Читать книгу Erhoffte Hoffnungslosigkeit - Philipp Felsch, Frank Witzel - Страница 18

21.12.2018

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Es ist die Normalität, die den Wahnsinn ausmacht. Die Normalität wird als Normalität sichtbar. Wird jedoch etwas sichtbar, ist es nicht mehr normal. Es ist ähnlich wie die Erfahrung von Raum und Zeit, das, was ich zeitweise für eine »apriorilose« Wahrnehmung hielt, während es sich wahrscheinlich genau umgekehrt verhält, der Raum durch alles, was sich in ihm befindet, hindurchscheint, die Zeit nicht länger unauffällig vergeht oder erst im Nachhinein in ihrem Vergangensein erkannt wird, sondern in einer ständigen Unruhe in allem nach vorne drängt.

Binswanger beschreibt die Schizophrenie als »Unmöglichkeit eines ungestörten Aufenthalts bei den Sachen«. Aber wie soll man sich »ungestört« bei ihnen aufhalten können, wenn sie ihr Vergehen beständig zur Schau stellen, indem sie unsichtbar im Raum werden, vielmehr der Raum sichtbar durch sie hindurchscheint, sie unsichtbar in der Zeit werden, vielmehr die Zeit sichtbar aus ihnen herauspulsiert?

Binswanger ist der Meinung, dass sich die Fähigkeit (des Nicht-Verrückten), sich bei den Dingen aufhalten zu können, darin zeigt, »daß wir das Seiende, alles Seiende, sein lassen, wie es an sich selbst ist«. Diese Fähigkeit aber kann nur der haben, der umgekehrt vom Seienden sein gelassen wird. Das genau aber ist das Problem des Wahnsinnigen, der von den Dingen, vielmehr von den durch die Dinge durchscheinenden Apriori seiner Wahrnehmung bedrängt wird und gezwungen ist, sich diesen Dingen gegenüber zu verhalten, weshalb er immer aufs Neue versucht, und wohl meist vergeblich, sie in eine Ordnung zu bringen. Das ist der Grund, warum sich Unica Zürn an das »Einmaleins mit der 9« klammert und es von 1 bis 9 aufzählt, nicht aber, logischerweise, zur 10 gelangt. Einen Text widmet sie sogar diesem Einmaleins und ihrem Sohn, er beginnt mit dem Satz: »Meine Augen sind weitsichtig geworden: das entfernte Objekt sehen sie deutlich.« Ja, allein das entfernte Objekt kann noch deutlich wahrgenommen werden, weil es in der Ferne des Raums liegt, weil es in diese Ferne versetzt werden musste, um überhaupt deutlich werden zu können, da der »ungestörte Aufenthalt bei den Sachen« unmöglich geworden ist. Das entfernte Objekt, auf das sich die Begierde richtet, die gleichzeitig weiß, dass eine Annäherung unmöglich ist.

Binswanger scheint allerdings diese »Konsequenz der natürlichen Erfahrung«, der die »Inkonsequenz« der Geisteskrankheit gegenübersteht, für eine Form der Leistung zu halten, die erbracht werden muss, um die geistige Normalität zu erhalten: »Dieses Seinlassen ist aber keineswegs das Selbstverständliche und Bequeme, vielmehr stellt es, wie gerade unsere Fälle, und zwar auf defiziente Weise, zeigen, die allerpositivste Tätigkeit dar.« Ich vermute, dass Binswanger mit »allerpositiv« kein Werturteil formuliert, sondern auf den Positivismus verweist, allerdings widerspricht er sich insofern, als er einmal davon spricht, dass das »Seinlassen« nicht selbstverständlich oder bequem sei, dann aber die Erfahrung des Seinlassens als »natürlich« beschreibt. Ist es nun eine Art kulturelle Leistung des Menschen, das Seiende sein lassen zu können, während der »inkonsequente« Wahnsinnige die Rolle des verrückten Wilden annimmt, der aus der Kultur herausgefallen ist, oder entfernt sich der Wahnsinnige mit seiner »Kultur« von der »natürlichen« Gemeinschaft der Normalen?

Handelt es sich hier um ein Problem der positivistischen Weltanschauung, die von einer allgemeingültigen Wahrnehmung objektiver Befunde ausgeht und den Wahnsinn in den Bereich der Metaphysik verweist? Aus der Sicht des Wahnsinnigen ist es ja nicht die eigene Unruhe, die seinen »ungestörten Aufenthalt bei den Sachen« verhindert, sondern die Sachen selbst, die unruhig sind.

Das Ding an sich ist das, was den Raum sichtbar macht.

Die Ordnungssysteme der Wahnsinnigen, das ist natürlich nur eine Annahme, sind ein Versuch, den »natürlichen« Ordnungssystemen etwas entgegenzusetzen. Unwillkürlich und unabsichtlich parodieren sie dabei diese Ordnungssysteme und legen den Wahnsinn frei, der unserer Normalität innewohnt.

Erhoffte Hoffnungslosigkeit

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