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7. Kapitel

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1924 im Juni

Ludwig stapelte auf dem Bett, was er brauchen würde.

Packte nur ein, was er für notwendig hielt.

Viel war es nicht.

Sie planten eine Zweiwochentour – und sicher gäbe es unterwegs die eine oder andere Gelegenheit, Wäsche zu waschen.

Plötzlich stand seine Mutter in der Tür.

Sie lächelte verlegen, hielt die Hände hinter dem Rücken verborgen.

»Nun, Mutter? Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Sohn und huschte einen zarten Kuss auf ihre Wange.

»Ach Ludwig – wie wird mir die Zeit lang werden ohne dich. Niemand hier, der sich am Abend zu mir setzt und sich mit mir unterhält – oder wohlig mit mir schweigt.«

»Ach! Wir sind nach so kurzer Zeit wieder zurück, da fällt Ihnen gar nicht auf, dass ich weg bin.« Tröstend strich Ludwig, der die Mutter um anderthalb Köpfe überragte, über ihre faltige Wange.

»Sieh mal«, freute sich die Mutter und zog hervor, was sie bisher versteckt gehalten hatte. »Ich dachte, falls du irgendwo ausgehen möchtest. Da brauchst du doch was Anständiges!« Mit erwartungsvoller Miene sah sie ihn an.

Ludwig war im ersten Moment sprachlos. Als er sich gefangen hatte, keuchte er: »Aber das sollten Sie nicht!«, und schlüpfte schon voller Begeisterung in Weste und Jacke, strich mit den Fingern über den angenehm weichen Stoff. »Ist das schön! Das muss Sie ja ein Vermögen gekostet haben! Und so schnell fertig! Vielen Dank!« Stürmisch umarmte er die Mutter.

»So gefällt dir der Anzug! Da bin ich sehr froh. Eigentlich solltest du ihn zum Studienbeginn bekommen, aber ich denke, du könntest schon früher Bedarf haben.« Lächelnd reichte sie ihm auch die Hose und verließ das Zimmer.

Rasch schlüpfte Ludwig hinein.

Präsentierte sich dann in der Küche.

»Prachtbursche!«, kommentierte der Vater zufrieden. Und steckte für beide Männer eine Zigarre an. »Die Weibsleute werden dir nur so nachstellen. Komm mit!«

Das Gespräch unter Männern fand draußen im Garten auf einer Bank statt.

Ludwig unterdrückte ein Grinsen, als er dem alten Arzt zuhörte, der ihn über gute Umgangsformen aufzuklären versuchte.

»Die jungen Damen, weißt du. Wenn sie zu nett sind, ist Vorsicht geboten. Früher gab es Dirnen ja nur in der Stadt, aber heutzutage können sie überall arglosen Männern auflauern. Und diese Frauen, die tragen Krankheiten in sich, die man am Ende gar nicht mehr ablegen kann und die selbst die nachfolgenden Generationen noch treffen.«

Ludwig versprach, vorsichtig zu sein.

Er sah zur Sonne auf, nahm einen kräftigen Zug an der Zigarre und freute sich auf die unbeobachtete Zeit mit Theo.

Theo selbst ordnete ebenfalls sein Gepäck.

Mit Ludwig war bereits abgesprochen, wie viel unbedingt gebraucht würde. Zufrieden betrachtete er die schmale Auslage auf dem Tisch. Das würde problemlos Platz in Tornister und Fahrradkorb finden.

Als es klopfte, sah er überrascht auf.

»Vater! Sie sollten doch nicht die enge Stiege heraufkommen. Das tut Ihrem Rücken nicht gut.«

»Das lass mal meine Sorge sein. Der Rücken wird sich fügen müssen. Er wird mir helfen, in den kommenden Tagen für zwei zu arbeiten!«, knurrte der Schreiner.

»Ja«, antwortete Theo kleinlaut. »Ich weiß, es wird Ihnen nicht leichtfallen. Aber wenn wir zurück sind, können Sie sich schonen. So viele Aufträge stehen nicht im Buch, vielleicht kann der eine oder andere Kunde ja auch noch warten.«

»Es war ja kein Vorwurf! Ich gönne dir den Ausflug mit dem Freund. Mit Ludwig hast du einen guten Jungen zur Seite, der keine Dummheiten planen wird. Hoffe ich jedenfalls«, setzte er dann hinzu und keckerte wie ein wütendes Eichhörnchen.

