Читать книгу Weltreise in 70 Jahren - Band I - Friedbert Wittum - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеAls ich vier Jahre alt war, wurde der Kindergarten langweilig. Ich hatte schon einige Kameraden um mich geschart, insbesondere die drei Nachbarskinder, die so genannten Friederichle (Friedrichbuben). Mit denen war besprochen, dass wir vom Kindergarten ausbüchsen. Gegenüber der Kindergärtnerin, Schwester Sofie in Tracht, gaben wir vor, auf die Toilette zu müssen. Dort kletterten wir alle vier aus dem Toilettenfenster und sprangen ins Freie. Dann ging's ab in die Gärten, wo wir Unterschlüpfe für uns gebaut hatten. Da waren wir allein, da konnte uns auch keiner finden. Als ich abends nach Hause kam, war ein großer Aufmarsch. Onkel, Tanten, mein Bruder, Vater, Mutter, Oma und die Kindergärtnerin Schwester Sofie sowie der Ortspolizist standen um mich herum. Ich wurde verhört, beschimpft, angeschrien, so dass ich immer verstockter wurde. Der Ortspolizist erklärte, dass die Friedrichbuben alles gestanden hätten. Endlich nahm mich meine Mutter in den Arm und brachte mich ins Bett. Sie gab mir noch einen Gute-Nacht-Kuss. Am nächsten Tag gab sie mir zehn Pfennige mit, damit ich mir eine Brezel kaufe. Sie schärfte mir ein, dass ich mich bei der Schwester Sofie entschuldigen solle, sie habe sich große Sorgen um mich gemacht. Das tat ich dann auch. Als die Schwester Sofie meine Brezel sah, nahm sie diese in die Hand und sagte: „Vielen Dank, das wäre aber nicht nötig gewesen.“ Dieser Brezelraub hat sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt, und er taucht immer wieder dann auf, wenn ich glaube, dass mir Unrecht geschieht.
Es ist eine Glückssache Glück zu empfinden. Glück streut die Göttin Tyche aus. Es kann jeden Menschen treffen. So hängen Glück und Zufall eng zusammen. Das Glück hat aber auch eine subjektive Seite, so dass jeder Mensch das Glücksgefühl auf seine eigene Weise empfindet. Insbesondere können Kinder spontan Glücksgefühle entwickeln. Die Eltern schauen manchmal in glückliche fröhliche Gesichter ihrer Kinder. Dies ist ansteckend, so dass auch die Eltern dabei glücklich sind. Ich kann mich an ein Glücksgefühl erinnern, als ich etwa vier Jahre alt war. Ich war krank, hatte Fieber, musste im Bett bleiben und konnte nicht in den Kindergarten. Meine Mutter brachte mich ins große Ehebett und ich wurde unter eine riesige Decke gesteckt. Dort war es dämmerig und duster, wohlig und warm. Ich fühlte mich wie ein Fötus. Ich war wieder im Bauch der Mutter. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl überkam mich. Ich war losgelöst von Fieber, Angst, Schmerz und Leid. Das ist Glück.
Aber auf der Erde gibt es auch Leid. Das erste Leid, als ich noch nicht auf der Welt war, fügte mir mein Onkel Karl zu. Als ich dann auf der Welt war, fügte mir wieder mein Onkel Leid zu. Da er Landwirt war, hatte er neben Pferden und Kühen auch einen Trecker. Dieser war grün und wir Buben nannten ihn Bulldog. Im Jahr 1953 war ein Bulldog noch eine Seltenheit. Es war die Zeit, wo noch amerikanische Panzer und Kriegsfahrzeuge durch unsere Straßen fuhren. Die einheimische Bevölkerung hatte keine Kraftfahrzeuge, geschweige denn einen Bulldog. Stolz fuhr mich mein Onkel auf seinem Bulldog durch die Straßen und ich wurde von meinen Kameraden gebührend bewundert. Einmal durfte ich den Bulldog alleine fahren und der Onkel setzte sich neben mich. Plötzlich schlug die Bremse nach unten und quetschte und riss meinen Daumen auf. Noch mit dem Bulldog fuhr mich mein Onkel Karl zum Arzt, ich schrie und jammerte fürchterlich. Davon habe ich eine Narbe zurück behalten, die mich für den Rest meines Lebens begleitet.
