
Hintergrund für die instabilen Zustände in beiden Metropolen bildete die ökonomische Lage. Besonders das Kapital in Neu-Ing war nicht mehr in der Lage, einem Großteil der Bevölkerung relativen Wohlstand zu garantieren bei gleicher oder sogar sinkender Arbeitsintensität und gestiegenen Lohnkosten. So wurde also versucht, alle Formen von Arbeit, die unter der Regie des Kapitals standen, stärker auszubeuten. Weiterhin sollten die Löhne niedrig gehalten und ein Teil der Menschen überhaupt aus dem Produktionsprozess herausgeschleudert werden. Diesen unproduktiven, überflüssigen Arbeitern und Arbeiterinnen wurde auch keine Wohlfahrt mehr ausgezahlt. Immer mehr Menschen fürchteten um ihre nackte Existenz.
Durch ihre ökonomische Abhängigkeit von Neu-Ing gerieten die Inseln ebenfalls in den Sog dieser Krise (der gewonnene Krieg hatte den Militärs nur eine kurze Atempause gebracht und die Verschuldung und technologische Abhängigkeit nicht beseitigt). Die gezwungenermaßen auf Export ausgerichtete Wirtschaft der Inseln brachte neuen Druck und Verarmung für die Kleinbauern und Slum-Bevölkerung.
Ein weiteres schwerwiegendes Problem, das die Situation für Staat und Kapital aufs Äußerste verschärfte, war das der fehlenden Rohstoffe. Die Gegend um Neu-Ing war praktisch ausgeblutet. Es gab dort kaum noch Kohle, Öl, Uran oder Erze.
Und die Inseln bestanden zu 80% aus Ackerland, das die Nahrungsmittelherstellung für beide Staaten abdecken sollte. Außerdem stieg die Bevölkerungszahl ständig, und es gab keine Ausweichplätze. Die Städte hatten sich in die Höhen und Tiefen gebohrt, trotzdem platzten sie aus allen Nähten. Besonders Neu-Ing sah aus wie ein riesiges stählernes Monstrum, das vergeblich versuchte, seine Metallfühler in andere Gebiete auszustrecken.
Denn ein Großteil der Erde war nach wie vor radioaktiv verseucht und die restlichen Gebiete waren auf jeden Fall für Menschen unbewohnbar.
Man hatte jahrelang versucht, alles Mögliche künstlich herzustellen – mit einigermaßen Erfolg. Aber auch dafür wurden Rohstoffe benötigt. Nur aus Sand und taubem Gestein war nichts zu gewinnen. Das meiste Land war unfruchtbar und eine einzige Wüste.
In Neu-Ing hatten die Regs eine Zeit lang automatische Geräte und Maschinen entwickeln lassen, die selbsttätig in diesen Landstrichen nach Bodenschätzen suchen und sie auch abbauen sollten. Doch das Problem der Radioaktivität war nie gelöst worden. Die Maschinen selbst und das, was sie mitbrachten, waren so verseucht, dass die Materialien nicht weiterverarbeitet werden konnten. Die Automaten und Roboter gaben die Strahlung an Entlademaschinen und Transportfahrzeuge ab und der Aufwand für eine Entseuchung des ankommenden Materials und die nötigen Sicherheitsvorkehrungen waren zu immens, als dass sie sich lohnten. Außerdem ereigneten sich immer wieder tödliche Strahlungsunfälle, die nicht vertuscht werden konnten, so dass die Regs sich schließlich gezwungen sahen, die Experimente einzustellen.
Es gab einige Gebiete auf der Erde, die nicht vom radioaktiven Fallout betroffen waren und auch das Bombardement überstanden hatten. Doch das waren meist unzugängliche Stellen, in denen es den Herrschenden nie gelang Fuß zu fassen. Es lebten dort angeblich Kreaturen, die sich sehr von den normalen Menschen unterscheiden sollten, und jeden Ansatz einer Kolonisation von vornherein zunichte machten. Beide Staaten hatten versucht, sie zu bekämpfen, aber lang anhaltende Guerillakriege waren nicht die Stärke der jeweiligen Machthaber, und so war außer ein paar stark befestigten Stützpunkten nichts übrig geblieben.
