Читать книгу Mit Köpfchen durch die Wand - Franziska K. Müller - Страница 11

Der Schluss zuerst

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In Davos verbrachte ich atemberaubende Jahre. Es war eine fantastische Zeit. Spass ohne Ende. Emotionen. Leidenschaft. Kein Bullshit-Zeugs. Wenig Blabla. Wir feierten grossartige Erfolge, mussten Rückschläge hinnehmen, kämpften weiter, gaben niemals auf. Es war alles dabei, was zum Leben gehört. Die Menschen, die Fans, das Publikum: Es war der geilste Job der Welt. Alles hat ein Ende, das ist der Lauf der Dinge, und doch war mein Rücktritt für viele eine Überraschung. Für mich nicht. Er kündigte sich an. Ich zog es zu lange durch. Für mich selbst, für die Mannschaft, die Fans, den Klub. Nach vielen Jahrzehnten auf der Überholspur war ich gesundheitlich angeschlagen, was ich damals aber nicht erkannte. Sonst hätte ich alles, was zu diesem Zeitpunkt nicht gut lief, frühzeitig thematisiert, korrigiert, das Ruder herumgerissen. Keine halben Sachen. Aus Fehlern lernen. Ohne Jammern sein Ding durchziehen, wieder Oberwasser gewinnen, durchstarten. So funktionierte ich immer, riss die Mannschaft und mich mit, motivierte uns zu Topleistungen. Doch meine damalige Energiekrise folgte eigenen Regeln, und anstatt darauf zu beharren, was ich bereits Monate zuvor für richtig gehalten und auch geäussert hatte, nämlich abzutreten und das Zepter zu übergeben, liess ich mich überreden, weiterzumachen. Die Aufgaben. Die Verantwortung. Natürlich analysierte ich mein Verhalten in der Zwischenzeit kritisch und weiss, dass ich mich durch viele Verpflichtungen absorbieren liess, den idealen Zeitpunkt für den Rücktritt verpasste.

Keine Laufbahn existiert ohne Rückschläge. Gerät man in unruhige Gewässer, benötigt man persönliche Stärke – aber auch Unterstützung durch das professionelle Umfeld. Wir verloren Zeit, es wurde versäumt, nach konstruktiven Lösungen zu suchen, damit die Saison erfolgreich hätte beendet werden können, die Übergabe geordnet verlaufen wäre. Wie auch immer: Der HC Davos schlitterte aus verschiedenen Gründen in eine temporäre Krise, die letzten zwölf Spiele wurden zu einem Desaster, wir liefen Gefahr, die Playoffs zu verpassen. Klar, wir standen zu diesem Zeitpunkt schlecht da, das änderte allerdings nichts an der grundsätzlichen Positionierung als Spitzenklub, und ähnliche Situationen hatte es auch in der Vergangenheit gegeben. Obwohl wir am Sonntag gegen die ZSC Lions als Sieger vom Eis gingen und damit die Aufwärtstendenz in den Auswärtsspielen im Hallenstadion mit einem 5 : 1 bestätigten, wusste ich zu diesem Zeitpunkt bereits mit Sicherheit, dass beendet werden musste, was nicht mehr gut war. Bei einem Meeting in Zürich am selben Abend besprach ich mit den Verantwortlichen die Situation und teilte ihnen meine Entscheidung mit. In der nächsten Nacht kontaktierte mich Heinz Saner, einer der Verwaltungsräte, und liess mich wissen, er sorge dafür, dass allfällige Widersacher unschädlich gemacht würden, wenn ich nur bliebe. Es war zu spät. Ich wollte nichts mehr verhindern. Seit dem Sommer war viel geschehen, und nach zweiundzwanzig Jahren Vollgasgeben fühlte ich mich legitimiert, den Stabwechsel definitiv zu vollziehen.

