Читать книгу Weltreise in 70 Jahren - Band I - Friedbert Wittum - Страница 10
Kapitel 5
ОглавлениеAls mein Vater 18 Jahre alt war, hatte er seine Ausbildung als Industriekaufmann beendet. Er ging in den Vertrieb bei einer großen Pariser Werbefirma. Dies war praktisch, weil er dort die Omi besuchen konnte. 1935 war er in der Grundausbildung bei der deutschen Wehrmacht. 1940 wurde er wegen der Kriegshandlungen eingezogen und kam an die Westfront. Traurig blieb seine Jugendliebe Mariele aus Kork zurück. Bis Herbst 1941 war er in der Bretagne. An der Atlantikküste gibt es Wogen und Wellen und schöne Bretoninnen.
Dann kam der Marschbefehl nach Russland. Die Kompanie wurde in Bruchsal zusammengestellt. Einige Kilometer entfernt liegt Weingarten. Dort ist das Unterhaltungslokal „Kärcherhalle“. Alle Soldaten und Mädchen der Umgebung trafen sich dort zum Tanz. Die „Kärcherhalle“ gehörte dem Schwager meiner Mutter, Ludwig Kärcher, der die Schwester meiner Mutter, Mina Kärcher geheiratet hat. Meine Mutter half bei den Tanzveranstaltungen regelmäßig aus. Am 29.11.1941 war dort großer Soldatenball. Meine Mutter war da, ebenso mein Vater. Sie verliebten sich. Am 19.6.1943 heirateten sie. Die Hochzeit fand in der Hauptstraße 32, also auf dem Hof vom Bruder Karl statt.
Die Männer waren im Krieg, mit Ausnahme von Pfarrer Heinrich Lilli, der als Gotteshirte und Bruder Karl, der als Landwirt vom Kriegsdienst befreit war. Aber alle Kinder der Geschwister waren dabei. Bruder Karl versprach meiner Oma Mina, als Jäger ein Reh, da sie für das Hochzeitsessen verantwortlich war. Die ganze Hochzeitsgesellschaft musste wegen dem Reh bangen, weil es ihm nicht gelingen wollte, ein solches zu erlegen. Ehrlicherweise muss man dazu sagen, dass dies im Juni auch schwer ist. Schließlich wurde es meiner Oma zu dumm, sie bestellte zu sich einen im Kraichgau bekannten Wilderer, dem es gelang aus dem Revier von Sohn Karl ein Reh zu schießen. So gab es als Hochzeitsmenü: Flädlesuppe, gekochtes Rindfleisch mit Meerrettich und Beilagen, sowie Rehbraten mit Spätzle, Rosenkohl und Salat und zum Dessert: Schwarzwälder Kirschtorte.
Anfang 1942 ging es mit der Eisenbahn für meinen Vater Richtung Osten zur Heeresgruppe Mitte. Er war an der Schlacht von Welikije Luki von Ende 1942 bis Anfang 1943 beteiligt und erhielt das eiserne Kreuz zweiter und erster Klasse. Bei dem Letzteren spielte, wie böse Zungen munkeln, die Heirat im Juni 1943 eine nicht unwesentliche Rolle. Er wurde der Adjutant des Kommandeurs Oberst Röhr. Die Stellungen wurden bis Mitte 1944, bei Welikije Luki gehalten, Am 16. Juni 1944 plauderte mein Vater mit Oberst Röhr im Kommandantenbunker.
Im zivilen Leben war Röhr Gymnasiallehrer in den Fächern Deutsch und Geschichte. Er interessierte sich für Gedichte der französischen Romantik. Da mein Vater perfekt französisch sprach, bat er ihn ab und zu, eines der Gedichte zu übersetzen. Heute ging es um Lamartine:
„Dans le clocher de mon village,
il y a un sonore instrument.
Que j'écouté depuis mon jeune age,
comme une voix du firmament.“
Mein Vater übersetzte:
„In meines Dorfes Kirchturm war,
ein klingend Instrument.
