Читать книгу Erhoffte Hoffnungslosigkeit - Philipp Felsch, Frank Witzel - Страница 9
12.12.2018
Оглавление»Die Verunsicherung des Werdens«: ein schöner Titel, dessen Geschmeidigkeit allerdings die existenzielle Dramatik verbirgt. Letztlich verbirgt Sprache immer die Dramatik des Seins, weil der, der spricht, so tut, als habe er etwas überwunden. Aber auch wenn er es nicht »wirklich« überwunden, das heißt bewältigt, hat, so hat er es auf eine bestimmte Weise doch überwunden, indem er darüber spricht. Das Darüber-Sprechen zeigt diese »Überwindung« an, nicht der Inhalt dessen, was gesagt wird. So habe ich mich gestern mit der Erzählung meines Zustands aus diesem Zustand selbst befreit, letztlich, weil mir der Glaube (im Sinne von »Vertrauen«) fehlte, der Glaube, der mich hätte schweigen und damit sein lassen.
Andererseits, wie man an Scheherazade in der Schlafkammer oder an Schweijk vor dem Erschießungskommando oder an mir hier in diesen Aufzeichnungen sehen kann, gelingt es mit dem Reden tatsächlich, den Tod aufzuhalten, allerdings muss dieses Reden auch immer ein Reden im Anblick des Todes sein. Tatsächlich lässt sich der Tod natürlich nicht aufhalten, sondern nur eine bestimmte Todesdrohung zeitweise zurückstellen. Ich glaube, dem Tod »von der Schippe« gesprungen zu sein, aber, wie das Bild bereits verrät, bin ich lediglich seinem Gehilfen, dem Totengräber, von der Schippe gesprungen und muss nicht in dieses eine, bereits ausgehobene Grab. Dafür eben in ein anderes.
Der Unterschied zwischen verrückt und entrückt: ich verrücke mich selbst (werde selbst verrückt), eine andere (göttliche) Macht entrückt mich (ich werde entrückt). Wenn ich also im Verrücktwerden meinen Glauben (der selbst bereits eine Form der Verrücktheit ist) bewahren kann, mehr noch, wenn ich mich der Verrücktheit wirklich hingeben kann, dann werde ich nicht verrückt, sondern lediglich entrückt. Entrückung und Verrückung unterscheiden sich lediglich durch ihre jeweilige Form der Hingabe an den Moment, die Hingabe an das andere, mich Verrückende, das ich über meine Wahrnehmung stelle. So könnte mich der Glaube vom Verrücktwerden bewahren, weil er das Verrücktwerden in ein Entrücktwerden verwandelt. Dieser Glaube müsste aber bereits vor dem Verrücktwerden existieren, weil ich im Verrücktwerden die Unterscheidung von Wissen und Glauben verliere. Dass der zuvor existierende Glaube im Verrücktwerden weiter besteht, wäre ein Zeichen der Normalität. Der Glaube ist so stark, dass er selbst im Verrücktwerden nicht verloren geht, sondern »hilft«.
Warum kann ich nur um Glauben beten, nicht aber um Wissen? Weil ich für das Wissen immer selbst verantwortlich bin, für den Glauben hingegen nicht? Weil dem Wissen immer der Sündenfall, die Abkehr von der Einfalt der Unkenntnis, mit eingeschrieben ist? Oder weil sich die Handlung des Betens nur auf den Glauben beziehen kann, selbst wenn ich das Wissen suche? Bedeutet das »Geheimnis des Glaubens« vielleicht gerade das: »Du hast das Wissen gesucht und dadurch den Glauben gefunden«? Kann ich nur glauben, weil ich wissen wollte? Und weiter: Kann ich nur das Wissen wollen, nicht aber den Glauben? Lautet die Definition des Glaubens: Das, was nicht gewollt werden kann?
Ich meine plötzlich den banalen Satz aus dem Matthäus-Evangelium (»Sei getrost, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen«) bislang falsch verstanden zu haben, nämlich als eine Art des Lobes (»Weil du an mich geglaubt hast, wirst du von mir geheilt«), und jetzt richtig zu verstehen, nämlich als Hinweis auf das eigentliche Heilmittel (»Es ist nicht wichtig, dass du an mich oder an was auch immer geglaubt hast, es war dein Glaube selbst, der dich geheilt hat«).