»Ludwig ist kein Wirrkopf – war er nie. Er will studieren!«

»Theodor, ich möchte, dass du dies hier annimmst!« Damit zog der Vater ein kleines Paket hervor, das er vor der Tür abgestellt hatte. »Ich dachte, vielleicht kannst du es brauchen!«

Mit bebenden Fingern zog der Sohn die Verschnürung auf. Starrte auf den Anzug, den er ausgepackt hatte.

»Vater! Der muss Sie viel Geld gekostet haben! Er … ist wunderbar!«

»So probiere ihn an. Im Leben eines jungen Mannes kann es unverhofft zu Situationen kommen, in denen er einen guten Anzug brauchen kann.«

Flugs zog Theo sich um.

»Perfekt! Der Werner hat ihn mit Liebe für dich geschneidert. Und das sieht man ihm auch an. Hier!« Er warf dem überraschten jungen Mann einen Wollschal zu. »Den hat deine Mutter gestrickt, Stulpen auch. Passt alles genau zum Anzug. Eigentlich solltest du das bekommen, wenn du als Nachfolger den Betrieb übernimmst. Aber deine Mutter … naja. Anfang Juni kann es manchmal noch sehr frisch sein.«

Theos Augen brannten.

Jetzt bloß nicht heulen!, ermahnte er sich, bloß nicht!

Nachts, als alles ganz still geworden war, lag Theo noch lange wach. Sah durch das kleine Fenster in die Dunkelheit hinaus. Träumte sich an die Leine. Es wird toll, wusste er.

Wir beide, Ludwig und ich, werden eine richtig gute Zeit haben, dachte er glücklich.

Sie trafen sich am nächsten Morgen, lachten fröhlich als sie entdeckten, dass beide Eltern sie ausgehfein gemacht hatten. Für den Fall der Fälle. Weil man ja nie wusste, in welche Situation ein Mann in ihrem Alter kommen konnte, und ein Anzug war schließlich immer die richtige Kleidung zu jedwedem Anlass.

»Nun müssen wir den auch noch einpacken!«

»Und gut einpacken. Der darf ja keinen Schaden nehmen! Stell dir das Gezeter vor, wenn wir zurückkommen, den Anzug nicht getragen haben und er dennoch Löcher zeigt!«

»Oder Stockflecken! Unvorstellbar!«

Ludwig nahm eine Karte aus der Tasche und skizzierte den Weg, den sie ab morgen fahren würden.

»Es bleibt bei morgen Früh? Gleich nach dem Frühstück?«, fragte er, und Theo nickte eifrig.

»Ich habe schon so gut wie alles beisammen. Proviant kriegen wir auch. Meine Mutter war um Mehl gegangen und hat uns Brot gebacken. Mhmmmm. Das hat geduftet!«

»Mehl?«

»Na ja, vom Schleichmarkt. Das Land bietet immer Möglichkeiten.«

Ludwig nickte verstehend. »Ist schon schlimm, dass unbescholtene Leute so einkaufen gehen müssen! Menschen, die sich ihr ganzes bisheriges Leben nie gegen das Gesetz verhalten haben, sind nun dazu gezwungen, nur um überleben zu können. Eine Verrohung der Gesellschaft, schimpft mein Vater.«

»Hat er ja nicht ganz unrecht, dein Vater! Man muss ja nur in die Zeitung schauen. Da gewinnt man den Eindruck, es sei nachgerade lebensgefährlich, auch nur durch eine Stadt zu gehen. Hier auf dem Land erscheint es noch erträglich. Aber in Hannover zum Beispiel, da schlagen sie dich nieder und rauben alles, was sie wegtragen können. Banden beherrschen ganze Viertel. Ungemütlich!« Theo unterstrich gestenreich seinen Bericht, und Ludwig konnte ein Grinsen nicht verkneifen. »Na, stimmt doch!«, setzte Theo hinzu. »Und man kann froh sein, wenn sie einen nicht zum Krüppel prügeln.« Der Sohn des Schreiners hatte von jeher ein eher ängstliches Naturell.