Am 27. November 2018 stand ich zum letzten Mal im Stadion, blickte in die leeren Ränge der Ostkurve, sah vor meinem geistigen Auge tausende von Fans. Zweiundzwanzig Jahre lang, vor allem aber in den vergangenen Monaten hatten sie mir gezeigt, was Stil und Anstand bedeuten. Das Ende sollte ohne Drama über die Bühne gehen. Ohne Lobhudelei, und auf eine pompöse Verabschiedung im Stadion legte und lege ich bis zum heutigen Tag keinen Wert. Ich trat vor die Mannschaft, schüttelte jedem kurz die Hand, sprach ein paar wenige Sätze, verwies auf Werte, die immer wichtig bleiben würden. Einige Spieler reagierten auf meinen Rücktritt überrascht. Von anderen wusste ich, dass sie in den vergangenen Wochen und Monaten opponiert und zur sportlichen Krise beigetragen hatten. Doch davon später.

Mein Büro war schnell geräumt. Mit dem fast leeren Karton unter dem Arm blickte ich ein letztes Mal in jenen Raum, in dem ich einen Teil meines Lebens verbracht hatte, und schloss die Tür hinter mir. Als ich auf den Parkplatz lief, war ich erleichtert, fühlte mich befreit, und gleichzeitig sind mit diesen letzten Stunden Schmerz und Enttäuschung verbunden. Ich stieg ins Auto, fuhr die kurze Strecke nach Hause, vorbei am Stadion, dem »Zuhause« des HCD, das so eng mit dessen Geschichte verbunden ist. Die Sanierung war bereits in vollem Gang. Die Neuordnung der Tribünen, das in der Wintersonne glänzende Dach, die verglasten Fassaden der Nordseite: Rechtzeitig auf das Hundert-Jahre-Jubiläum des HCD 2021 würde ein modernisiertes Schmuckstück dastehen, das auch den Gönnern zu verdanken ist, wie ich wusste. Die Unterstützung der Sponsoren sorgte auch dafür, dass Topspieler nach den Meistertiteln gehalten sowie junge »Rohdiamanten« verpflichtet werden konnten – aber auch der Hauptsitz des HC Davos mit Spielerunterkünften wurde durch Spenden ermöglicht, ebenso wie unzählige andere Projekte, die der Mannschaft und dem Klub zugutekamen. Die Pflege der Beziehungen zu jenen Menschen, die dem Klub in den vergangenen Jahren Millionen von Franken gespendet hatten, war eine meiner wichtigsten Aufgaben gewesen, die ich als Notwendigkeit, vor allem aber auch als Herzensangelegenheit bezeichnen möchte. Ich wusste: Wenn ich weg bin, werden diese Quellen glücklicherweise weiter sprudeln.

Um den Klub machte ich mir keinen Moment lang Sorgen. Der Schweizer Rekordmeister würde wie Phönix aus der Asche auferstehen und an die glorreichen Zeiten mit sechs Meistertiteln in meinen Jahren anknüpfen können, so war ich überzeugt. Der HCD ist und bleibt eine der besten Adressen im europäischen Eishockey. Den Siegerwillen, das wusste ich ebenfalls, würde die Mannschaft mit meinem Weggang nicht verlieren, denn das entsprechende Denken und Handeln hatte ich nachhaltig vermittelt und verankert, ebenso wie die hohe Intensität, mit der die Spieler auf dem Eis agieren.

Seit meinem Rücktritt beim HCD hatte ich mir keine Spiele mehr angesehen; das ergab sich einfach so, wohl auch weil mich andere Aufgaben und Herausforderungen begeisterten. Doch Ende 2020 wollte ich die Junioren-Weltmeisterschaft verfolgen, denn ich war neugierig, ob sich meine Vorahnung bestätigen würde, die mich bereits gegen das Ende meiner Aktivzeit beschlichen hatte, und tatsächlich: Die Schweiz muss aufpassen, dass sie in der Ausbildung nicht weiter an Terrain verliert. Nach dieser Erkenntnis wollte ich zu Beginn der NHL-Saison auch Joe Thornton wieder einmal spielen sehen, kaufte mir eine entsprechende App und verfolgte die Spiele live in der Nacht. Joe hatte genug Eiszeit, Toronto spielte gegen Montreal recht gut, flog aber in der ersten Runde raus. Weil ich die App hatte, schaute ich auch noch das Spiel Colorado Avalanche gegen Las Vegas. Die Vegas Golden Knights bekamen 7 : 1 auf die Kappe, kämpften aber wie die Löwen – ein vollgeiler Match. Die alte Begeisterung erfasste mich, und fortan verfolgte ich wieder alle NHL-Playoff-Spiele, die meine Meinung bestätigten: Eine gewisse Leidensfähigkeit ist eine Voraussetzung, um hochstehendes Eishockey zu spielen. Doch davon später.

