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1. Chicago Blues
ОглавлениеDas Touristenbüro teilt mir mit, in Chicago seien erfunden worden: die Rollerskates (1884), die Stahlskelett-Bauweise für Hochhäuser – also Wolkenkratzer (1885), das erste Gebäude dieser Art war neun Stockwerke hoch! –, der Fensterbriefumschlag (1902), die Farbsprühdose (späte 40er Jahre), das erste McDonalds-Restaurant (1955). Auch so etwas charakterisiert eine Stadt. Aber nun etwas ernsthafter:
Man hat Chicago eine Stadt genannt, die sein musste. Das bezieht sich auf ihre günstige Lage zwischen der Prärie, den Großen Seen und dem Chicago River. Hier sammelte sich am Ende der Eiszeit genügend Gletscherschutt, um eine Wasserscheide zwischen dem System der Großen Seen, dem St. Lorenz-Strom und dem Mississippi zu schaffen. Chicago entstand an einer Route vom Lake Erie in Kanada zum Mississippi, die schon die Indianer benutzten, noch ehe die Weißen kamen. Der Frankokanadier Louis Joliet und Pater Jacques Marquette, die 1673 den sogenannten Chicago-Portage überquerten, erkannten die Möglichkeit, an diesem zentralen Punkt Transportwege kreuzen zu lassen. Und dann kam der Trapper Jean Baptiste Point DuSable, ein Mann afro-kanadisch-französischer Abstammung, und gründete hier den ersten Handelsposten. 1833 zählte die kleine Siedlung am Chicago River gerade 300 Einwohner, und von diesem Jahr an hieß sie dann Chicago. Sie wurde rasch zum Verbindungspunkt zwischen den landwirtschaftlich erschlossenen Gebieten des »Wilden Westens« und dem zivilisierten, bereits weiter entwickelten Osten. Durch einen Kanal, der 1848 entstand, gab es nun einen inländischen Wasserweg zwischen dem Nordatlantik und dem Golf von Mexiko. Nach den Kanalbauern kamen in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts Streckenbauarbeiter in das kleine Dorf an der Grenze, das damals nur ein paar Hundert Einwohner zählte. Der alte Kanal, der nicht viel mehr war als ein breiter Graben, wurde 1900 durch einen breiteren und tieferen ersetzt.
American Memories
»Meine Gefühle gegenüber Chicago sind, solange ich mich erinnern kann, wild ambivalent. Nelson Algren scheint es mir vor vierzehn Jahren treffend und poetisch ausgedrückt zu haben:
›Es ist nicht so sehr eine Stadt wie eine Station unterwegs, auf der anderthalb Millionen Zweibeiner mit einem einzigen Schrei ausschwärmen: Eine Schulter oder ein Bein ab. Hier komm’ ich. Jedermann in dieser gemieteten Luft ist auf sich allein gestellt.
Aber wenn man einmal Teil dieses besonderen Fleckens geworden ist, wird man nie mehr einen anderen mögen. Es ist, als seist du in eine Frau mit einer gebrochenen Nase verliebt. Andere Hübsche mögen besser aussehen. Aber keine ist so real wie sie.‹«
Studs Terkel, Division Street
1870 wurden die Schlachthöfe gegründet, für die Chicago bis in unser Jahrhundert hinein berühmt und berüchtigt sein wird. Carl Sandburg, ein bekannter amerikanischer Lyriker der 20er Jahre, wird die Stadt in seinen Gedichten den »Schweineschlächter der Welt« nennen. Heute ist von den Schlachthöfen nur noch das Eingangstor, gewissermaßen als Symbol, stehen geblieben. Die Bevölkerung verdoppelte und verdreifachte sich innerhalb weniger Jahre. Die damals gebräuchlichste Hausform war der Balloon Frame, ein dünnwandiger Holzbau, der rasch zu errichten war. Einwanderer aus Deutschland, Irland, Polen, Italien, Schweden und Juden ließen sich in solchen Holzhäusern nieder: Sie legten den Grundstock für die multi-ethnische Bevölkerung der Stadt. Charakteristisch für das Stadtbild waren damals die endlosen, hölzernen Gehsteige, die angelegt worden waren, um das tiefer gelegene natürliche Niveau anzuheben.
Das frühe Chicago bestand fast ausschließlich aus Holz. Dann kam das große Feuer des Jahres 1871. Angeblich soll die Kuh einer gewissen Misses O’Leary eine Lampe umgestoßen haben. Danach brannten die drei Quadratmeilen des Stadtzentrums fast völlig nieder. Bis auf das Wohnhaus der guten Frau. Das lag im Windschatten und blieb unberührt. Da die Feuerwehr zunächst zur falschen Adresse ausrückte, nahmen die Brände katastrophale Ausmaße an. Angefacht von einem starken Südweststurm, wütete das Feuer dreißig Stunden lang und machte ein Drittel aller Häuser dem Erdboden gleich. Im Grunde war die Katastrophe ein Glücksfall für die Stadt. Der Brandschutt wurde zur Landgewinnung am See verwendet, und noch heute ist ein großer Teil der 47 Kilometer langen Uferstrecke am Michigan-See Parkgebiet.