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Micha Brumlik Vorwort

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Die jüdischen Wege ins deutsche Bürgertum waren – wie die Historikerin Simone Lässig gezeigt hat – nicht zuletzt durch die Aneignung kulturellen Kapitals gekennzeichnet: die Übernahme eines bestimmten Habitus, den Erwerb kultureller Kenntnisse sowie die Aneignung institutioneller, etwa akademischer Titel. Kulturell gesehen, war das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich protestantisch geprägt: die an den Universitäten gelehrte Philosophie stand in der Schuld von Kant, Fichte, Schelling und Hegel, das Musikleben im Zeichen der Klassik von Bach und Beethoven, der Protestantismus selbst stand allemal und immer wieder im Banne Martin Luthers, seiner stets politischen Theologie und – nicht zuletzt – seiner Bibelübersetzung.

Franz Rosenzweig, 1886 in Kassel als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie geboren, spielte lange mit dem Gedanken, ebenso wie viele seiner Freunde und Verwandten zum protestantischen Christentum überzutreten, um sich dann 1913 doch dafür zu entscheiden, Jude zu bleiben. Sein 1926, drei Jahre vor seinem Tod verfasster Aufsatz „Die Schrift und Luther“ ist eines der deutlichsten, wenn nicht das deutlichste Zeugnis jener Kultur, die das deutsche Judentum wähnte, dem Protestantismus zu schulden.

Das ist Grund genug, im fünfhundertsten Jahr von Luthers Bekanntgabe seiner Thesen jener beispielhaften Aneignung protestantischer Kultur durch einen deutschen Juden zu gedenken. Der vorliegende Band beleuchtet dies aus unterschiedlichsten, einander allemal ergänzenden Perspektiven.

Den Anfang macht Walter Homolkas luzide Übersicht der jüdischen Rezeption Luthers vom 19. Jahrhundert bis in die ersten Jahre des Dritten Reiches. Dem folgt mein eigener Versuch, in Rosenzweigs Text sein Oszillieren zwischen jüdischem Universalismus und nie gekündigtem deutschen Nationalismus zu verdeutlichen. Der allemal auch philosophisch bedeutsamen Problematik der Kunst des Übersetzens gelten die Beiträge von Irmela von der Lühe und Elisa Klapheck. Während Irmela von der Lühe am Text Rosenzweigs die grundsätzliche Spannung zwischen Philologie und Religion untersucht, betrachtet Elisa Klapheck als jüdische Theologin beide, Rosenzweig und Luther vor der Tradition der rabbinischen Übersetzungkunst, des „Targums“. Demgegenüber geht Klaus Wengst aus der Perspektive des evangelischen Theologen dem Problem nach, ob und wie Luther mit Rosenzweig auch gegen dessen Antijudaismus gelesen werden könnte. Gesine Palmer, die sich schon früher kritisch mit Rosenzweigs negativer Haltung zum Islam auseinandergesetzt hat, erwägt in ihrem Beitrag, ob aus Rosenzweigs Theorie der Übersetzung, also der „Vermählung zweier Sprachgeister“, Anhaltspunkte für eine neue, deutsche Übersetzung des Korans zu gewinnen wären. Christoph Kastens Beitrag erinnert an ein zu Unrecht vergessenes Kapitel deutsch-jüdischer Intellektualgeschichte. Indem sich Kasten der Kritik von Siegfried Kracauer – eines Mitstreiters und Freundes von Adorno – an Bubers und Rosenzweigs Bibelübersetzung widmet, wird deutlich, wie und warum etwa Adorno in seinem „Jargon der Eigentlicheit“ den in den 1950er Jahren so hochgeschätzten Martin Buber in Grund und Boden kritisieren konnte. Beiden, den nicht nur von Kracauer, sondern auch von protestantischen Theologen kritisierten Autoren, Buber und Rosenzweig gilt der abschließende Beitrag Christian Wieses, der mit Leo Baeck auf die bleibende Bedeutung der Hebräischen Bibel für das Christentum und damit auf die theologische und auch politische Bedeutung von beider Bibelübersetzung hinweist.

Es war kein geringerer als Gershom Scholem, der im Jahr 1961 Bubers und Rosenzweigs Übersetzung als „Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschenen Beziehung“, nämlich von Juden und Deutschen würdigte. Franz Rosenzweigs Versuch über Luthers Bibelübersetzung ging diesem Grauen voraus – ob aus ihr nach dem Holocaust mehr als nur Resignation folgt, wollen wir in diesem vorliegenden Band erkunden.

Berlin, im Januar 2017

Luther, Rosenzweig und die Schrift

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