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6. Kapitel

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1924 Presseclub im Restaurant »Falkennest«

Eine Gruppe Zeitungsreporter traf wie üblich im »Falkennest« zusammen.

Einem kleinen, sauberen Restaurant in der Nähe des Bahnhofs, dessen Wirtin einen soliden Eindruck machte und für jeden Gast ein freundliches Wort hatte.

Schnell kam das Gespräch auf den Schädelfund in der Leine.

»Heute haben sie wieder einen gefunden. An der Brückmühle! Wieder mit ein paar Halswirbeln dran.« Ahab, der ein Holzbein hatte, hieß im wahren Leben Franz Kraus.

»Ja, das habe ich auch gehört! Und es soll sich um zwei Selbstmörder handeln. Bei der Zersetzung geht der Schädel schon mal verloren«, wusste ein anderer.

»Ne! So ist das nicht. Es waren ja an beiden noch Halswirbel! Da hat sich nichts gelöst. Und meine Quelle bei der Polizei erzählte mir, die Wirbelsäule sei im Nacken scharf durchtrennt worden. Dekapitieren sich selbst! Komische Selbstmörder dieser Tage, was?«, lachte der Pirat rau und ließ das Gummiband seiner Augenklappe gegen die Schläfe schnalzen.

»Ach Gustav, was bist du zynisch! So werden es wohl Unfallopfer sein.«

»Was soll das denn für ein Unfall gewesen sein? Arbeiteten beide für Carl Gröpler und wurden beim Putzen des Richtblocks vom heruntersausenden Fallbeil überrascht?«, lachte der Pirat Gustav Kieslinger kehlig. »Montag der Erste, dann der, den man damit beauftragt hatte, die Schweinerei zu beseitigen!«

»Also wirklich, das ist jetzt aber richtig geschmacklos!«, beschwerte sich Richard Schulz und der Pirat versuchte dem Kollegen in das Auge zu sehen, das nicht aus Glas war. Schwere Entscheidung.

»Na, müssen ja keine Selbstmörder gewesen sein«, bemühte sich Alfred Schubert um ein Glätten der Wogen. »Mein Bekannter bei der Polizei meint, es könnten auch Typhusopfer sein. Oder freigespülte Leichenteile aus dem überschwemmten Friedhof.« Hans zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche. »Hier, ich hab’s mir aufgeschrieben.«

»Ich hab gehört, es könnte sich auch um einen Scherz der Studentenschaft in Göttingen handeln. Frisch aus dem Sektionssaal in die Leine. Aber das weiß natürlich auch niemand genau. Man zählt wohl gerade nach, ob noch alle da sind«, wusste Ahab. »Gerüchte sind in diesen Zeiten wohlfeil.«

»Na, das wäre aber ein wirklich grober Scherz!«

»Sicher. Aber man weiß doch, wie die Studenten so sind. Gaudeamus igitur!« Der Pirat zog wieder am Gummiband.

»Kannst du das bitte mal lassen? Das macht mich ganz nervös.« Alfreds Stimme klang gereizt.

»Das beschleunigt das Denken. Solltest du bei dir auch mal versuchen! Kannst ja probeweise einfach mit dem Finger gegen die Schläfe schnippen, dir geht das Band ja ab«, grinste Gustav hämisch.

»Die Leute auf der Straße sind beunruhigt. Einige munkeln von Mord. Behaupten, in Hannover gäbe es Menschenfallen, in denen junge Leute gefangen werden. Weil so viele vermisst werden.«

»Und nun haben alle Mordbuben in der Gegend sich darauf verständigt, ihre Opfer in die Leine zu werfen?« Richard zeigte dem Sprecher einen Vogel.

»Ach, was für ein dummes Geschwätz. Hannover ist nun mal eine Stadt, die Kriminalität anzieht. Hier sammelt sich viel lichtscheues Gesindel. Sobald die Polizei zu nahe ran rückt, tauchen die Halunken ab und sind eben verschwunden.«

»Gestern war ein Vater bei mir, der seinen Sohn sucht. Er war bei der Polizei, hat eine Vermisstenmeldung gemacht, aber er hat nicht den Eindruck, jemand kümmere sich ernsthaft darum.« Gustav sprach plötzlich leise. »Ist schon schlimm genug, wenn dir der Sohn abhandenkommt. Aber wenn du dann auch noch denken musst, dass das so gar niemanden interessiert, nicht einmal die, die man von Staats wegen fürs Suchen bezahlt, ist es besonders schlimm. Der Mann war so verzweifelt. Sein Junge hat vielleicht als Puppenjunge ›gearbeitet‹, das hat man ihm jedenfalls hinter dem ›Kröpke‹ erzählt. Nun ist er ratlos.«

