Читать книгу Weltreise in 70 Jahren - Band I - Friedbert Wittum - Страница 14

Kapitel 1

Оглавление

Im Jahr 1960 wechselte ich in das Melanchthon-Gymnasium in Bretten. Dort herrschten andere Sitten. Da ich erst nach der sechsten Klasse ins Gymnasium wechselte, war ich der Älteste. Trotz alledem dauerte es eine Weile, bis ich von allen Mitschülern im Gymnasium mit Respekt behandelt wurde. Von Wössingen gingen noch einige ins Gymnasium, nämlich Klaus Wacher, Arndt Weidel, Günter Sillinger und Eleonore Doms. Aus Jöhlingen kam noch Eberhard Staal dazu. Hildegard Schulze war schon zwei Jahre vorher auf's Gymnasium gegangen.

Der Religionsunterricht fand in der Grundschule gegenüber statt, wo sich das Denkmal von Melanchthon befindet. Grund war der Platzmangel, das neue Gymnasium wurde erst zwei Jahre später gebaut. Dekan Urban, eine körperlich mächtige Gestalt, leitete den Unterricht. Er betrat immer den Klassensaal mit den Worten „Kinder öffnet die Fenster, lasst die Sonne herein!“ Mich mochte er besonders gerne, da mein Onkel Heinrich Pfarrer war. Als ich ihm irgendwann beiläufig erwähnte, dass ich beabsichtige Theologie zu studieren, hatte ich die Note eins in Religion abonniert. Auch im Religionsunterricht beendet die Klingel die Stunde. So war es auch an diesem Tage. Arndt Weidel rannte, wie von schwerer Last befreit, vom Unterrichtszimmer in den Gang. Dort stieß er mit dem Hausmeister der Volksschule zusammen. Dies war ein ungehobelter kräftiger Mann, etwa 50 Jahre alt. Von den Kriegsereignissen war er stark traumatisiert. Die Toleranzgrenze bei Kindern war unterdurchschnittlich, so kam es fast jeden Tag vor, dass er sich irgendein Kind vorknüpfte und dieses verprügelte. Anlass dafür gibt es immer, denn die Kinder schreien und toben und werfen den Abfall auf dem Schulhof. Diesmal war der Anlass der Schmerz, welcher der Zusammenstoß mit Arndt Weidel bei ihm verursachte. Außerdem rempelt man eine Respektsperson nicht. Er wurde ganz rot im Gesicht, hob seine Hände, ballte diese zu Fäusten und prügelte hemmungslos auf den armen Arndt Weidel ein. Dekan Urban bewegte seine Masse noch elegant an den beiden Kampfhähnen vorbei und verschwand in Richtung Weißhoferstraße. Da griff ich ein. Der Hausmeister fiel nach hinten auf den Boden, ich setzte mich neben ihn und legte den Arm um seinen Hals. Dann drückte ich fest zu, er war im Schwitzkasten. Arndt Weidel hatte das Weite gesucht, während die übrigen Kinder um uns jodelnd herumstanden. Der Hausmeister lief rotblau an, seine Augen quollen stark heraus, während ich immer wieder zu ihm sagte „Gib uff“ (Gib auf). Endlich sagte er das erlösende Wort: „I gäb uff“ (Ich gebe auf). Die Kinder grölten vor Freude. Ich stand auf und verließ das Schulhaus und der Hausmeister ging ebenfalls seines Weges. Von dem Vorfall habe ich später nie mehr etwas gehört. Ich bin dem Hausmeister auch nicht mehr direkt begegnet. Seit dieser Zeit wurde ich von den Lehrern und den Mitschülern mit Respekt behandelt. Seltsamerweise ist seit diesem Tag niemand mehr in meinen Schwitzkasten geraten.

Weidel, Wacher, Sillinger und Staal und ich fuhren jeden Tag mit der Dampfeisenbahn von Wössingen nach Bretten und zurück. So bildete sich zwangsläufig zwischen uns ein Verbund. Da der Vater von Sillinger Berufssoldat war, kam ich auf die Idee eine Soldateneinheit zu bilden. Es gab daher einen Oberst (ich selbst), einen Adjutanten (Sillinger), und die Soldaten Weidel und Wacher. Es wurde strenger militärischer Drill geübt. Ich las dazu extra das Buch „08 15“ von Hans Helmuth Kirst. Die kleinsten Vergehen der Mannschaft bedeuteten zehnmal um das Gymnasium laufen, 30 Liegestützen machen oder einen Tag meinen Schulranzen tragen. Dem Buch entlehnte Worte, wie „Rohrkrepierer“, „Wurzelsau“ und „schleifen“ gehörten zum täglichen Sprachgebrauch. Zweimal in der Woche hatten wir auch nachmittags Unterricht, so dass wir den ganzen Tag in der Schule verbrachten.

