Читать книгу Weltreise in 70 Jahren - Band I - Friedbert Wittum - Страница 15
Kapitel 2
ОглавлениеMein Bruder war in dieser Zeit ein friedlicher Knabe. Er lebte, im Gegensatz zu mir, völlig gewaltfrei. Friede ist aufgenötigte Gewalt. Friede ist latenter Krieg. Weil mein Bruder, selbst meinem Vater zu friedlich war, kam er auf die Idee, dass dieser eine Kampfsportart lernen müsse. Zuerst war es der Fußball. Dann der Boxsport. In Wössingen wurde Rudolf, ein ehemaliger badischer Meister im Halbschwergewicht, gefunden, der in der Schloss Straße in einer Scheune Boxunterricht erteilte. Auch ich durfte mitmachen. Hier wurde stundenlang Seil gesprungen, linke und rechte Gerade und Uppercuts, Aufwärtshaken, geübt. Auch ausgedehnte Waldläufe gehörten zum Programm. Mit der Zeit wuchs die Truppe auf etwa 15 Mann an, so dass sie als Nebenabteilung im Turnverein Wössingen geführt wurde. Als vom Leicht- bis Mittelgewicht alle Positionen besetzt waren, wurde ein Turnier aufgerufen. Mein Bruder vertrat das Welter- und ich das Leichtgewicht. Mein Gegner war Leonardo Di Matteo, er wurde als italienischer Meister angekündigt. Ich stand in der blauen, Di Matteo in der roten Ecke. Der Gong zur ersten Runde ertönte. Di Matteo stürmte mit aller Kraft eines römischen Gladiators auf mich zu. Er war der rote Stier aus der roten Ecke. Alle italienischen Gastarbeiter vom Zementwerk brüllten „Leo, Leo“ und dann noch „Mache ihne kaputt“ gemeint war ich. Aber auch meine Freunde konnten ihre Stimmen nicht zurückhalten, sie spektakelten „Fribbe, Fribbe“ und: „Hau en um, den Spaghettifresser“. Nun, er sprang mit helenen Augen, ungestüm auf mich zu. Ich machte, wie wochenlang geübt, einen Seitenstep und Di Matteo rauschte an mir vorbei. Sein Gesicht hatte er vollständig hinter den beiden Fäusten vergraben. Bei dem Seitenstep vergaß ich nicht einen Uppercut mit meiner rechten Schlaghand zu setzen. Dieser Boxhieb traf ihn genau oberhalb des Gürtels seiner gelb glänzenden Boxershorts. Dort sitzt beim Menschen der Solarplexus, der gegen eine solche Behandlung sehr empfindlich ist. Bei Di Matteo wirkte sich das so aus, dass er schlagartig auf dem Rücken lag, Hände und Füße weit ausgebreitet, mit verklärtem Gesicht, als ob er von etwas Schönem träumte. Er bekam auch nichts davon mit, als der Ringrichter bis zehn zählte, mir die Hände hochriss und mich zum Sieger durch k.o. in drei Sekunden erklärte. Alles was zu hitzig beginnt, ermüdet schnell. Den Fans von der roten Ecke blieb das „Le“ im Mund stecken, es war nur noch ein enttäuschtes „Oh“ zu hören. Anders die blaue Ecke: Es folgten frenetische Schreie: „Fribbe, Fribbe, Fribbe“. Der Ringarzt Dr. Stierle hatte wenig Mühe den entrückten Di Matteo wieder in die Welt zurückzubringen. Der nächste Kampf stand an. Hermann Wittum, Halbweltergewicht, gegen Angelo Di Matteo. Den letztgenannten fand man ohnmächtig neben dem Ring auf dem Boden liegend. Dr. Stierle gelang es nicht den Angelo Di Matteo aus seinem Tiefschlaf zu holen. Angesichts des Schicksals seines Bruders war dieser rechtzeitig in eine Angstpsychose verfallen. Nach wie vor glaube ich völlig unbegründet, denn Hermann hätte ihn wesentlich sanfter behandelt. So wurde mein Bruder zum Sieger erklärt. Er hat mir dafür nie gedankt, obwohl ich ihm dazu verholfen habe. Das war die letzte Boxveranstaltung. Unser Trainer Rudolf zog aus beruflichen Gründen von Wössingen weg, so dass sich die Boxabteilung alsbald auflöste. Immerhin habe ich drei Sekunden im Kampf und mein Bruder mehrere Minuten kampflos im Ring gestanden.