Das war die Lage aus der Sicht der Regs und Militärs, die verzweifelt bemüht waren, die Profite des Kapitals zu sichern und ihre Kontrolle über die Menschen zu behalten.
Diese Maßnahmen führten allerdings zu einem immer größer werdenden Unruhepotential in Neu-Ing, wo sich zum vielleicht ersten Mal für viele Leute die Situation ergab, dass nicht einmal mehr ihre Grundbedürfnisse befriedigt werden konnten. Was nutzten Sensi-Kinos und Tri-Video-Wänd, wenn die Menschen nicht mal mehr einen elenden Brocken Syntho-Grütze kaufen konnten?
Die Unruhen weiteten sich schnell aus. Es kam zu vereinzelten Streiks und Demonstrationen – undenkbare Ereignisse in früheren Tagen -, Oppositionsparteien bildeten sich und breit angelegte Basisinitiativen entstanden.
Und gerade in diesem Moment kam den Regs noch einmal der Zufall zu Hilfe. Die historische Rolle dabei fiel dem Piloten eines Forschungshubschraubers zu ...
Dieser hatte eigentlich die Aufgabe, einige Messinstrumente einer vollautomatischen Station in der Arktis auszuwechseln. Wegen der schlechten Wetterlage war er gezwungen, einen Umweg zu machen und dann beugte er sich in seiner dicken Schutzmontur ungläubig vor. Er wollte seinen Augen nicht trauen, denn das, was er da in dem wirbelnden Schnee sah, war gewiss keine weitere Forschungsstation.
Der Pilot entdeckte das Raumschiff der Renen!
Bekanntlich hatten die Renen einige Reparaturen an ihrem Schiff auszuführen und waren deshalb nicht sofort nach ihrem Spiel mit den Kurzos von der Erde gestartet. Und bei den Renen dauerte es ja immer eine ganze Zeit, bis sie solche Schäden behoben hatten aufgrund ihrer – für uns – umständlichen Kommunikationsstruktur.
Der Helikopterpilot flog niedriger und stellte fest, dass er sich nicht getäuscht hatte. Was das war, das dort unten in Eis und Schnee steckte, konnte er sich allerdings nicht denken. Er ahnte nur dessen wichtige Bedeutung. Er verständigte sofort seine Befehlsstelle und freute sich auf eine Beförderung, da er dem militärischen Stab angehörte.
Er wurde nicht nur befördert, sondern bekam obendrein eine Prämie eine Menge Orden und eine luxuriöse Wohnung. Er konnte von da an eine ruhige Kugel beim Militär schieben.
Die Regs konnten natürlich ebenfalls noch nicht ahnen, was der Zufall ihnen da beschert hatte, aber vorsichtshalber schickten sie erst mal ein ganzes Geschwader Kampfhubschrauber in das betreffende Gebiet. Die Soldaten verhielten sich angesichts des rätselhaften Objekts sehr vorsichtig und es setzte ein hektischer Funkverkehr ein. Schließlich wurde die Existenz eines außerirdischen Raumflugkörpers als eine Theorie in Betracht gezogen.
Da von dem Objekt keine merkliche Bedrohung ausging, landete ein Teil der Helikopter. Schwerbewaffnete Eliteeinheiten setzten sich in Marsch und drangen schließlich in das Renen-Schiff ein.
Im Innern bewahrheitete sich dann die Theorie.
Angesichts der völlig fremdartigen Lebensformen und der exotischen Umgebung drehte der Befehlshaber des Landekommandos durch und erteilte sofort Feuerbefehl. Zwei Drittel der Renen wurden getötet, bevor von höherer Stelle einsichtig gemacht werden konnte, dass diese anscheinend harmlosen Außerirdischen ihnen lebend mehr von Wert sein konnten.
Die Renen selbst hatten bis zu ihrem Tod keine Erklärung für das Verhalten der Menschen ihnen gegenüber. Sie kannten zwar in geringem Maß gewaltsame Auseinandersetzungen, aber Überfälle, Folterungen, Verhöre und der Einsatz von modernen Waffen überhaupt waren ihnen unbekannt. Ihre Gedanken-Kommunikation erübrigte Übersetzungsgeräte und so folgten sie verständnislos den Soldaten zu ihren Hubschraubern.
