Читать книгу Erhoffte Hoffnungslosigkeit - Philipp Felsch, Frank Witzel - Страница 11

14.12.2018

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Vielleicht liegt im Verrücktwerden auch die Weigerung, sich zu verändern, in eine andere Logik einzutreten. Obwohl man es muss, weigert man sich – und wird verrückt.

Gibt es ein Äquivalent des Verrücktseins für den Körper? Was würde Verrücktsein in Bezug auf den Körper bedeuten? Ist das Verrücktsein des Körpers lediglich eine Unfolgsamkeit dem Willen gegenüber? Und doch käme man nie darauf zu sagen: »Mein Arm ist verrückt geworden«, sobald er eine unwillkürliche Bewegung ausführt oder nicht mehr gehorcht. Der Körper ist also doch lediglich ein Instrument, dessen ich mich bediene, er ist an sich, während der Geist weder Hand noch Fuß hat, weder etwas berühren noch zu etwas hingehen oder vor etwas fliehen kann, weshalb er sich, es ist seine einzige Chance, als unverrückbares Zentrum ansieht, um das der Körper, und um diesen wiederum die Welt, kreist. Jede Bedrohung dieses Zentrums, jede Möglichkeit, aus diesem statischen Zentrum verrückt zu werden, wertet er zwangsweise als Verrücktheit.

Es zeigt sich ein Problem darin, den Geist – noch nicht einmal ihn direkt, sondern allein seine Form der Wahrnehmung – mit dem Ich gleichzusetzen. Immer ist es gleich das Ich, das verrückt wird. Genauso wenig, wie ich von meinem Körper oder Teilen meines Körpers sage, dass sie verrückt werden oder verrückt geworden sind, sollte ich es von meinem Geist oder von meinem Ich sagen. Ich sollte die Sprache des Körpers auf den Geist selbst anwenden: »Heute Morgen beim Aufwachen habe ich mir irgendwie den Geist geprellt.« Oder: »Ich hab mir neulich die Wahrnehmung verknackst und kann alles um mich herum immer noch nicht richtig einordnen.« Wäre das nicht sinnvoller, als immer sofort das große Geschütz des Ich, mit seiner ohnehin fragilen bis fragwürdigen Identität aufzufahren? Natürlich wäre es erst einmal eine Kränkung für das Ich, aber da müsste es halt durch.

Man spricht doch von den drei Kränkungen des Menschen, erst die durch Kopernikus, nicht mehr auf einem Planeten zu leben, der sich im Mittelpunkt des Universums befindet, dann die durch eine verzerrte Darwin-Rezeption, keine eigene Spezies und schon gar nicht die Krone der Schöpfung zu sein, und schließlich die durch Freud, nicht Herr des eigenen Bewusstseins zu sein. Aber sind und waren das tatsächlich Kränkungen? »Ob die Erde sich um die Sonne dreht, oder die Sonne um die Erde – das ist im Grunde gleichgültig«, sagt Camus zu Recht. Und ebenso gleichgültig ist es, ob ich vom Affen abstamme oder nicht, ob ein smart design oder ein weniger smartes Design in der Evolution am Wirken ist. Und auch die Erkenntnis Freuds hat das Ich keineswegs geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt, weil es sich über sich selbst erhoben und eine Theorie seiner selbst entworfen hat, in der es sich selbst in einer Geste des uneingeschränkten Herrschers nach außen hin relativiert, um sich nach innen hin zu verabsolutieren. Es ist nicht das naive Kind, ohne Vorbildung, das auf die Nacktheit des Kaisers hinweist, nein, der Kaiser selbst stellt seine eigene Nacktheit in einem mehrbändigen Werk und einer umfassenden Theorie aus und kleidet sich zugleich damit an. Das Ich arbeitet immer nur an seinem Erhalt, selbst wenn diese Arbeit nach außen hin die Form einer Dekonstruktion anzunehmen scheint. Es wähnt sich so umfassend, dass alles in ihm Platz findet, selbst die Kritik, selbst die Selbstkritik, selbst seine Entthronung.

Deshalb ist der Wahnsinn die einzige wirkliche Bedrohung des Ich, weshalb es wie besessen daran arbeitet, auch ihn einzuordnen und für sich nutzbar zu machen. Das Ich ist der geborene Kapitalist. Es ist die Logik des Ichs, die sich im Kapitalismus zeigt. Weder bestimmt das Sein das Bewusstsein noch das Bewusstsein das Sein, sondern dieser absolutistische Knotenpunkt, an dem Sein und Bewusstsein scheinbar zusammenlaufen und eins werden: das Ich.

Das kapitalistische Ich mit seiner faschistischen Sprache.