Als Ersatz bekam mein Bruder Hermann ein Luftgewehr. Es war eines von der Firma Diana im Kaliber 4,5 mm. Im Scheibenschießen war mir mein Bruder weit überlegen, im Spatzenschießen ich ihm. Zwischen unserem Haus, der Hallenstraße 22 und dem Haus von Onkel Karl, Hauptstraße 33, gab es ein schönes Gartengrundstück des Hofbauern Reichenbach. Es lag romantisch am Walzbach, der später leider verdolt (überdeckt durch die Straße) wurde. Dort fanden im Sommer die Gartenfeste der Vereine statt. Musik-, Gesang-, Fußball-und Turnverein alle luden von Freitag- bis Sonntagabend zur ausgelassenen Fröhlichkeit ein. Lärmbelästigung im Wohngebiet, war damals noch kein Thema. In jedem dieser Feste gab es einen Schießwettbewerb, wo am Sonntagabend der Sieger ausgerufen wurde. Er war so eine Art Schützenkönig. Auf dem Schützenstand, der Schießbude, wurde mit Luftgewehr geschossen. Die Entfernung betrug etwa 3,50 m. Der beste Treffer ist eine 12. Drei Schüsse sind erlaubt, so dass 36 Treffer die Höchstzahl ist. Dafür musste man einen Obolus von 50 Pfennigen für die Vereinskasse entrichten. Die besten Schützen wurden in eine Liste eingetragen, so dass sie am Sonntagabend an der Endentscheidung teilnehmen durften. Wenn mehrere Schützen die Zahl 36, 35 und 34 erreicht hatten, erfolgte zwischen diesen Schützen ein Stechen. Für jede Trefferzahl war ein Preisgeld ausgesetzt. Mein Bruder war immer in allen drei Trefferkategorien eingetragen, ich dagegen selten. Das Stechen begann immer Sonntagabend um 18:00 Uhr. Die Schützen wurden aufgerufen und formierten sich vor dem Stand. Hinter diesen stand eine beträchtliche Anzahl von Zuschauern. Diese feuerten den einen oder anderen Schützen an oder irritierten ihn. Mein Bruder hatte harte Konkurrenz. Der eine war Andreas Rüttler, ein ausgewiesener Scharfschütze vom zweiten Weltkrieg. Der andere war Egbert Kirchgässner, von dem man munkelte, dass er bei den Fremdenlegionären gedient hatte. Die Kategorie 34 und 35 wurde in der Regel zwischen verschiedenen Schützen aufgeteilt. Nun kam das Königsstechen, es ging um die Trefferzahl 36. Kirchgässner legte vor: 36, Rüttler: 35, Hermann: 36. Nun war Hermann dran. Erster Schuss: zwölf, zweiter Schuss: zwölf. Alle seine Anhänger jubelten. Er setzte an zum dritten Schuss. Eisiges Schweigen bei den Zuschauern. Er zielte und zielte und zielte und setzte ab. Raunen bei den Zuschauern. Er setzte erneut an und zielte und zielte. Nun wurden Stimmen von den Anhängern seines Gegners Kirchgässner laut: „Er wackelt schon, am besten einpacken“. Hermann setzte erneut das Gewehr ab. Unmut machte sich bei den Gegnern breit. Er setzte wieder an, zielte und schoss. Es war eine saubere Zwölf, also wieder 36! Überflüssig zu erwähnen, dass Kirchgässner nur 34 schaffte. Er war völlig entnervt. Auf diese Art holte mein Bruder viele Schießpreise von den Veranstaltungen der Vereine ab.
Am 18.3.1962 starb meine liebe Oma Mina im Alter von 82 Jahren. Sie hatte zuvor einige Schlaganfälle erlitten. Mein Cousin Heinerle, der Erstgeborene von Tante Berta und Onkele, kümmerte sich liebevoll um sie. Sie lag oberhalb des Ladens in einem dunklen Zimmer. Dorthin gelangte man über eine unheimliche Treppe. Auch ich besuchte sie oft und erzählte von meinen kleinen Sorgen. Nun war ein Teil meiner schönen Erinnerungen erloschen. Sie machte immer knuspriges Brot, das im Ofen bei Onkel Karl gebacken wurde. Hier aß ich oft das „Knusperle“ (knuspriges Ende des Brotes) herunter, wofür sie mich oft schimpfte. Samstags gab es immer „Flädlesupp“ (Suppe mit Pfannkuchenstreifen) und Mohnrahmkuchen. Davon träume ich heute noch. Kinder brauchen Großeltern, weil sie ihren Eltern nicht alles erzählen können. Jetzt hatte ich dazu niemanden mehr. Omi war weit entfernt und taugte dafür nicht.