Gefreiter Weidel befand sich gerade in einem Schulzimmer. Er hatte den Befehl niemanden in das Schulzimmer zu lassen, weil wir dort unsere militärische Ausrüstung ausgebreitet hatten. Er schloss deshalb die Tür ab. Plötzlich wurde an der Türklinke gerüttelt, dann gepoltert und gerufen „Aufmachen“. Weidel glaubte die Stimme eines Mitschülers aus der Parallelklasse zu erkennen und rief „Ich mach' Dir nicht auf“.

Das Poltern wurde aber heftiger und dringender. Weidel erinnerte sich an sein militärisches Wortkapitular und rief: „Tritt ab, du Wurzelsau“. Da sprang plötzlich die Tür auf und herein sprang ein wütender kleiner Mann. Er griff sich den Gefreiten Weidel und verprügelte ihn. Der kleine Mann war aber niemand anderes als der Gymnasialdirektor Dr. Kochendörfer. Das war auch seine letzte Prügeltat. Er wurde kurze Zeit später von Direktor Leinberger abgelöst.

Der Soldat Günter Sillinger hatte Interesse für Zigaretten und Mädchen. Er war mütterlicherseits mit mir über einige Ecken verwandt, und stammte vom Bruder Gustav meines Großvaters ab. In der Silvesternacht, führte er mich, meinen Bruder und Gerd Schulze zu einem Haus in der Nähe der Kirche in Wössingen. Es war das Haus der Fallers. Die Tochter Anne, etwa 14 Jahre alt, stand vor der Haustür. Einige mir bekannte Burschen waren bei ihr und berührten ihre Scham. Sie war unter ihrem Röckchen völlig nackt. Der Soldat Sillinger erklärte mir sachkundig das Geschehen. Dann bat er Gerd Schulze um eine Zigarette und meinen Bruder um Zündhölzer. Wir beide verschwanden daraufhin und überließen das übrige dem neuen Jahr.

Am Montag, den 7.11.1960, sprach mich in der Zehnuhrpause Klaus Wacher an. Er sagte, dass bei Studienrat Bläsi ab 15:00 Uhr eine interessante Veranstaltung sei. Ob ich da mitkäme. Es ginge um den Merkurtransit. Der Planet Merkur würde sich ab dieser Zeit vor die Sonne schieben und mit einem Spezialfernrohr könne man dies gut beobachten. Das wäre ein seltenes Ereignis und das nächste wäre erst wieder in zehn Jahren. Der Physiklehrer Bläsi habe dazu alles vorbereitet. Das interessierte mich nun überhaupt nicht. Als Klaus Wacher mir aber dann versprach, dass er in der Mittagspause meine Mathematikaufgabe löse, stimmte ich schließlich zu. Außer uns beiden erschien dann bei Studienrat Bläsi im Physikraum, einige Schüler aus der Abiturklasse und mit Verspätung ein Mädchen in unserem Alter aus der Parallelklasse. Studienrat Bläsi führte zuerst in das Phänomen des Merkurtransites ein und wir begaben uns dann nach außen, wo er ein Fernrohr aufgestellt hatte. Wir mussten schwarze Brillen überziehen und durften durch das Rohr sehen. Ich sah nichts Besonderes. Die Sonne erschien als gelbe Scheibe und davor war ein kleiner schwarzer Punkt. Studienrat Bläsi war wegen dieses schwarzen Pünktchens fast aus dem Häuschen, ebenso einige Schüler der Abiturklasse. Klaus Wacher war sichtlich etwas enttäuscht, sagte aber nichts. Endlich kapierte ich. Der kleine schwarze Punkt war der Merkur, der sich vor die Sonne schob. Unbegreiflich war mir auch, dass Menschen sich darüber freuen konnten. Zu dem Mädchen neben mir sagte ich: „Wegen so einem Pünktchen habe ich den ganzen Nachmittag vertrödelt“. Sie lächelte mich mit ihren blonden Augen an, stand auf und verschwand. Klaus Wacher und ich verzogen uns ebenfalls. „Wer war denn die da?“ fragte ich ihn. „Das ist die Brigitte Kicherer aus der A-Klasse", sagte er mir. Es ist seltsam, dachte ich, was mir Merkur so alles zeigt. Zur Strafe musste Klaus Wacher meinen Schulranzen tragen.

