Читать книгу Mit Köpfchen durch die Wand - Franziska K. Müller - Страница 16
Kindheit und erste Prägungen
ОглавлениеIch wuchs in St. Moritz auf. Es waren die späten 1950er-Jahre, und die Verhältnisse würde man nach heutigem Verständnis vermutlich bescheiden nennen. Bratwurst statt Filet. See statt Swimmingpool. Velo statt Auto. Wenn wir Kinder fernsehen wollten, mussten wir um Erlaubnis bitten. Zum Zvieri gab es einen Apfel und zwei Täfelchen Schokolade. Hat es geschadet? Sicher nicht. Meine Kindheit war gut. Sie hat mir die Angst genommen, nichts oder nur wenig zu besitzen, und in meinem ganzen Leben habe ich keine Entscheidung zugunsten des Geldes gefällt. Wie bereits erwähnt: Not macht erfinderisch, und als ich ein halbes Jahrhundert später und ohne goldenen Fallschirm das Ende beim HCD durchzog, weil es mir nicht mehr passte, erwies sich diese materielle Unabhängigkeit als unbezahlbarer Luxus. Wie auch immer: Mutter war Hausfrau, Vater Handwerker und im Dorf eine respektierte Persönlichkeit. Imposant. Gradlinig. Ehrlich. Liebevoll. Ein Vorbild. Die Werteskala, die ich in mir trage, verdanke ich den Eltern. Zusammengefasst: Mein Vater konnte knallhart sein, vergass die Menschlichkeit aber nicht und war kein Prinzipienreiter. Im Dorf nannten sie ihn »John Wayne«. Er wies tatsächlich frappante Ähnlichkeit mit dem amerikanischen Kinostar aus unzähligen Westernfilmen auf, war kernig, ein Ehrenmann. Er arbeitete viel, seine wichtigste Mission galt dem täglich gedeckten Tisch für unsere sechsköpfige Familie. Aber auch er war ein Wahnsinniger, ein Leidenschaftlicher, einer, der sich mit Haut und Haaren einer Sache verschrieben hatte.
In seinem Fall war es das Skispringen. Als technischer Delegierter bei der FIS, dem internationalen Skiverband, als Sprunglauf-Chef, Sprungrichter und Schanzenbauer trug er massgeblich dazu bei, dass diese Sportart aus ihrem stiefmütterlichen Dasein befreit wurde. Die erste Schneeschanze von St. Moritz wurde 1895 errichtet, 1926 folgte die komplett neu erbaute Olympiaschanze. Vaters Ehrgeiz galt dem Bau einer neuen Schanze – »der besten Schanze der Welt!«. Der ideale Winkel. Der schönste Schwung. Die Kälte des Schnees mass er mit dem Thermometer, damit ein perfekter weisser Teppich die Geschwindigkeit erhöhen und den Sprung erweitern würde. Während in den Anfangsjahren um die Jahrhundertwende Sprünge von dreissig oder vierzig Metern als Topleistungen galten, vervierfachten sich die Resultate der Skispringer später, was massgeblich dazu beitrug, dass der bisherige Randsport ins Scheinwerferlicht rückte, diese Disziplin populär und erfolgreich werden konnte. Bis ich Vaters Leistungen als Schanzenbauer und Sprungrichter verstehen und anerkennen konnte, dauerte es allerdings eine ganze Weile.
Vater forderte Anstand und eine gewisse Leidensfähigkeit: Egal, ob wir Kinder Fieber hatten oder sonst krank waren; das waren für ihn keine Gründe, um auf der faulen Haut zu liegen. Folgsamkeit war ein Thema. Bereits als Kind hasste ich bünzlige Vorschriften und sinnlose Regeln. Manchmal sah mein Vater darüber hinweg, bei anderen Gelegenheiten wurde ich bestraft. Ich wusste, dass ihm solche Aktionen Herzschmerz bereiteten, während Mutter mich nach manchen Missetaten vor der Haustür in Empfang nahm, mir eine abgebremste Pro-forma-Ohrfeige erteilte, weil dies dem allgemeinen Erziehungskonsens jener Jahre entsprach, um mir Minuten später über den Kopf zu streichen und das Abendessen auf den Tisch zu stellen.
Mein Vater suchte meist das Gespräch, liess mich Stellung beziehen, zeigte mir Fehler in der Denkweise auf. Erst später erkannte ich, dass er mir auf seine Art Eigenständigkeit zugestand. An eine Episode in diesem Zusammenhang erinnere ich mich besonders gut: Wir mussten jeden Sonntag in die Kirche, mein Vater kam immer zu spät, und wie ich aus den Augenwinkeln beobachten konnte, verliess er die Kirche auch früher als alle anderen. Ich sprach ihn darauf an – für mich war klar, dass wir den Gottesdienst vor allem besuchten, weil es vom konservativen Umfeld erwartet wurde. Er gab mir recht, mehr sagte er dazu nicht, nahm jedoch kommentarlos zur Kenntnis, dass ich bei künftigen Kirchenbesuchen ebenfalls zu spät erschien und früher ging.
Seine Ansprüche an mich waren hoch, aber offenbar war er auch der Überzeugung, dass ich alles schaffen konnte. Die Voraussetzung dafür lag im Verantwortungsbewusstsein. Vor allem wenn ich über die Stränge geschlagen hatte, forderte er doppelt so viel Disziplin in der Erledigung anstehender Aufgaben. Der Umstand, dass ich Freiheiten genoss, jedoch auch die Bereitschaft zeigen musste, Konsequenzen zu tragen und Fehler zu korrigieren, prägte auch meine spätere Tätigkeit. Ehrlichkeit und Integrität standen in der Kindheit an oberster Stelle; die Wahrheit sagen, keine Ausflüchte und Ausreden suchen. Das alles und auch einen harten Arbeitswillen lebte mir mein Vater vor. Leidenschaft kann man nicht erlernen, und viel später erkannte ich, dass er mir diese wichtigste Eigenschaft als Geschenk vererbt hatte.