1962 stand die Konfirmation an. Dies bedeutete ein Jahr Konfirmandenunterricht bei Pfarrer Dill. Dies ist ein gefährliches Alter für einen Pfarrer. Die Mädchen sind schon so gereift, dass die fleischliche Versuchung gottgegeben und vom Teufel gefördert ist. Die Buben verlernen in dieser Zeit das Raufen und tun heimlich mit den Mädchen. Zigaretten, Alkohol, Drogen, wilde Tänze, lose aufreizende Kleidung tun ihr übriges. Pfarrer, Eltern und Lehrer sind überfordert. Ihr bestes Erziehungsmittel, die Prügelstrafe, war gerade abgeschafft worden. Die Konfirmation dient dazu, die Taufe, die ohne Zustimmung der Babys stattfindet, zu bestätigen. Christ oder kein Christ? Für mich war dies außerfrage: Ich wollte soundso Theologie studieren. Also galt es das Glaubensbekenntnis und die Psalmen auswendig zu lernen. Es gab nur die Evangelischen. Ich hatte keine andere Wahl. Mein Schulfreund Eberhard Staal, genannt Ebi, war katholisch. Und ein anderer, in einer Parallelklasse im Gymnasium, jüdischen Glaubens. Außerdem war bereits die Konfirmationsfeier im Frühjahr 1962 festgesetzt. Onkel, Tanten und Paten waren eingeladen. Es war undenkbar, die Taufe nicht zu bestätigen. Zur Konfirmationsfeier gibt's Geschenke. Dieser Gedanke zerstreute alle Bedenken. Pfarrer Dill erklärte mir dazu, dass die Katholiken und Andersgläubigen selbst schuld seien, wenn sie zur Konfirmation nichts bekämen. Das leuchtete mir ein. Also ging's mit Freude ans Glaubensbekenntnis-und Psalmenlernen. Die Gretchenfrage wurde verschoben. Das Lernen aber war ein Muss, denn es bestand die Gefahr, dass man durch die Konfirmationsprüfung fiel. Dies war aber genauso schlimm, wie ein Katholik zu sein. Die Minuten vor dem Konfirmandenunterricht und danach waren sündig. Die koketteren Konfirmandinnen wurden von den pubertierenden Jungen „ausgnomme“ (betatscht). Die Mädchen bekamen einen Klaps zwischen ihre Beine und fingen an albern zu kichern. Die Burschen freute ihre Tat. Dies geschah ungeniert in aller Öffentlichkeit, Pfarrer Dill war dagegen machtlos. Sein Gelaber von der Sünde spülte die Natur weg. Die aufkeimende Sexualität stellt sich gegen Moral und Gesetz. Davon profitiert auch die Kirche. Das „Ausnehme“ ist das Pfeffer und Salz im Konfirmandenunterricht. Ohne dieses hätten einige den Unterricht geschwänzt. Arme Katholiken, die das nicht miterleben dürfen! „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ Psalm 23. Dies war mein Psalm. Ich musste ihn auswendig lernen. Ihn fragte Pfarrer Dill immer ab. Deshalb kam ich zu der Erkenntnis, dass in der Konfirmandenprüfung dieser Psalm der meine sei. So war es denn auch. Am Konfirmandentag, dem 31.3.1963 schritten alle Konfirmandinnen und Konfirmanden feierlich in die Weinbrennerkirche ein. Meinen Konfirmandenanzug hatte ich von meinem Paten Heinerle geschenkt bekommen. Dies war etwas voreilig, weil das Geschenk schon vor der Prüfung überreicht worden war. Ich fühle mich darin nicht so recht wohl, der weiße Kragen kratzte. Dann saßen wir alle in der ersten Reihe, die Mädchen links, die Buben rechts. Die Patinnen und Paten hinter uns und oben auf der Altane die übrige Verwandtschaft. Die Glocken verstummten. Die Orgel setzte ein und alle sangen: „Eine feste Burg ist unser Gott.“ Nach der Predigt von Pfarrer Dill begann die Prüfung. Alle Kirchenältesten saßen links und rechts vom Pfarrer. Der Reihe nach mussten wir unsere Psalmen und Sprüche vortragen. Rechts von mir saß der Küster der Gemeinde, Herr Deuscher, „Kärcheschlingel“ (Kirchendiener), genannt. Der konnte alle Psalmen und Sprüche auswendig. Während der Prüfung sprach er sie halblaut mit. Blieb einer der Prüflinge stecken, so war dies nicht schlimm. Er musste nur nachsprechen, was der Küster vorsagte. So kamen wunderbarerweise mit Gottes und des Küsters Hilfe alle durch die Prüfung. Ich erhielt den Spruch, Römer 8, 31: „Ist Gott für uns. Wer mag wider uns sein“! Erleichtert strömten die Konfirmandinnen und Konfirmanden aus der Kirche. Es ging nach Hause zum Konfirmandenessen. Im ehemaligen Kindergartensaal war angerichtet. Das Festessen war meines Vaters größte Freude. Das Menü bestand aus, Gorgelessupp (Markklöschensuppe), gekochtem Rindfleisch mit Meerrettich, Kartoffeln, mit Beilagen, eingemachtem badischen Kalbfleisch mit breiten Nudeln und verschiedenen Früchtedesserts, und dort warteten die Geschenke. Von meiner Patentante und Cousine Lore, der zweiten Tochter von Onkel Emil und Tante Auguste, bekam ich das gewünschte Paddel für mein Schlauchboot und von meinem Paten, Pfarrer Heinrich Lilli, eine goldene Uhr. Von Omi bekam ich einen Siegelring mit meinen Initialen „F. W.“. Es gab auch eine Menge Geld. Seit dort war ich reich. Die Konfirmation ist eine tolle Sache. Ich verstehe nicht, warum nicht alle Menschen sich konfirmieren lassen: Die Mädchen lassen sich gern „ausnehme“ und man wird reich!