1960 fuhren wir in den Sommerferien mit dem Mercedes 180 D in Urlaub. Es ging in die Alpen. In St. Leonard in Südtirol hatte mein Vater ein Zimmer reserviert, wo wir dann abends auch eintrafen. Es reichte gerade noch zum Abendbrot. Todmüde fielen wir alle ins Bett. Doch plötzlich, ab 22:00 Uhr begann vor unserem Fenster ein Radauen und Rumoren. Italienische Sommerfrischler übten sich auf Amore. Autoreifen quietschten, Türen schlugen, Frauen kreischten, Paare küssten sich und schwatzten und laute Musik spielte auf. Mein Vater machte sich schon um 5:00 Uhr morgens vor der Haustür zu schaffen. Vor Langeweile putzte er die Schuhe. Nach Stunden kam die Hauswirtin. Er erklärte ihr, dass er es zu Hause ruhiger habe und er hier nicht bleiben könne. Also fuhren wir ab. Mein Bruder und ich waren herb enttäuscht. Wir hatten uns so auf die Berge gefreut. Wir haben alle Bücher von dem Bergsteiger Hermann Buhl gelesen, der als erster den Nanga Parbat allein bestiegen hatte. Also wollten wir bergsteigen und es Hermann Buhl gleich tun. Ich habe extra von der Seilerei in Wössingen Seile besorgt und einen alten Militärstahlhelm von Onkel Karl ausgeborgt. Wir waren gerüstet. Und nun das. Papa reiste einfach ab. Wir Buben protestierten und unsere liebe Mama schlug sich auf unserer Seite. In seiner Not fiel meinem Vater ein, dass Onkel Ludwig, der Kärcher Louis, zum Millstädtersee gefahren ist. Er rief dort an und tatsächlich besorgte Onkel Ludwig ein Zimmer für uns. Also fuhren wir Richtung Millstädtersee. Kurz nach der Abfahrt stotterte der Dieselmotor und blieb stehen. Mein Vater schimpfte fürchterlich auf die Italiener und den Dieselkraftstoff, den sie sicherlich mit Wasser vermischt hätten. Nach gefühlten Stunden kam endlich eine Art italienischer ADAC, der den Diesel mit einer Pumpe, die sich am Motor befand, wieder in Gang setzte.

Dies kostete so viel wie eine ganze Übernachtung. Deswegen war mein Vater ziemlich verärgert und passte nicht richtig auf, denn der Motor ging wieder aus. Er startete den Motor verzweifelt, dieser sprang nicht an. Er startete und startete, rief unverständliche Dinge, klopfte mit der Faust aufs Lenkrad, wurde ganz rot im Gesicht und sprang schließlich aus dem Auto. Ich wartete nur noch darauf, dass meine Mutter die Worte sprach: „Hättest du doch gleich einen VW gekauft“. Aber der Mensch ist gelehrsam, sie schwieg.

In den sechziger Jahren fuhr man ein Dieselfahrzeug noch mit Heizöl. Dies war billiger. Ein Abgasskandal war unbekannt. In jener Zeit räucherten die Dieselfahrzeuge mit ihrem Heizöl die nachfolgenden Fahrzeuge und die Umgebung mit dunklem Rauch ein. In Italien war dieses Phänomen weitgehend unbekannt. Mein Vater kam daher auf die Idee den Kraftfahrzeugtank mit Heizöl zu verfeinern. Mit einem Schlauch holte er daher einige Liter Diesel aus dem Tank heraus, was neben die Straße floss und füllte den Tank dann mit Heizöl aus dem Reservekanister auf. Er pfiff dabei und war wohl gelaunt. Der Motor sprang aber trotzdem nicht an. Meine Mutter schlug vor den italienischen ADAC erneut zu rufen. Das wollte mein Vater aber partout nicht. Dabei dachte er an das viele Geld, das er schon verloren hatte. Nun wollte es mein Bruder versuchen, er war immerhin schon 14 Jahre alt. Er drehte, glühte und zündete. Der Motor sprang an. Er war eben ein Glückskind. Die restliche Fahrt verlief friedlich und alle waren froh gestimmt. Nicht während der Fahrt und auch nicht später kam man auf den Vorfall zurück. Damals musste man ein Dieselfahrzeug noch vorglühen. Dieses Hindernis ist heute längst beseitigt. Glüht man das Fahrzeug aber nicht vor, springt der Motor nicht an. Nun, mein Vater war Kaufmann und nicht Techniker. Wir haben es ihm verziehen. Der Resturlaub am Millstädtersee war dann wirklich schön. Wir trafen auch Onkel Ludwig, Und nach 14 Tagen fuhr die ganze Familie gut erholt und mit vorgeglühtem Dieselfahrzeug nach Hause.

Weltreise in 70 Jahren - Band I

Подняться наверх