Nein, die Freud’schen Topologien waren keine Kränkungen für das Ich, vielmehr wurde es endlich in seiner göttlichen Dreifaltigkeit erkannt.

Das Verrücktwerden ist ein Zustand des Verlierens (ich verliere den Verstand), und dieser Zustand ängstigt deshalb so, weil ich den Moment des Verlierens sonst nicht erlebe, denn entweder ich habe etwas verloren oder es ist vorhanden. Wenn ich merke, dass ich etwas verliere, kann ich das Verlieren aufhalten und den Verlust verhindern. Beim Verrücktwerden erlebe ich das Verlieren, ohne etwas dagegen tun zu können.

Im Wahnsinn verliere ich gerade nicht das Bewusstsein, sondern ich werde mir meines Bewusstseins bewusst. Das Bewusstwerden des Bewusstseins fühlt sich an, als würde ich das Bewusstsein verlieren.

Ich durchschaue die Konstruktion des Bewusstseins, indem ich sie nicht durchschaue. Ich komme zu keiner Lösung, komme zu keinem Ergebnis. Genau damit hebele ich das Bewusstsein aus, das sich sonst jede Einordnung, jede Kategorisierung wieder selbst gutschreiben würde.

Die wirkliche Kränkung: zu erkennen, dass ich keinen Einfluss auf mein Sprechen habe, dass die Sprache, die ich benutze, nicht meine Sprache ist und ich mir diese fremde Sprache niemals, selbst mit größter Mühe nicht, aneignen kann, um endlich das auszudrücken, was ich wahrnehme, sie vielmehr immer etwas anderes ausdrückt und damit meine eigene Wahrnehmung im Ausdruck verfälscht, mehr noch: vernichtet, denn die Sprache ist ja nicht nur ein Mittel, um mit anderen zu kommunizieren, sondern das Mittel, mit dem ich mich selbst in der Welt befinde. Wenn ich mich aus der Vereinbarung zu lösen versuche, in der die Sprache mir vorgibt, was ich wahrnehme, scheine ich verrückt zu werden, während ich lediglich auf meiner Wahrnehmung beharre.

Der Verrückte meint, es gäbe eine Wahrnehmung, die der Sprache vorausgeht. So hingeschrieben scheint diese Meinung relativ verständlich, tatsächlich aber, wenn man sie mit allen Konsequenzen in Bezug auf die Sprache überdenkt, ist sie, wenn nicht verrückt, so doch vermessen. Mehr noch, sie kommt einer Lästerung der Naturgesetze gleich, einer Gotteslästerung, und hier findet sich ein Indiz für die Entstehung des Glaubens, dass nämlich die Sprache in ihrem Entstehen Gott schuf und sich unauflösbar mit ihm verband – wie man selbst und gerade in der negativen Theologie erkennen kann –, einerseits, um von sich als der wahren Herrscherin abzulenken, andererseits, um sich immer wieder selbst zu erneuern. Was ist an dem Satz »Im Anfang war das Wort« eigentlich nicht zu verstehen?

Der Verrückte meint, es gäbe eine Wahrnehmung, die der Sprache vorausgeht. Das ist der Grund, weshalb er entweder katatonisch und aphatisch wird oder manisch versucht, seine eigene Sprache zu entwickeln. Und weshalb er von Gott spricht und »Stimmen« hört. Vielleicht sind diese »Stimmen« das Andere Gottes, Hinweise auf eine Wahrnehmung ohne ihn, das heißt ohne Sprache.

Deshalb auch sollen wir beten, um immer wieder sprachlich Gott zu erschaffen. Wir beten nicht zu Gott, wir beten ihn.

Und auch deshalb soll ich meine Sünden bekennen, werden sie mir durch das Bekenntnis vergeben, weil ich in der sprachlichen Formulierung meiner Sünden die einzig wirkliche »Sünde«, das einzig wirkliche Vergehen gegen Gott-Sprache nicht begehe: zu schweigen.

Nicht der Satan, oft noch beredter als Gott, ist Gottes Gegenspieler, sondern die Aphasie.

Wir müssen von der apophatischen Theologie zur aphatischen Theologie gelangen.

Und deshalb bestand mein Verrücktsein gerade darin, nichts Außergewöhnliches wahrzunehmen, aber eben auch gleichzeitig nichts Gewöhnliches, und genau das nicht ausdrücken zu können. Und weil ich es nicht ausdrücken konnte, scheint zwischen Gewöhnlichem und Außergewöhnlichem nichts Drittes zu existieren. Der Wahnsinn dringt zwischen die Dichotomien und entdeckt dort, wo gemäß unserem Menschenverstand nichts sein darf, eine dritte Welt. Der Leitsatz des Wahns lautet: Tertium datur.

Erhoffte Hoffnungslosigkeit

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