Читать книгу Katathym Imaginative Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen - Franz Wienand - Страница 19
3.1 Imagination
ОглавлениеIm Gegensatz zur Visualisierung, die auf die optische Dimension beschränkt ist, und gedanklichen Vorstellungen, die der bewussten Kontrolle unterliegen, stellen Imaginationen »die Umsetzung von Erlebnisinhalten in psychische Vorstellungen von sinnlicher und real anmutender Qualität« dar. »Diese Definition schließt körperliche Empfindungen, Gefühle, Beziehungen und ganze Szenen ein. Imaginationen können sich auf Erinnerungen aus der Vergangenheit beziehen, auf Projektionen in die Zukunft und auf die aktuelle Gegenwart […] Voll entwickelte Imaginationen (zeichnen sich) dadurch aus, dass sie a) mehrere Sinnesqualitäten umfassen, b) farbig, plastisch und dreidimensional erscheinen, c) sich in einer räumlichen und zeitlichen Dimension entfalten und d) als bedeutsame Realität erlebt werden, die e) als eine innere und vorgestellte gleichwohl grundsätzlich von der äußeren Realität abgrenzbar bleibt.« (Ullmann, 2012a, S. 23f., Hervorh. im Org.). Der Imaginierende ist dabei wach und zeitlich und räumlich voll orientiert. Die inneren Bilder und Bildfolgen haben einen eigengesetzlichen Ablauf und unterliegen der willentlichen Beeinflussung nur sehr bedingt. Leuner (1985, S. 42) konstatiert: »Der Tagtraum operiert … auf zwei Bewußtseinsebenen gleichzeitig… Der eine Teil des Ichs operiert auf der Ebene des Bildbewußtseins, der andere auf der des Realbewußtseins.«
Die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, ist grundsätzlich jedem Menschen zugänglich, wie unsere Nachtträume zeigen. Dabei gibt es Unterschiede zwischen Menschen mit ausgeprägter Einbildungskraft, hoher künstlerischer oder visueller Begabung und mehr sachlich und rational orientierten Personen. Entsprechend gibt es Zwischenstufen zwischen bloßen Vorstellungen und voll entwickelten Imaginationen. Kindern etwa ab dem Vorschulalter, die dem magischen Denken noch näherstehen, fällt es im Allgemeinen leicht, Imaginationen ganzheitlich zu erleben. In der Latenz schränkt die Neigung zum rationalen Denken und zur Gefühlsabwehr vor allem bei Jungen die Bereitschaft zum Imaginieren nicht selten ein. Bei Jugendlichen spielen die sich festigende Persönlichkeitsstruktur und die Übertragungsbeziehung eine Rolle, vor allem zu Beginn der Therapie. Misstrauische und auf ihre Autonomie bedachte Jugendliche tun sich ebenso schwer mit der Versenkung in ihr Innenleben im Beisein eines anderen wie zwanghafte oder schizoide junge Menschen. Wer sich aber auf die KIP einlässt, wird mit zunehmender Übung und Vertrautheit immer lebendigere und differenziertere Imaginationen mit zunehmender emotionaler Berührtheit erleben.
Der Begriff Vorstellungskraft verweist auf die Verbindung von mentalen Vorstellungen mit körperlichen Vorgängen, die in der KIP in beide Richtungen genutzt wird: Imaginationen beeinflussen physische und physiologische Prozesse wie Entspannung und Erregung, was etwa Sportler im mentalen Training nutzen, und sie werden andererseits durch die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Körperwahrnehmung (Muskeltonus, Atmung, Herzschlag) gefördert, vertieft und gelenkt.
Mit der Anregung, sich etwas vorzustellen, wird im Patienten ein spielerischer, kreativer, gleichsam poetischer Prozess (von gr. ποίησις (poiesis), »das Handeln, Machen, das Verfertigen, das Dichten«, nach Liddell, H.G., Scott R., Jones, H.S., 1940) in Gang gesetzt, begleitet von einer Wendung nach innen und der Aktivierung der Vorstellungskraft oder Phantasie. Phantasie [von gr. φαίνειν (phainein) »sichtbar machen, in Erscheinung treten lassen«, (n. Liddell et al., 1940) ist laut Duden die »Fähigkeit, Gedächtnisinhalte zu neuen Vorstellungen zu verknüpfen«. Diese Definition verweist auf die neurobiologische Basis der Vorstellungskraft: Schon ohne therapeutische Einflussnahme ist »unser Gehirn […] unablässig neuronal aktiv und baut dabei geistige Inhalte auf, die im Zustand der Abschirmung äußerer Reize und einer damit einhergehenden Innenorientierung zu sensorischen Wahrnehmungen führen. […] Unter Bedingungen regressiverer Art reichert sich das innere Erleben um weitere Qualitäten an« (Ullmann, 2012a, S. 21).