Nach meinem Rücktritt setzte ich mich zu Hause auf den Balkon, blickte in die winterliche Natur und tat nichts. In den folgenden Tagen las ich SMS und Mails, die mich aus aller Welt erreichten. Bob Hartley meldete sich aus dem tiefen Russland. Der kanadische Toptrainer und mit den Colorado Avalanche Stanley-Cup-Gewinner sprach nur wenige Sätze. »Zweiundzwanzig Jahre. Unglaublich. Wahnsinnig. Das schafft sonst keiner. Gratulation!« Ich gab nur wenige kurze Medienstatements ab. Personenkult hasse ich, und vielleicht ist es diese bereits früh gezeigte Abneigung, die mich in der Öffentlichkeit zu einem seltenen Gesprächspartner machte, der allerdings nie ein Blatt vor den Mund nahm, sagte, was er dachte. Kurz nach meinem Rücktritt wollte ich mich zum Gewesenen nicht äussern, fühlte mich müde und kaputt. Ich genoss die Ruhe und das erste freie Wochenende seit langer Zeit. Der Umstand, dass sich mein Leben auf der Überholspur mit vielen Verpflichtungen und einem vollen Pensum von einem Tag auf den anderen komplett verändert hatte, bereitete mir auch in den folgenden Wochen keine Probleme. Das Thema Eishockey – so glaubte ich zumindest zu diesem Zeitpunkt – war abgeschlossen. Jemals wieder auf dem Eis zu stehen, ein Spiel zu verfolgen oder gar eine Mannschaft zu trainieren, schien unvorstellbar. Dachte ich an meine bisherigen Arbeitstage zurück, ergriff mich – auf dem Liegestuhl in der Wintersonne liegend – bereits Erstaunen, dass ich es überhaupt so lange durchgezogen hatte.

Nach ersten Telefonaten und Meetings war ich jeweils im Lauf des Morgens ins Büro gelangt und führte Einzelgespräche mit den Spielern. Danach standen diverse Trainings, gefolgt von weiteren Meetings und der Organisation von Spielerverträgen, auf dem Programm. Im letzten Jahr fuhr ich am Abend oft ins Unterland. Als Trainer, »Sportchef«, vor allem aber als Botschafter des Klubs nahm ich viele Aufgaben wahr, um die sich intern niemand riss, und oft wollten die Menschen einfach mich sehen und mit mir sprechen. In diesem Rahmen agierte ich frei und eigenständig, alles andere wäre unvorstellbar gewesen. Und natürlich sprach ich Entscheidungen mit dem Präsidenten ab, die im ersten Moment vielleicht nicht unbedingt Sinn machten, sich im Nachhinein aber oft als richtig erwiesen.

Spätnachts kehrte ich dann nach Davos zurück, Mitternacht war längst vorbei, und nach ein paar Stunden Schlaf erwachte ich erfrischt, aufgetankt, voller Energie und Drive gut gelaunt und in Vorfreude auf den neuen Tag. So verflogen die Tage und Nächte, und an den Wochenenden fanden die Spiele statt. Meine Energie war schon immer schier unerschöpflich gewesen. Sie war selbstverständlich für mich. Wenn andere längst am Boden lagen, fühlte ich mich noch immer zu allen Schandtaten bereit. Ich gebe Vollgas, bin ein Macher, liebe es, blitzschnell zu denken und zu handeln, verschiedene Aufgaben miteinander zu verbinden, Probleme zu lösen. Das alles entspricht mir einerseits persönlich, gehörte aber auch zu meinen Aufgaben beim HCD. Was andere als anstrengend, zu intensiv, als wahnsinnig qualifizierten, war für mich ein fantastischer und obergeiler Zustand, in dem ich mich optimal entfalten konnte.