Beim Verzücken im Vergleich zum Entzücken verhält es sich genau umgekehrt wie beim Verrücktwerden im Vergleich zum Entrücktwerden. Hier ist das Verzücken ein von außen auf mich einwirkender Vorgang, den ich passiv erleide, während das Entzücken aktiv vollzogen wird. Die Verzückung gehört zum Entrücktwerden, das Entzücken zum Verrücktwerden.
Mein vermeintlicher Wahnsinn zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass meine Wahrnehmung an Bedeutung verliert und meine Meinung an Bedeutung gewinnt. Ich schließe nicht mehr aus dem Wahrgenommenen auf eine mich umgebende Realität, sondern ich »weiß«, dass das, was ich wahrnehme, nicht real ist, sondern die Realität allein verbirgt. Was aber ist es, das ich wahrnehme? Letztlich nichts. Ich kann nicht mehr wahrnehmen, weil mein Meinen (oder ist es doch ein Fühlen?) meine Wahrnehmung so stark dominiert, dass dort nichts mehr ist. Ich nehme das Nichts wahr. Ich nehme also etwas wahr, was ich nicht wahrnehmen kann. Weil ich das Nichts nicht wahrnehmen kann, meine ich eine Scheibe vor mir zu sehen, die deshalb unheimlich ist, weil ich »weiß«, dass ich sie nur wahrnehme, weil ich das Nichts nicht wahrnehmen kann, weil ich »weiß«, dass diese Scheibe nicht existiert, obwohl ich sie dennoch sehe. Diese Scheibe ist nicht unheimlich, weil ich meine, dass sich etwas anderes hinter ihr verbirgt, sondern sie ist unheimlich, weil ich weiß, dass sich nichts (das Nichts) hinter ihr verbirgt, dass ich sie geschaffen habe, weil ich das Nichts nicht wahrnehmen kann. Ich meine verrückt zu werden, weil ich etwas wahrnehmen muss, von dem ich weiß, dass es nicht existiert.
Die existenzielle Verunsicherung, die sich als Angst verrückt zu werden ausdrückt, entsteht durch die Erkenntnis, dass ich in der Lage bin, das von mir Wahrgenommene selbst zu erschaffen. Wenn ich dazu in der Lage bin, muss ich meiner Wahrnehmung grundsätzlich misstrauen.
Und jetzt sehe ich auch den wesentlichen Unterschied im Verhalten des Neurotikers im Vergleich zum Psychotiker (jenseits der üblichen psychologischen Terminologie): Der Neurotiker versucht durch seine Handlungen die Psychose zu verhindern, er klammert sich an Abwehrhandlungen und Rituale, weil er keine Definition für die Psychose (den Wahnsinn) findet. Er kann das Nichts nicht ertragen, das ihm der Wahnsinn aufzuzwingen scheint (wahrscheinlich besteht der Wahnsinn ja nur aus genau diesem Gefühl, das Nichts aufgezwungen zu bekommen), weshalb er über diese Angst seine Rituale ausbreitet. Diese Rituale tragen deshalb oft ein auflösendes Moment in sich, das auf das Nichts hinweist (Anorexie, Waschzwang etc.) und es unbewusst herbeiruft.
Ich liege da und meine, mich nicht rühren zu können, obwohl ich mich rühren kann. Das Gefühl ist angenehm und unangenehm zugleich. Es hat etwas von einer Schwerelosigkeit. Wenn man aus einer großen Höhe hinabstürzt, kann man vielleicht auch für einen Moment spüren, wie angenehm es sein könnte, zu schweben, sobald man den Gedanken an den Tod verdrängt, und wahrscheinlich gelingt einem diese Verdrängung sogar noch wenige Sekunden, bevor der Tod eintritt, so gut haben wir diesen Vorgang, der wahrscheinlich Hunderte Male täglich unbewusst vollzogen wird, einstudiert. (Das Leben, seine Grundbedingung, seine Aufgabenstellung für uns, unsere Lebensaufgabe, besteht ja allein darin, den Tod zu verdrängen; selbst »dem Tod ins Auge schauen« heißt ja übersetzt nichts anderes als »leben«.) Ich stürze natürlich nicht in den Tod. Ich kann gar nicht irgendwohin stürzen, weil ich nicht irgendwohin denken kann.