»Ist doch kein Wunder, dass sich so viele junge Männer von ihren Familien absetzen. In den Kriegsjahren waren alle anderweitig beschäftigt, erzieherisch wurde viel versäumt, und viele Eltern hatten auch einfach nicht mehr die Kraft, sich gegen jugendliches Ungestüm durchzusetzen. Die Knaben haben Oberwasser, trauen sich alles, sind leichtsinnig, viele auch arbeitsscheu, sie suchen Freiheit.«

»Gestern habe ich einen getroffen, der erzählte mir, er wolle zur See fahren. Von Hannover aus?, habe ich den gefragt. Die jungen Leute lernen in der Schule nicht richtig, und vom eigenen Land haben sie schon gar keine Vorstellung! Aber nein, der wollte weiter nach Hamburg. Sind nicht alle arbeitsscheu. Enttäuscht scheinen sie mir. Ich habe manchmal den Eindruck, dass hier eine durch und durch deprimierte Generation heranwächst.«

»Meine Schwester nennt das anders: faul! Arbeitsscheu und faul! Das scheint zumindest in Bezug auf meinen Neffen und seine Freunde zuzutreffen.«

»Ist doch schwierig in diesen Zeiten. Wann immer du etwas möchtest, ist es entweder nicht zu bekommen oder zu teuer. Da könnte der eine oder andere schon den Eindruck gewinnen, Verbrechen lohne sich durchaus und bringt schneller was ein als harte Arbeit.«

»Was, wenn wirklich ein Mörder in der Stadt sein Unwesen treibt? Wir warnen in der morgigen Ausgabe. Eltern sollen ihre Kinder besser beaufsichtigen, die Bewohner der Stadt verdächtige Vorkommnisse oder Beobachtungen sofort melden, die Polizei soll den Vermisstenanzeigen nachgehen!«

»Das sind aber verflixt viele soll und sollen. Wenn du da mal nicht aus dem Blick verlierst, dass so manche Eltern durchaus froh sind, wenn das eine oder andere Familienmitglied nicht mehr am Tisch Platz nimmt. Die werden das bei der Polizei gar nicht anzeigen.«

»Schon möglich. Selbst für die, denen es nicht an Geld fehlt, ist es schwierig genug, überhaupt einzukaufen, um alle Mäuler zu stopfen. Man läuft ja über Stunden herum, nur um eine Mahlzeit zu sichern!«

»Nun ja …«, druckste Ahab rum und murmelte dann leise, »es gibt schon einige Quellen.«

»Illegal!«

»Was ist daran illegal, wenn es doch in den normalen Läden gar keine Ware gibt! Sollen wir nun alle Hungers krepieren? Manchmal kommt es mir vor, als interessiere es niemanden mehr, ob der normale Bürger überhaupt noch überleben kann!«, echauffierte sich Richard, von dem man einen solchen Kommentar nicht erwartet hätte. »Da muss man eben dort kaufen, wo es was gibt!«

»Gemüse vielleicht, Altkleider – aber Fleisch? Im Moment kommt es mir so vor, als würde so ziemlich alles vertilgt, was essbar aussieht. Ratten sicher auch. Oder am Ende hat jemand Nachbars Katze verwurstet. Miezi, die ich immer so gern gestreichelt habe. Nein! Das ist hohes Risiko!«

»Oder Menschenfleisch. Dann verputzt du zum Abendessen einen der verschwundenen Jünglinge und trägst so dazu bei, dass man ihn nie finden wird.« Der Pirat lachte scharf auf, als er in lauter entsetzte Gesichter sah.

»Du denkst ja wirklich völlig pervers!«, beschwerte sich Hans Meister.

»Na, nun mal ehrlich: Wenn bei mir mal Fleisch auf dem Teller oder in der Suppe ist, dann quatscht das nicht mehr! Woher soll ich dann wissen, wes Fleisch da zwischen den Möhrenstückchen schwimmt?«, gab Gustav grinsend zurück.

»Gut. Es reicht jetzt!«, beendete Richard das unappetitliche und durchaus beängstigende Gespräch.

»Habt ihr das auch gehört?«, schaltete sich Ahab ein. »Hannover ist inzwischen zu der Stadt für Diebe, Hehler, Einbrecher und anderes zwielichtiges oder lichtscheues Gesindel avanciert. Am Ende zieht dir hier einer mit dem Totschläger über den Scheitel, nur weil er neue Schuhe braucht, und deine so schön sauber sind.« Richard warf Ahab einen dankbaren Blick zu und stieg bereitwillig in das neue Thema ein.

»Du übertreibst mal wieder maßlos!«

»Wir kommen jedenfalls morgen auf Seite 1 damit raus, dass die Menschen sich sorgen. Spielende Kinder finden bei uns normalerweise keine blanken Schädel beim Toben an der Leine«, stellte Richard klar.

Der Pirat schmunzelte. »Nun, so ganz blank sollen sie auch gar nicht gewesen sein …«

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