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2. Chicago – Ort sozialer Konflikte

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Wenn man Chicago den Spitznamen Windy City gegeben hat, so spielt das nicht nur auf ein meteorologisches Phänomen an. Das Wort »windig« hat, wie im Deutschen, eine Doppelbedeutung. Windy im Sinne von häufigem Wind und im Sinne von fragwürdig, hemdsärmelig, skrupellos - das bezieht sich vor allem auf die Zeit des Ellenbogen-Frühkapitalismus: 1886 kommt es zu dem sogenannten Haymarket Riot, bei dem mit einer Bombe sieben Polizisten in die Luft gesprengt werden. Es lohnt sich, die Hintergründe dieses Ereignisses etwas näher zu betrachten.

Im Jahre 1884 beschloss der in Chicago tagende Jahreskongress des »Verbands der Gesellschaften und Arbeitervereine«, den Kampf für den Achtstundentag zu verstärken. Ihren Höhepunkt erreichten diese Aktionen am 1. Mai 1886, an dem 300.000 Arbeiter in den USA, davon allein 40.000 in Chicago, streikten, was einem Generalstreik gleichkam. Am 3. Mai 1886 wurden vor der Fabrik für Erntemaschinen von McCormick in Chicago zwei streikende Arbeiter von der Polizei erschossen und mehrere schwer verletzt, nachdem sie Streikbrecher angegriffen hatten. Aus diesem Anlass fand am nächsten Abend auf dem Haymarket eine friedliche Protestkundgebung statt. Kurz vor Ende der Versammlung – die Mehrheit der ursprünglich 3000 Anwesenden war schon gegangen – marschierte eine Polizeitruppe auf den Platz, obwohl Chicagos Bürgermeister Carter Herrison sich persönlich vom friedlichen Verlauf der Kundgebung überzeugt und den bereitstehenden Polizeikräften den Rückzug befohlen hatte. Nun verlangte die Polizei plötzlich das Ende und die Auflösung der Kundgebung. Bevor die Anwesenden dem Folgeleisten konnten, warf ein Unbekannter eine Bombe in Richtung Polizei, worauf diese das Feuer eröffnete. Sieben Polizisten und eine nie eindeutig geklärte Zahl von Zivilisten kamen ums Leben. Von der explodierenden Bombe wurde der Polizist Matthias J. Degan getötet. Alle übrigen Polizisten kamen nachweislich durch Revolverschüsse zu Tode. Die meisten, wenn nicht sogar alle dieser tödlichen Schüsse, waren jedoch nicht von Zivilisten, sondern von den Kameraden der getöteten Polizisten abgefeuert worden:

Nach dem 4. Mai 1886 herrschte in Chicago praktisch der Ausnahmezustand. Anarchisten und andere Radikale wurden verhaftet. Die Presse war voll von Horrorberichten über Verschwörungen und geplante Bombenattentate. Am 27. Mai verkündete das Gericht die Anklage gegen die Agitatoren der Protestversammlung: Sie lautete auf Mord. Zusammen mit 21 weiteren Arbeitern sollten sie sich darüber hinaus wegen Verschwörung, Aufruhr und Verstoß gegen das Versammlungsrecht verantworten. Drei Deutsche unter ihnen - die Zahl der deutschen Einwanderer nach Chicago war zu dieser Zeit erheblich – erkauften sich die Freiheit, indem sie als Kronzeugen aussagten. Am 21. Juni 1886 begann der Prozess mit der Auswahl der Geschworenen. Der damit beauftragte Gerichtsdiener Henry Ryce erklärte öffentlich: »Ich betreue diesen Fall, und ich weiß, was ich tue. Diese Kerle werden gehängt. Das ist so sicher wie der Tod. Ich lade nur solche Kandidaten vor, die die Verteidigung der Reihe nach alle ablehnen muss, so dass die Zahl ihrer Ablehnungsanträge bald erschöpft ist. Die Verteidigung muss dann mit den Geschworenen zufrieden sein, die der Staatsanwalt will.« Obwohl Bestechungsgelder, Gewalt und Bedrohung eingesetzt wurden, konnte der Staatsanwalt seine ursprüngliche Mordanklage nicht aufrechterhalten. Sie wurde im Laufe des Prozesses in »Verschwörung mit dem Ziel des Umsturzes der bestehenden gesetzlichen Ordnung« umgewandelt. Die Anarchisten von Chicago hatten tatsächlich gewaltsame Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele bejaht. Allerdings verstanden sie Gewalt als Selbstverteidigung gegen die Gewalt des Staates. Am 30. August 1886 verkündeten die Geschworenen das Urteil. Alle sechs Angeklagten wurden für schuldig befunden und bis auf einen zum Tode verurteilt. Im September 1887 wurde das Urteil an vier der Angeklagten vollstreckt. Zwei wurden begnadigt. Die Verfasser des Lexikons der Anarchie kommen bei der Einschätzung des Prozesses zu folgender Feststellung: »Die Ermordung der Arbeiter am 3. und 4. Mai, die nachfolgende national-chauvinistische Repression, die den Anarchismus als unamerikanisch bezeichnete und mit den Immigranten identifizierte, brachen dem US-amerikanischen Anarchismus trotz großer Solidaritätskampagnen das Rückgrat. Die amerikanische Arbeiterbewegung wurde insgesamt entscheidend geschwächt. Die Gewerkschaften distanzierten sich nach der Haymarket-Bombe von den Anarchisten und säuberten ihre Reihen von linksradikalen Mitgliedern; dies isolierte die Anarchisten, während es die Gewerkschaften (vorübergehend) zu relativer Bedeutungslosigkeit führte.« Chicago aber blieb ein Ort starker sozialer Spannungen.