Es gibt, neben dem Verlust der Raumwahrnehmung, auch keine Zeit mehr. Ich bin, kurz gesagt, meiner Apriori verlustig gegangen, doch weil man ihrer nicht verlustig gehen kann, werden in mir weiter Bilder und Abläufe produziert, sodass es so scheint, als gäbe es doch eine Zeit, gäbe es doch einen Raum. Aber diese Zeit ist gedacht, dieser Raum ist konstruiert. (Und ist es nicht vielleicht gerade das Wesen der Apriori, konstruiert zu sein, nur dass sie diese Konstruiertheit normalerweise verbergen?) Wie es kein Bild gibt und doch ein Bild, ein Ersatzbild, kein Gefühl und doch ein Gefühl, ein Ersatzgefühl. Ich bin so sehr daran gewöhnt, wahrzunehmen, zu fühlen, zu denken, dass dies alles mittlerweile auch ohne Voraussetzungen und Inhalte stattfinden kann. Vielleicht sind es Wiederholungen, die mir vorgespielt werden, ist diese Scheibe irgendein Gegenstand, den ich als Kind einmal gesehen habe. Vielleicht habe ich auch nur von ihm geträumt.
Ob die Natur tatsächlich einen horror vacui in sich trägt, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass meine Wahrnehmung durch einen horror vacui bestimmt ist. (Lieber irgendetwas wahrnehmen, sei es auch selbst zusammengebastelt und erfunden, als nichts wahrzunehmen. Weil ich dafür sogar bereit bin, die Grundsätze meiner Wahrnehmung aufzugeben, bin ich verrückt. Dieses Verrücktsein aber folgt natürlich einer eigenen Logik, nämlich dem Grundsatz des horror vacui: besser irgendwas als nichts. Um einen Wahnsinn zu »heilen«, müsste dieser Grundsatz, nach dem sich der Wahnsinnige richtet und dem er alle anderen Grundsätze opfert, herausgefunden werden.)
Definition des Wahnsinns: Ohne Apriori denken.
Ich habe keine Angst. Ich könnte auch meinen, nicht verrückt zu werden, sondern entrückt, und alles zu begreifen. Alles zu begreifen, weil es nichts zu begreifen gibt: weder Zeit noch Raum noch Gefühl noch Gedanken. Aber alles ist noch da. Und doch ist es gleichzeitig nicht da. Das, was da ist, ist vorgeschoben. Ein Ersatz. Das ist der Grund, weshalb nicht vielmehr Nichts ist: nicht, dass es das Nichts nicht gäbe, aber es ist nicht wahrnehmbar. Selbst dort, wo nichts ist, lasse ich unmittelbar etwas entstehen. Dieses Entstehen vollzieht sich so schnell, dass ich es selbst nicht bemerke. Oder ist dies ohnehin ein beständiger Vorgang, den ich jedoch allein im Verrücktwerden zu erkennen meine? Ich erkenne nicht nur die Leere hinter allem, sondern auch die Leere in dem allen, weil das, was angeblich ist, durch die Leere geschaffen wurde. Diese Erkenntnis kann ich aber nicht erkennen, sondern lediglich vermuten. Da ich diese Erkenntnis aber zu erkennen meine, befinde ich mich im Irrtum. Und weil ich diesen Irrtum für eine Erkenntnis halte, bin ich verrückt. Solange ich das aber feststellen kann, bin ich nicht verrückt. Doch auch dieser Gedanke ist nur vorgeschoben. Deshalb bin ich doch verrückt. Das »Vorschieben« und »Entstehen-Lassen« geht unablässig weiter. Alles geht weiter. Es ist alles wie immer. Man kann von außen nichts erkennen. Ich muss mich nur ruhig verhalten. Dann geht alles vorbei. Ich werde müde, schlafe ein und wache auf und alles ist vorbei. Es war wie ein Traum. Es war ein Traum. Alles ist wieder echt. Es ist aber nicht deshalb echt, weil es echt wäre, sondern weil ich – glücklicherweise – keine andere Wahl mehr habe, als es für echt zu halten.
Etwas »für wahr nehmen« heißt, keine andere Möglichkeit der Wahrnehmung zu haben. Deshalb laufen Diskussionen über Wahrheit in die Leere, weil man sich zuerst über die Wahrnehmung unterhalten müsste.
