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Kapitel 7
ОглавлениеIn Wössingen änderte sich einiges.
Da der Ort mitten im Kraichgau liegt und fruchtbare, kalkige Böden hat, liegt seine Gründung in unvordenklicher Zeit. Schon die Kelten siedelten am Fuße des Lugenbergs und opferten an der Hungerquelle. Dort entspringt der Walzbach. Die Hungerquelle ist ein heiliger Ort. Oft war ich dort mit meinen Bandenkameraden und ich erzählte ihnen schaurige Geschichten. Es ging um Rituale und Menschenopfer. Wir rauchten Heggelehne (clematis vitalba) und amerikanische Zigaretten. Nichtmitglieder der Fribbebande wurden dort so lange getauft, bis sie Mitglieder waren.
Aber auch Geschäftsleute aus den USA interessierten sich für Wössingen. Die Kalksteine hatten es ihnen angetan. Rohstoffausbeute in unterworfenen Ländern ist die Spezialität der Amerikaner. 1950 wurde plötzlich ein Zementwerk gebaut. Es steht noch heute. Der höchste Zementturm von Baden ragt über die alte Weinbrennerkirche. „Der Teufel macht immer auf den größten Haufen“ sagt ein Sprichwort.
Früher hatten die Kirchen die höchsten Türme, heute sind es Geschäftshäuser der Konzerne, Versicherungen und Banken. Vor Jahren habe ich mich verleiten lassen, dem Zementkartell ein Grundstück zu verkaufen. Dies deshalb, weil mein Sohn Maxi ein entsprechendes Investment auf der Insel Borkum bot. Ich entschuldige mich jetzt förmlich vor meinen Vorfahren für dieses Sakrileg.
Die Zeit ab 1953 war aber auch die Zeit der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen. Der Großoffensive der Russen im Juni 1945 folgte ein Strom von Vertriebenen und Flüchtlingen. Es waren gut 10 Millionen, die in die entvölkerten Städte und Gemeinden von Deutschland einströmten. Auch in Wössingen wurden viele Schwabendeutsche aus Ungarn aufgenommen. Diese wurden teilweise in älteren Häusern, in Baracken bei der Kirche und dann in der neugebauten Siedlung beim Bahnhof verteilt. Sie ersetzen in der Landwirtschaft die verschwundenen Zwangsarbeiter und halfen beim Aufbau des Wirtschaftswunders. So beschäftigte mein Vater eine Frau Jahn, Frau Pechtl und Frau Lichtblau. Die Donauschwaben führten ihre Bräuche in Wössingen ein. Es gab plötzlich Paprika beim Mittagessen oder Pilze. Frau Pechtl war eine wunderbare Pilzsammlerin. Sie wohnte in einem kleinen alten Häuschen, das schon von weitem modrig nach Pilzen roch. Die Frauen der Donauschwaben trugen Kopftücher und waren alle katholisch. Seit dem 30-jährigen Krieg gab es keine Katholiken in Wössingen. Diese wohnten alle in Jöhlingen, dem Nachbarort und wurden „Kreuzköpfe“ genannt. Die beschimpften dagegen die Wössinger als „Mondspritzer“, weil die Feuerwehr den Vollmond mit einem brennenden Haus verwechselt hat oder weil die Wössinger Männer nur bei Vollmond aktiv werden. Eine Heirat zwischen Wössinger und Jöhlinger war tabu. Den Donauschwaben haftete ein weiteres Makel an, nämlich das Wort „Schwaben“.
Ein Badener und ein Schwabe passen nicht zusammen. Über Baden lacht die Sonne und über Schwaben die ganze Welt. So ist es und so bleibt es. Wegen des starken Zuzugs von katholischen Heimatvertriebenen in Wössingen wurde nun auch eine katholische Kirche gebaut. In Jöhlingen gibt es bis zum heutigen Tage keine evangelische Kirche. Das sind die ungerechten Folgen des verlorenen
Krieges. Es kam aber noch schlimmer. In späteren Zeiten hat Bürgermeister Adolf Schulze beide Gemeinden zusammengeführt und den Ortsnamen Walzbachtal erfunden. So muss der arme Walzbach von der Hungerquelle bis zur Mündung in die Pfinz bei Weingarten zuerst eine evangelische und dann eine katholische Gemeinde durchfließen.
Rechts neben dem Kolonialwarenladen meiner Oma war das Haus Ehrenfeuchter und dann kam das Gasthaus „Zum Lamm“ mit einer großen Metzgerei. Dies war das Reich von Metzgermeister Rudolf Dittes. Hier war ich oft und kann mich noch an die Düfte von frisch gekochtem Wellfleisch und Würsten erinnern. Hier gab es auch ein Bolzenschussgerät mit dem die Tiere geschlachtet wurden. Dabei dachte ich an meinen Freund Jörg. Poppel hatte mir einmal erzählt, dass ein amerikanischer Soldat den Jörg kurz vor seinem Tod belästigt habe. Dies sei im Bürgermeisteramt aber dann bereinigt worden.
Als ich fast zehn Jahre alt war, kam an einem orangefarbenen Junitag im Morgengrauen Schorschle zu mir. Er tat sehr geheimnisvoll. Er hatte offensichtlich die Weiblichkeit entdeckt. Bisher hatten wir untereinander Bilder und Abziehbilder von Indianern und Cowboys für wenige Pfennige getauscht. Nun zeigte er mir ein Heft mit nackten Frauen für das er eine Mark haben wollte. Ich war völlig perplex und wusste gar nicht, was ich damit anfangen sollte. Da Schorschle bereits ein Jahr älter war, als ich, zeigte er für diese Dinge offensichtlich reges Interesse. Nicht genug damit. Beim nächsten Bandentreffen brachte er ein etwa zehnjähriges Flüchtlingsmädchen mit. Diese stellte sich in unsere Mitte und zog sich ohne weiteres Aufheben völlig nackt aus. Dann durfte jeder von uns sie betasten, sie zog sich wieder an und verschwand. Dabei merkte ich, dass meine Magie als Bandenführer schwand. Unheimliche Kräfte um mich herum zogen meine Bandenmitglieder an. Die Welt war im Umbruch, die kindliche Leichtigkeit verloren. Das 10. Lebensjahr kündigte sich in der strahlenden Sonne des 5. Oktober 1958 an. Danach gab es die Fribbebande nicht mehr.