1893 veranstaltete die Boomtown Chicago zum 300. Jahrestag der Entdeckung Amerikas die World Columbian Exposition. Sie ist insofern bemerkenswert, als sie zum Symbol eines im Zeichen des Kapitalismus aufblühenden Amerikas, oder wie die zeitgenössische Presse schrieb, »zum größten Spektakel moderner Zeiten« wurde. Als Präsident Groover Cleveland am 1. Mai symbolisch einen Schlüssel bewegte, summten die Dynamos, begannen Maschinen zu stampfen, Fontänen zu sprühen, Fahnen wurden an den Masten hochgezogen, ein Chor von 5000 Sängern stimmte seine Lieder an, und 150.000 Besucher klatschten Beifall.

American Memories

»Chicago hat eine North Side, eine South Side und eine West Side.

An East Side hat es nicht viel zu bieten. Wenn man zu weit in diese Richtung läuft, landet man im Michigan-See. Schwimmend – oder man ertrinkt. Dort sind die Strände der Stadt. Je weiter man nach Süden kommt, desto mehr weicht der See zurück ...«

Studs Terkel,

Ein ABC-Führer für Leute, die Chicago nicht kennen

Das Zeitalter der Elektrizität, der Welt von morgen, der »Weißen Stadt«, hatte begonnen. Es wurde Licht in Amerika. Die große Leistungsschau mit den Wundern von Wissenschaft und Industrie zog zwischen Mai und Oktober 25 Millionen Besucher an. Sie strömten aus den Farmen und den Kleinstädten des Umlandes wie auch aus dem Ausland nach Chicago. Ein staunender Besucher schrieb an seine Eltern: »Verkauft euren Kochherd, wenn nicht anders, und kommt!« Ein anderer Besucher versicherte seiner daheimgebliebenen Ehefrau: »Du musst die Ausstellung sehen, und wenn das Geld, das wir für die Beerdigung zurückgelegt haben, draufgeht!« Die Venus von Milo war in Schokolade nachgebildet, ein lebensgroßer Ritter zu Pferde stellte getrocknete Pflaumen her, Deutschland, eine der 77 vertretenen Nationen, hatte ein gewaltiges Küstengeschütz aufgestellt, das ein tonnenschweres Geschoss über 16 Meilen schießen konnte. Als die Ausstellung schloss, schrieb die Chicago Tribune, was Millionen von Besuchern dachten: Man hatte eine »kleine, ideale Welt« gesehen, »eine Realisation von Utopia, in der die überbordende Phantasie der Künstler und Architekten einen in der Zukunft liegenden Zustand vorwegzunehmen scheint, bei dem die ganze Erde so rein, so schön und so freudig sich darstellen wird, wie heute die Weiße Stadt«.

Doch schon ein Jahr später, 1894, zeigte sich auch die andere Seite der Medaille. Die Arbeiter der Pullman Car Company verbündeten sich mit den Arbeitern der Eisenbahngesellschaften und streikten. Chicagos Arbeiter waren die Ersten, die sich in Gewerkschaften organisierten. Und was vielleicht noch erstaunlicher war für jene Zeit: Zum ersten Mal streikten schwarze und weiße Arbeiter gemeinsam für höhere Löhne und einen sicheren Arbeitsplatz. Der damalige amerikanische Präsident Cleveland beurteilte die Lage als so gefährlich, dass er Truppen in die Stadt entsandte. 1905 wurde Chicago dann zum Gründungsort der Industrial Workers of the World (Wobblies), jener legendären radikalen Gewerkschaftsbewegung, deren bekanntester Vertreter wohl Joe Hill war. Während eines Streiks festgenommen, wurde er 1915 in Salt Lake City hingerichtet. Ein politisches Kampflied über ihn ist inzwischen zum Volkslied geworden:

»Ich sah im Traum Joe Hill vor mir.

Ganz deutlich sein Gesicht.

Sprech' ich: Bist du nicht lange tot?

Sagt er: Ich sterbe nicht.

In Salt Lake City, Joe, sprech' ich,

da irrte das Gericht.

Unschuldig gingst du in den Tod.

Nein, schuldig war ich nicht.

Den Herren von der Industrie,

den' warst du unbequem.

Unschuldig gingst du in den Tod.

Er spricht: So ist's geschehen!

Da stand er vor mir, lebensgroß,

und lächelte mir zu.

Was tut's, wenn einer von uns stirbt.

Wir geben keine Ruh'.«

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