Ich bin fasziniert von dieser Freiheit des Unerträglichen. Alles ist gleichzeitig anwesend und abwesend, da und doch nicht da. Da und fort. Wenn ich sage, dass sich etwas vor das Unheimliche schiebt, so ist das nur der Versuch, etwas zu benennen. Tatsächlich schaue ich in eine Leere. Das Problem ist jedoch, dass ich Leere immer nur als Metapher verstehen kann, indem ich mir doch etwas darunter vorstelle, einen Abgrund etwa oder etwas Ähnliches. Selbst, wenn ich sage, ich bin mit dem Nichts konfrontiert, ist da immer noch etwas, weil »Nichts« und »Leere« gemeinhin nur Metaphern sind. Ich starre aber in keinen Abgrund oder etwas Ähnliches, vielmehr ist dort, wohin ich schaue, nichts, aber auf eine Art und Weise, dass ich auch meinen könnte, ich hätte mich versehen, oder hätte nicht die Fähigkeit zu sehen, oder wäre selbst nicht anwesend, um zu sehen. Natürlich bin ich anwesend, aber ich kann nicht unterscheiden, ob ich nichts sehe, weil es nichts zu sehen gibt, oder weil ich es nicht sehen kann. Ähnlich ist es mit dem Fühlen, vielleicht gibt es nichts zu fühlen, vielleicht fühle ich aber auch das Gefühl nicht.
Mir ist schwindlig, ich bin müde, ich spüre also doch etwas, und vielleicht ist es nur ein Irrtum, aus dem heraus ich meine, nichts zu spüren. Bestimmt sogar. Und doch ist es nicht nur ein Irrtum. Immer noch gibt es keine richtig fassbaren Bilder, es gibt Abstraktionen, organische Formen, als könnte ich in mein Inneres schauen und dort meine Blutgefäße und Organe sehen, eine tatsächliche Introspektion. Dazwischen, zu kurz, um sie zu erfassen, flackern Bilder wie Erinnerungen an Erinnerungen auf, als wollten sie markieren, dass es hier einmal etwas gegeben hat. Der Schwindel tritt nur auf, wenn ich bewusst versuche, das Apriori von Raum und Zeit wiederherzustellen.
Mir fällt mit einem Mal ein früherer Klassenkamerad ein, der in einem Heim sitzt und sich an nichts mehr erinnern kann. Dieser Gedanke führt mich zurück in die Realität. Die Realität ist immer die Realität der anderen. Das Andere muss da sein, sonst kann keine Realität entstehen. Die Setzung des Nicht-Ich schafft das Ich.
Kann ein Wahnsinn einen anderen verstecken? Kann ich mich mit anderen Problemen auseinandersetzen und beschäftigen, nicht um etwas zu lösen, sondern um mich abzulenken, damit ein anderer Wahnsinn sich unbemerkt in mir ausbreiten kann? Wie ein Tumor, der sich durch Schmerzlosigkeit auszeichnet, während mich der Körper mit irgendwelchen Zipperlein ablenkt. Wenn er das aber täte, wäre der Körper ja nicht nur mein Feind, sondern sein eigener Feind. Warum sollte ich mich selbst von meinem Wahnsinn ablenken? Geht es nicht vielleicht um eine Mischung aus Ernstnehmen und Nicht-Ernstnehmen? Es geht wieder einmal um die Frage der Unterscheidung. Und: Warum setzt gleichzeitig ein Gefühl der Entspannung ein, wenn ich doch befürchte, verrückt zu werden?
Was ist eine Imitation? Ich verstehe die Imitatio Christi, aber kann man Denken und Fühlen imitieren? (Mir kommt gerade das Wort imitieren seltsam vor, als müsste es intermitieren heißen.) Auf der einen Seite: etwas vorgeben, um es sein zu können, das heißt, man meint zu wissen, was man sein will, auf der anderen Seite etwas imitieren, weil man nicht weiß, was man sein soll.
Kann ich denken imitieren? Kann ich Sexualität imitieren? Eine Erektion imitieren, ohne zu begehren? Worin würden sich diese Erektionen von einer »wirklichen« Erektion unterscheiden? Das Schreiben lässt sich imitieren, ich kann vorgeben, etwas zu können, was ich nicht kann, und so lange Zitate nebeneinandersetzen, bis man meint, ich hätte etwas verstanden, aber das Denken selbst kann ich nicht imitieren, ich kann allerdings vorgeben, es zu tun. Ist Vorgeben immer nur für andere, Imitieren immer für einen selbst? Vorgeben nach außen gewandt, imitieren nach innen?
Dann ist das hier kein Schreiben, sondern Denken. Es kann nichts vorgeben und weiß nichts zu imitieren – selbst dort, wo es natürlich dennoch vorgibt und selbstverständlich auch imitiert.