Ich lauschte schon mit jungem Jahr,
als wär's die Stimm' vom Firmament.“
Bedächtig rauchte Röhr seine Pfeife und las den Text auf Französisch und Deutsch. Tränen standen in seinen Augen. Mein Vater hörte ein leises Läuten draußen in der russischen Sommerluft. Er folgte diesen Tönen und sog diese und die frische Luft in sich ein. Da flog ein Aufklärungsflugzeug der roten Armee über ihn hinweg, und feuerte Maschinengewehrgarben ab. Eine Kugel durchschlug den linken Oberarm meines Vaters und drang in den Körper bis zwei Zentimeter vor das Herz vor, wo sie stecken blieb.
Oberst Röhr wartete vergeblich auf die Rückkehr meines Vaters. Nach einiger Zeit ging er nach oben ins Freie. Dort sah er meinen Vater liegen. Er holte die Sanitäter. Beim Abschied drückte er meinem Vater auf der Bahre die Hand und flüsterte: „Au revoir Oberfeldwebel Wittum“. Dies war das Kriegsende für meinen Vater. Er kam in die Heimat nach Brandenburg in ein Lazarett und wurde im März 1945 nach Bruchsal verlegt. Am 26. Juni 1945 starteten die Russen eine Großoffensive und überrannten die Stellung Welikije Luki vollständig. Die Kompanie von Oberst Röhr wurde aufgerieben, er und die meisten seiner Kameraden, fielen. Am 2.4.1945 erhielt mein Vater Lazaretturlaub und fuhr nach Wössingen zur Geburtstagsfeier meiner Mutter. Sein Arm war immer noch im Gips, Stuka genannt. Vier Tage später marschierten unerwarteterweise die Franzosen in Wössingen ein. Mein Vater war der einzige im Ort, der gut französisch sprechen konnte. So erreichte er, dass der Kommandeur Colonel Navarre, in der Hauptstraße 24, Quartier bezog. Damit blieben der Familie Drangsale, wie Plünderung und Vergewaltigung, erspart. Vor dem Einmarsch der Franzosen wurde das Nachbarhaus, das Gasthaus zum Schwanen, durch eine Bombe zerstört. Heute steht dort das neue Rathaus. Die abziehenden deutschen Soldaten schossen vom oberen Berg aus in den Ort hinein. Dabei wurde eine russische Zwangsarbeiterin, die auf dem Hof meines Onkels gerade Wasser holen wollte, getötet. Dank der Anordnung des französischen Kommandanten, wurde meinem Vater die Gefangenschaft erspart, er durfte in Wössingen bleiben.
Die russische Kugel aber fand ihren Weg durch den Körper meines Vaters. Er verlor sie bei einem Toiletteneingang im Jahre 1953.
Am 8. Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Die Generäle Jodl und Keitel unterschrieben bei den Amerikanern und Russen die Kapitulationserklärung. Hitler konnte diesen Akt nicht selbst vollziehen, da er bereits am 30. April 1945 sein Buch „Mein Kampf“ beendet hatte. Meine Mutter war darüber so erleichtert, dass sie jede Blockade aufgab und sich entschloss eine Familie zu gründen. Der 1. Mai 1945 ist daher der Zygotentag von meinem Bruder Hermann, der dann planmäßig am 31.1.1946 zur Welt kam.
Noch bis zum Jahr 1958 erschienen in unserem Hause Kriegskameraden meines Vaters. Diesen Gesprächen in unserem Hause lauschte ich voller Hingabe. Es war Spannung, es war Abenteuer pur. Mit dem aufkommenden Wirtschaftswunder verschwand nach und nach das Interesse am Krieg. Schließlich blieben die Kriegskameraden aus. Drei K sind die Grundlage unserer Familie: Krieg, Kärcherhalle und Kugel.
Meine Tante Mina, die mit ihrem Mann Ludwig die Kärcherhalle in Weingarten betrieb, sah aus wie, ein Zwilling zu meiner Mutter. Beide waren schwarzhaarig. Sie waren Ungerer, also vom Stamm meiner Großmutter. Diese waren besonders energiegeladen. Die anderen Kinder waren blond und kamen vom Stamm meines Opas, den Soldingern. 1958 erlag dann die Tante Mina einem Krebsleiden. Meine Mutter war davon sehr betroffen, so dass auch ich, als kleiner Bub, darunter sehr litt.