Es gibt auch Narben, die in der Seele verbleiben.
Als ich 1954 eingeschult wurde, setzte sich neben mich auf die Schulbank ein gleichaltriger Junge. Er hieß Jörg Heidt. Er war oft im Unterdorf, gleich neben dem Haus von Onkele und meiner Tante Berta. Daneben war die Bahn. Er war mein Lieblingsspielgefährte. Weihnachten 1955 führte die Schule ein Krippenspiel auf. Die Mitschülerin Ursel Wolf war die Maria, ich der Josef, Hildegard Schulze der Nikolaus und Jörg der erste Hirte. Der Schorschle, ein Repetent aus der dritten Klasse wollte uns dies heimzahlen, weil er an dem Krippenspiel nicht teilnehmen durfte. Als die Geburt anstand und die Ursel gerade die Christkindspuppe in die Wiege legte, explodierte der Christbaum. Der zu zerstörerischen Maßnahmen neigende Schorschle, hatte einige Christbaumkugeln mit Karbid gefüllt. Als die flackernden Kerzen den Kugeln zu nahe kamen, explodieren sie. In dem Chaos zwischen brennendem Christbaum, erstickendem Christkind, verblüfftem Nikolaus, schreiender Maria, erschreckter Hirten, durcheinander wirbelnder Eltern, hilfloser Lehrerin, schnappten Jörg und ich uns den Schorschle und verprügelten ihn. Seit diesem Tag war er unser bester Freund. Unsere Lehrerin, Fräulein Sternberg, forschte zwar nach, wer den Streich gespielt hat, ich sagte es ihr aber nicht. Aber ich wurde künftig nicht mehr als Josef beim Krippenspiel engagiert.
1956 durfte ich in den großen Ferien zu Onkel Wilhelm Jockers nach Schiltach in den Schwarzwald fahren. Schon die Fahrt mit dem Zug durch das Höllental war für mich ein beeindruckendes Erlebnis. Meine Mutter hatte mich in Karlsruhe in den Zug gesetzt und dort saß ich in einem Schienenbus neben dem Fahrer. Dieser erzähle mir gruselige Geschichten vom Höllental, so dass ich mich ein wenig deswegen fürchtete. Zuvor kamen viele Tunnels, die durchfahren werden mussten, so dass ich einen Vorgeschmack von der Hölle bekam. Mein Onkel Heinrich Stöckle, genannt Onkele, hatte viele dieser Tunnels gebaut. Er war der leitende Ingenieur bei der Firma Harsch in Bretten. Bei dieser Fahrt machte ich mir zum ersten Mal Gedanken über den Tod. Diese verflogen, als das Höllental durchfahren war und sich oben der strahlende Himmel öffnete. Ich wollte weder in den Himmel noch in die Hölle. Ich wollte leben. In Schiltach holte mich mein Onkel Wilhelm am Bahnhof ab. Bei seinem Sohn Hans, der in der Nähe wohnte und gleichaltrige Kinder hatte, durfte ich sechs schöne Wochen verleben. Seine Frau Ruth war lieb und herzlich zu mir. Sie verzieh mir alle Streiche, die ich dort anstellte. Mein Onkel Wilhelm war davon weniger erbaut. Er war pensionierter Lehrer und sehr penibel. Er beendete jeden Satz mit den Worten „und dergleichen“. Schnell verging die Zeit, so dass ich Ende August wieder in Wössingen eintraf. Dieser Tag war einer der Schwärzesten in meinem Leben. Meine Mutter erzählte mir, dass mein Spielkamerad Jörg tot sei. Kurz nachdem ich weggefahren war, habe er sich mit einem Bolzenschussgerät, mit welchen man Tiere schlachtet, selbst in den Kopf geschossen und sei dadurch gestorben. Ein schrecklicher Unfall. Dieser Vorfall hat tiefe Narben in meiner Seele hinterlassen, die bis zum heutigen Tage zu fühlen sind. Der Tod von Jörg war eine ernüchternde Lebenslehre: Glück bedeutet, sich durch das Leben zu mogeln, um dem Tod zu entrinnen.