Ludwig nickte. »Hast ja recht. Die Krise bringt das Schlechte im Menschen an den Tag. Gier heißt die Triebfeder – und damit das nicht so auffällt, nennen die Leute es Not. Rechtfertigen damit ihr schlechtes Handeln.«

»Meinst du?«

»Ja! Sie nehmen mehr, als sie brauchen. Die Preise auf dem Schleichmarkt steigen. Mein Vater meint, es wird noch zu Mord und Totschlag kommen um eine Scheibe Brot. Und ganz ehrlich, selbst wenn sie dich ›nur‹ zum Krüppel schlagen, dann nehmen sie dir jede Zukunft. Und die kann dir nie jemand ersetzen.«

»Naja. Über die Zukunft haben wir ja schon gesprochen«, seufzte der Freund. Er zog einen Zettel aus der Tasche seiner Hose, strich ihn notdürftig glatt. »Hier habe ich mir aufgeschrieben, was ich auf gar keinen Fall vergessen darf.«

»Ach, Salami?«, las Ludwig vor und kicherte albern wie ein Pennäler. »Isst du die so gern?«

»Salami? Quatsch. Das heißt Socken! Die habe ich noch nicht eingepackt, die hingen noch zum Trocknen auf der Leine.«

»Oh, die Leine. Du weißt ja auch von den Schädeln, oder? Hannover ist, schon der Lage wegen, ein Zentrum für Kriminelle aller Couleur. Ein Freund meines Vaters arbeitet beim Sittendezernat. Und der schreibt von ganzen Vierteln voller Dirnen, Zuhältern und Homosexuellen. Eines heißt wohl ›Insel‹ oder ›Klein Venedig‹. Was für eine Bezeichnung! Klingt doch völlig harmlos, oder? Die Polizei hat in einigen Bereichen der Stadt die Lage offensichtlich nicht mehr unter Kontrolle.«

»Meine Mutter hat auch schon gejammert, wir sollten doch lieber nicht bis Hannover fahren. Die Stadt auf jeden Fall meiden. Ein gefährliches Pflaster, sagt sie.«

»Ich weiß. Ich musste ihr vorhin versprechen, dass wir uns fernhalten. So weit wie möglich. Denn wenn wir mit dem Zug von dort aus zurückfahren wollen, müssen wir ja zumindest bis zum Bahnhof«, grinste Ludwig breit. »Das werden wir ja noch überleben! Immerhin sind wir zu zweit, können einander im Auge behalten.«

»Bloß nicht in Gefahr begeben … Wahlspruch meines Vaters. Hat ihn nicht vor dem Sturz bewahrt.«

»Nun, alles hat man eben nicht im Griff. Eisglätte. Das war richtig Pech.« Er warf dem Freund einen schnellen Seitenblick zu, beobachtete, wie sich dessen Miene verhärtete. »Für ihn wie für dich!«

Sie schwiegen.

Gute Laune und Vorfreude schienen sich vollständig aufgelöst zu haben.

»Gut. Lassen wir das. So: Hier sind wir. Wir können unsere Pausenplätze nach Laune und Wetter festlegen. Bis Hannover ist es sooo weit nicht. Vielleicht starten wir flott, genießen dann ein bisschen und beeilen uns am Ende auf dem letzten Stück noch einmal richtig. Nehmen dann den Zug ab Hannover. Oder wir bummeln nur ganz gemütlich bis kurz nach Göttingen, machen kehrt und fahren mit dem Rad zurück.«

Schnell kehrte das Reisefieber wieder ein, und schon bald brüteten sie mit geröteten Wangen über dem Plan, überlegten, wie sie das Gepäck, das sich nun deutlich erweitert hatte, unterbringen würden.

»Wir nehmen den Hund vom alten Jochen mit. Der kriegt Satteltaschen und trägt den Proviant!«, lautete ein kichernd gemachter Vorschlag.

»Klar, und der türmt dann mit den ganzen leckeren Sachen!«

»Vielleicht habe ich da noch eine andere Idee. Es gab da mal einen Anhänger mit langer Deichsel, extra, um die an einem Rad zu befestigen. Wenn der noch hinten im Schuppen steht …«

Es wird ein kleines, aber sicher wunderbares, unvergessliches Abenteuer, versicherte sich Theo in Gedanken. Eine Reise, an die wir noch in Jahren zurückdenken werden.

Der Werwolf von Hannover - Fritz Haarmann

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