Aber es gab auch noch die Tante Sophie sie sprach gern die Worte: „Ach du liebe Zeit.“ Sie besuchte uns ab und zu von einem Ort namens Flinsbach, dort war ihr Mann, Heinrich Lilli Pfarrer. Sie hatte drei Kinder die Elfriede, den Theo und die Christa. Damals konnte ich nur mit Christa etwas anfangen, sie war ein Jahr älter als ich und kam deshalb als Spielgefährtin in Betracht. Im Gegensatz zu meiner Mutter, erhielt Tante Sophie eine Ausbildung als Bankkauffrau. Meine Mutter wäre gern Kindergärtnerin geworden, aber die Familie sagte zu ihr, das brauchst du nicht, bei uns bist du gut aufgehoben und hast zu essen und zu trinken. Außerdem gab es genug Kinder von ihren Geschwistern, die sie hüten konnte.
Vor den Kriegsjahren arbeitete Tante Sophie in der Girozentrale in Karlsruhe. Sie fuhr jeden Werktag mit der Dampfeisenbahn von Wössingen nach Karlsruhe und zurück. Als sie etwa 22 Jahre alt war, verliebte sie sich unsterblich in einen Mitarbeiter in der Girozentrale. Dieser verließ sie aber nach einer gewissen Zeit schnöde und heiratete eine andere Frau. Tante Sophie nahm sich das so zu Herzen, dass sie krank wurde und sich sogar unter den Zug werfen wollte. Da musste Abhilfe geschaffen werden. Man rief nach der Kuppeltante Weidacker in Bretten. Diese, in solchen Geschäften erfahren, erblickte in dem Lehrersohn Lilli aus Bretten, die geeignete Partie für meine Tante Sophie. Ein Pfarrer und eine Bankkauffrau waren eine gute Grundlage für eine gedeihliche Familie. Zu dieser Zeit genügte aber nicht allein, dass die Ehekandidaten einen Beruf hatten. Die „Sach“ also die Aussteuer musste geprüft werden. Deshalb erschien die Kuppeltante Weidacker in Wössingen und ließ sich Kasten und Kisten zeigen, worin sich die Aussteuer der Tante Sophie befand. Das Ergebnis musste dann in wohlpreisenden Worten den Eltern des Ehekandidaten schmackhaft gemacht werden, damit dieser Antrieb bekam, sich Richtung Wössingen zu bewegen. Als junger Vikar hatte Onkel Heinrich von diesen weltlichen Dingen keine Ahnung. Als er den Befehl bekam, sich in Richtung Wössingen zu begeben, sagte er gutmütig: „Nana“ und marschierte los. Es waren immerhin acht Kilometer zu bewältigen, denn die Zugfahrt war zu teuer. Dort am Ziel, saßen im Wohnzimmer in Erwartung des Ehekandidaten die Kuppeltante Weidacker, meine Oma, Tante Mina, meine Mutter, Onkel Karl und Onkel Emil. Tante Berta hütete den Laden und Tante Sophie bebte vor Erwartung. Da kam er dann die Hauptstraße hoch, ein schicker junger Mann mit Oberlippenbart und der dunklen Kleidung des Vikars. Fachmännisch ordnete die Kuppeltante Weidacker an, dass das Wohnzimmer geräumt wird, damit die beiden Ehekandidaten Sophie und Heinrich sich näher kennenlernen konnten. Sie vergaß auch keinesfalls das Wohnzimmer abzuschließen. Meine Mutter wurde vorgeschickt, durch das Schlüsselloch zu sehen, um zu berichten wie die Liebesangelegenheit steht. Die Sorge war aber völlig unbegründet. Schon nach kurzer Zeit öffnete die Kuppeltante die Wohnzimmertür und im Rahmen der Tür standen die frisch Verliebten. Onkel Heinrich erklärte in feierlichem Ton: „Wir haben uns soeben verlobt.“ An meine Mutter gewandt, setzte er hinzu: „Du bist jetzt meine liebe Schwägerin.“ Meine Mutter war damals 16 Jahre alt und musste in der Folgezeit das verliebte Paar als Anstandsdame begleiten, damit nichts passiert. Sie erfüllte diese Aufgabe nicht sehr gut, denn sie ließ das Paar weit vor sich gehen. Diese benahmen sich nämlich, wie die Turteltäubchen und küssten und herzten sich auf offener Straße. Auf jeden Fall hat Onkel Heinrich die Krankheit von Tante Sophie auf einem Schlag beseitigt.