Mein Großvater Karl-Ludwig war 1926 verstorben. Seit seinem Tod war meine Großmutter Mina Witwe. Mit ihren sechs Kindern war sie die Erbin nach dem Großvater. 1954 setzten sich mein Vater und Onkel Emil zusammen, um die Erbengemeinschaft aufzulösen. Den Erbhof in der Hauptstraße 33 erhielt mein Onkel Karl, das Ladengeschäft Hauptstraße 24 Tante Berta und den Kindergarten Hallenstraße 22, welchen Kaufmann Schumacher für die Gemeinde gebaut hatte, erhielt meine Mutter. Im Übrigen wurden die Grundstücke unter den Kindern aufgeteilt.
Die Erbauseinandersetzung lief im Wesentlichen friedlich ab. An einem Sonntag, während die Familie zu Mittag aß und die Erbengemeinschaft diskutiert wurde, klingelte es. Wie hasste es mein Vater, wenn er während des Mittagessens gestört wurde. Deshalb stand meine Oma auf und schaute nach, wer vor der Tür stand. Da ich neugierig war, folgte ich ihr. Es war ein Automobilist, im Sonntagsanzug, der Benzin verlangte. Oma kurbelte an der Zapfsäule, ich hielt den Schlauch und Schwups gossen sich die ersten drei Liter über Kopf und Körper des Autofahrers, der wenig erfreut, hielt zur Abwehr beide Hände über dem Kopf und schaute in Richtung Ladentür. Dort stand zu unser aller Entsetzen Onkel Karl mit einer Zigarette im Mund. Wir alle bedeutetem ihm verzweifelt, dass er sich von uns fernhalten solle. Aber er kam lachend näher. Geistesgegenwärtig sprang der Automobilist in sein Auto und fuhr klappernd davon. Er kam nicht weit. Schon nach 20 m blieb das Auto aus Benzinmangel stehen. Der Automobilist stieg dann schleunigst aus und verschwand irgendwo im Häusergewirr. Ich habe ihn nie wieder gesehen.
Mein Vater produzierte Werbeplakate für Brauereien und Getränkehersteller. 1954 waren die Verkehrsverbindungen noch nicht gut organisiert. Er hatte sich deshalb ein Motorrad NSU Quickly zugelegt und fuhr damit zu einer Frankfurter Brauerei. Auf dem Rücksitz hatte er das Muster eines Werbeplakates aus Glas. In Frankfurt geriet er mit beiden Rädern des NSU Quickly in die Schienen der Straßenbahn, was das Quickly abrupt zum Stehen veranlasste. Fahrer und das Glasplakat flogen in hohem Bogen, weit dem Quickly voraus, auf die Straße. Mit zerbrochenem Muster und geschundenen Knien kam mein Vater nach Hause zurück. Also wurde beschlossen: Ein Auto muss her. Meine Mutter schlug einen VW vor. Mein Vater wusste es besser, er kaufte einen Fiat Topolino, Mäuschen genannt. Der nächste Sonntagmorgen nahte. Eine Spritztour mit dem Mäuschen war geplant. Meine Mutter hatte sich und ihre beiden Kinder fein gemacht. Wir standen beim Wagen, mein Vater stieg ein. Er startete den Motor. Dieser stotterte ein wenig müde, wollte aber trotz vielfachen Bemühens meines Vaters nicht aufwachen. Schließlich kam mein Vater wieder aus dem Wagen hervor, öffnete die Motorhaube, schloss sie wieder und klopfte wütend auf das Blech des armen Topolino. Mäuschen war von nun an völlig beleidigt und rührte sich überhaupt nicht mehr. Meine Mutter erkannte, dass die Spritztour wohl ins Wasser fiel. Sie erlaubte sich daher folgende Bemerkung: „Hättest du gleich einen VW gekauft!“ Dadurch geriet mein Vater nun völlig in Raserei. Er drosch hemmungslos auf das arme Topolino ein und rief immer wieder: „Von was denn? Verkauf' ein Äckerle!“ Armes Mäuschen, hätte es sich doch unter dem Ehebett meiner Eltern versteckt. Wir gingen dann ins Haus zurück und gegen Mittag, zum Essen, kam auch unser Vater, er hatte