Sie wurden nach Neu-Ing transportiert und sofort in Hochsicherheitstrakten untergebracht.
Die Verantwortlichen erkannten bald, dass die bis jetzt überlebenden Renen harmlose Geschöpfe waren, und bald spotteten Politiker, Offiziere, Ärzte und Spezialwissenschaftler (ein moderner Ausdruck für Folterspezialisten) über die dämlichen leuchtenden Röhren.
Viel konnte aus ihnen nicht herausgequetscht werden, nur eine Menge sichtbar gemachter Gedankenbilder, die aber ohne Zusammenhänge zu kennen kaum verwertbar waren. Da waren die schriftlichen Aufzeichnungen und Computerprogramme des Raumschiffs schon besser geeignet.
Und so machte es den Folterern auch nichts mehr aus, als die Renen eines nach dem anderen starben, weil sie aus ihrer Gruppenstruktur gerissen auf Dauer nicht überleben konnten. Ein einziger blieb aus unerfindlichen Gründen am Leben, wenn es auch mehr einem Dahinsiechen glich.
Der Bevölkerung wurde das Märchen von einem aggressiven, außerirdischen Angreifer aufgetischt, dessen 5. Kolonne die heldenhaften Soldaten von Neu-Ing nach hartem Kampf besiegen konnten.
Aber die Sensation klang schnell ab und die Regs und ihre Helfershelfer bemühten sich, so schnell wie möglich das von ihnen erpresste Wissen für sich nutzbar zu machen. Mit der Außerirdischen Gefahr wurde auch der Aufbau einer Raumflotte gerechtfertigt, die nach den Plänen der Renen entstand.
Die neue Technologie verschaffte Neu-Ing einen weiteren Vorsprung vor dem Konkurrenten Südliche Inseln. Mit ihrer Hilfe konnte das Volk noch besser kontrolliert und im Zaum gehalten werden und vor allem wurden die Raumschiffe dazu benutzt, bestimmte Gebiete auf Mars und Mond, die reich an den so dringend benötigten Rohstoffen waren, von Menschen ausbeuten zu lassen. Für diese unmenschliche Arbeit unter miesesten Bedingungen wurden hauptsächlich politische Gefangene, sonstige Verbrecher und andere unliebsame Personen benutzt. Außerdem wurden Freiwillige angeheuert, denen bei ihrer Rückkehr ein Haufen Geld winkte, aber die meisten starben an Unfällen und Einsamkeit auf den trostlosen Planeten. So wurden die Regs auf elegante Weise einen Haufen Nichtstuer, Terroristen, Sozialrentner und Arbeitslose los. Die Freiwilligen unter ihnen erhofften sich einen Ausweg aus dem elenden Leben in den heruntergekommenen Vorstädten, dienten aber nur als Arbeitssklaven der Großkonzerne, die sich hier einen profitträchtigen Sektor zu erschließen versprachen.
So kamen die Herrschenden zu den dringend erforderlichen Bodenschätzen, die Wirtschaft nahm nochmal einen kolossalen Aufschwung, die Konzerne verdienten sich dumm und dämlich und die neue Technik wurde zur weiteren Einschläferung der Menschen verwandt.
Doch es stellte sich diesmal heraus, dass es sich nur um ein kurzes Aufbäumen gehandelt hatte. Nach ein paar Jahren war der Boom vorbei, und die Menschen stellten fest, dass sich an ihrer beschissenen Situation dadurch nichts geändert hatte. Die Kontrollmechanismen der Machthaber in Neu-Ing und auf den Südlichen Inseln gerieten erneut ins Wanken. Schneller als vor ein paar Jahren kam es zu teilweise militanten Gegenbewegungen.
Es begann mit einem Streik der Arbeitssklaven auf dem Mond, nächtlichen Plünderungen in den Großstädten und einer breiten Bewegung gegen die Macht der Maschinen.
Viele Leute begannen zu merken, dass sie ein hohles Leben führten, das die Reichen auf ihre Kosten noch reicher machte und sie zu statistischen Zahlen degradierte.
Das war die Situation, in die Speedy und Lucky – neun Jahre nach ihrer Flucht mit den Kurzos – Kortanor, Sonnenfeuer und Sucherin hineinplatzten.