Читать книгу Erhoffte Hoffnungslosigkeit - Philipp Felsch, Frank Witzel - Страница 16

19.12.2018

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Das, was man seit Erfindung des Films die Zeitlupe nennt, existiert auch im wirklichen Leben. Es ist die Aufhebung der Zeit in Momenten völliger Panik. Im Gegensatz zum Film, in dem ich im Nachhinein verlangsamt anschauen kann, was geschah, findet diese Wahrnehmung im Moment des Geschehens statt. Zusammen mit dieser Zeitlupe existiert das, was man analog eine Raumlupe nennen könnte – und was im Film vielleicht »Zoom« hieße. Die Raumlupe ist aber etwas anderes als der Zoom, weil die Raumlupe ähnlich wie die Zeitlupe funktioniert, das heißt der Raum, so wie ich mich in ihm zu befinden meine, wenn ich ihn lediglich als Voraussetzung meiner Wahrnehmung begreife, besteht weiterhin, nur dass ich ihn bewusst wahrnehme, er nicht länger Hintergrund ist, vor dem, oder Bedingung, durch die etwas geschieht. Die Raumlupe vergrößert nicht, sondern macht sichtbar, ähnlich den Röntgenbrillen, die in meiner Kindheit in Zeitschriften angeboten wurden und vorgaben, mit ihrer Hilfe durch die Kleidung von vorzugsweise Frauen schauen zu können. Mit der Raumlupe kann ich durch die Dinge hindurch den Raum sehen, der sie ermöglicht. Ähnlich existiert bei der menschlichen Zeitlupe die Zeit als Voraussetzung meiner Wahrnehmung weiterhin, nur meine ich, die Zeit in ihrem Verlauf (besser: die Zeiten in ihren Verläufen) selbst zu erkennen und nicht wie sonst das Vergehen der Zeit im Moment dieses Vergehens nicht wahrzunehmen, sondern nur im Nachhinein. Raum und Zeit verschieben sich zueinander (man könnte etwa meinen, dass zum Raum hier die Zeit wird oder umgekehrt), werden in ihrer gegenseitigen Bedingtheit fühlbar und rufen in mir, der ich durch diese innere Zeit- und Raumlupe schaue, einen Schwindel hervor, ein Gefühl zu stürzen, zu fallen, orientierungslos zu schweben. Es sind Zustände, die einer Möglichkeit zur Wahrnehmung, noch dazu einer so genauen, zu widersprechen scheinen. Ich meine sogar, und genau das bewirkt eine zusätzliche Desorientierung, das Denken setze aus, bemerke aber in Wirklichkeit, was Denken unter anderem auch ist, nämlich ein beständiges Einordnen und Filtern.

Die oft postulierte Trennung von Denken und Fühlen existiert erst in dem Moment dieses Schwindels, existiert vor allem erst dadurch, dass ich wahrnehme, dass mein Fühlen und Denken gar nicht, wie ich anfänglich meinte, getrennt sind, sondern mein Fühlen permanent durch das Raster meines Denkens läuft und für mich allein auf diese Weise gefiltert wahrgenommen wird. Dazusitzen, um über etwas nachzudenken, ist eine sinnlose Tätigkeit, die sich immer an eine andere Tätigkeit koppeln muss, zum Beispiel das Schreiben, das Sprechen, das Arbeiten, um sich vollziehen zu können. Das Denken nämlich ist sprachlos, auch wenn ich meine, dass es sprachlich stattfindet, weil Anfänge von Sätzen, Wortfetzen, Sprachfragmenten in meinem Inneren aufzutauchen scheinen, die aber lediglich die Geräusche sind, die bei der Tätigkeit des Denkens, das heißt des sprachlosen Einordnens von Empfindungen entstehen, etwa so wie eine Tür quietscht, wenn man sie öffnet oder schließt, und man kaum auf den Gedanken verfallen würde, das Auf- und Zumachen geschehe lediglich, um dieses Geräusch hervorzurufen und nicht, um jemanden hereinzulassen oder selbst hindurchzugehen.

In der Panik lösen sich die Bezüge voneinander, werden die Gründe unscharf, weshalb man diesen Zustand auch als ein Außer-sich-Sein bezeichnet. Ich bin in der Panik jedoch nicht außer mir, sondern in mir, eins der seltenen Male höchstwahrscheinlich. Das Außer-mir-Sein lässt mich erfahren, dass das Denken tatsächlich sprachlos ist, ein Filter, durch den Raum und Zeit in mir abgebildet werden und der nicht mehr auf gewohnte Art und Weise funktioniert, sondern wie bei einer Kamera, die sich nicht mehr scharf stellen lässt, einem Bandgerät, dessen Geschwindigkeit nicht mehr zu regulieren ist, nur noch ein Gefühl von Unschärfe und Ungewissheit in mir hervorruft. Diese Momente dauern in der Regel nicht lange, sind für viele Menschen Ausnahmesituationen, die sie oft traumatisieren, zumindest schockieren, zumindest für eine Zeit lang desorientiert zurücklassen. Aber noch etwas anderes scheint sich zu beweisen: Raum- und Zeitempfinden scheinen doch keine angeborenen Grundlagen der Wahrnehmung zu sein, vielmehr erlernte Konstruktionen (vielleicht: erlernte Apriori). Mein Gefühl des Wahns bestand wahrscheinlich allein darin, dass mir diese angeblichen Grundlagen für einen Moment verloren gegangen waren, und aus nichts weiter.

Erhoffte Hoffnungslosigkeit

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