Wer über zwanzig Jahre auf der Überholspur rast, immer topfit und endlos glücklich ist, verliert möglicherweise das Gefühl für die eigenen Limiten. Heute weiss ich: Bereits 2015 zeigten sich leichte Abnutzungserscheinungen. Die hundertfachen Carfahrten an die Spiele, die immer gleichen Schiedsrichter und Journalisten sowie tausend Routinen, die ich in- und auswendig kannte, begannen mich zu ermüden. Nach dem letzten Meistertitel unter meiner Fuchtel dachte ich kurz daran, abzutreten. Sich auf dem Gipfel des Erfolgs zu verabschieden, fällt auch anderen schwer. Doch ich ahnte bereits zu diesem Zeitpunkt: Würde ich nur einen Millimeter von meinem hohen Energielevel abweichen, ginge es bergab, und gleichzeitig spürte ich – es war eine Eingebung, nicht einmal ein zu Ende gebrachter Gedanke, ein Gefühl, das sofort wieder verflog –, dass diese ungezügelte Kraft, dieses Geschenk des Himmels eines Tages schwinden würde, denn unterdessen war ich fast sechzig Jahre alt. Viel später erinnerte ich mich an diese Episode: Ich begleitete einen Freund, der mit einer Energiekrise kämpfte, zu einer Untersuchung. Der Arzt blickte mich ernst an, sagte, er wisse, wer ich sei, und auch, dass ich mit überbordendem Enthusiasmus durchs Leben eile. Seine Worte, die mich damals erstaunten, lauteten: »Auch Sie kann es jederzeit treffen.«

Der Müdigkeit, die sich als leichter Verdruss geäussert hatte, stellte ich mich erfolgreich entgegen, und was folgte, war die allerbeste Saison ever. Fantastisch. Bei der erstmaligen Teilnahme an der Champions Hockey League in der Saison 2015/16 gelang es dem HCD, auf den internationalen Eisbahnen Spuren zu hinterlassen, wie die Zeitungen schrieben. Nach dem Gruppensieg eliminierte die junge Mannschaft Teams aus grossen Hockeynationen und verlor nur drei von zwölf Partien gegen Spitzenteams aus Tschechien, Finnland und Schweden. Leistungsmässig standen wir näher am Final, als es das 1 : 6-Halbfinal-Gesamtscore vermuten liess, und auch nach dem Ausscheiden durften wir uns nun nach Ansicht mancher Fachjournalisten zu den besten Mannschaften ausserhalb der National Hockey League (NHL) zählen. Glücklich, diese obergeile Zeit erlebt zu haben, machte ich weiter.

In diesem Sinn hatte ich es immer wieder geschafft, Talsohlen zu durchschreiten, persönlich, vor allem aber zusammen mit einer Mannschaft, die motiviert, aufgebaut und geführt werden wollte. Ich war der Fels in der Brandung, jene Vertrauensperson, die dem Einzelnen und der Gruppe in schwierigen Zeiten Kampfgeist und Selbstvertrauen vermitteln konnte – eine Aufgabe, die ich liebte. Und dank einem erweiterten Trainingsumfang zur richtigen Zeit rissen wir das Ruder oft genug herum, sprengten die Grenzen, wuchsen über uns selbst hinaus. Das Vermögen, in einer schlechten Phase Energie und Kraft zu mobilisieren, erfordert gute körperliche Voraussetzungen, vor allem aber charakterliche und mentale Stärke. Nicht nur den anderen, auch mir selbst forderte ich alles ab. Das entspricht meiner Persönlichkeit und meiner damaligen Überzeugung, dass sich jedes Down mit Disziplin und Arbeitswillen überwinden lässt.

Mit Köpfchen durch die Wand

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