Читать книгу Das Buch, das viele Sprachen spricht - Friedhardt Gutsche - Страница 6

Оглавление

2. Gottes Wort und die anders geprägten Mitchristen ernst nehmen

Werner Siegert

„Ein Text und zehn verschiedene Meinungen! Wie soll da Gemeinde wachsen? Statt auf Gottes Wort zu hören, streitet man darüber, wer die Bibel recht versteht und wie sie allein richtig auszulegen ist“ – so in etwa empfindet es mancher Christ bei einem Bibellgespräch.

Kann man sich in der Grundbeziehung zu Jesus Christus eins sein und doch manche Bibeltexte unterschiedlich verstehen? Der Heilige Geist müsste doch um der Einheit willen für eine gemeinsame Erkenntnis sorgen! Oder stimmt es, dass er die Vielfalt sich ergänzender Einsichten und Erfahrungen liebt? Wie kommt es sonst, dass es unterschiedliche Glaubensformen gibt, dass Christen in anderen Kulturen und aus anderen Frömmigkeitstraditionen ihren Glauben anders ausdrücken als ich? Hängt es damit zusammen, dass Gott uns unterschiedlich geschaffen hat, wir also sehr verschiedenartige Originale aus seiner Schöpferhand sind?

Der Gott der Bibel ist ein persönlicher Gott, der uns allen gemeinsam in Jesus nahekommt – und er hat doch zugleich zu jedem Einzelnen eine ihm gemäße Beziehung. Ist dann die Vielstimmigkeit, die Vielfalt gottgewollt und eine Bereicherung für uns alle?

Von Paulus lernen

Es wird unter Christen immer wieder, z. T. auch leidenschaftlich, diskutiert, wie man die Bibel im Hinblick auf ihren Wortlaut auszulegen habe. Einigkeit darüber besteht bis heute nicht. Kann uns das Neue Testament bei dieser Frage weiterhelfen? Unter den Christen in Rom und in Korinth gab es lebhaften Streit über die Frage „Darf man Götzenopferfleisch essen oder nicht?“ Es gab gegensätzliche Meinungen, die sich jeweils durchaus auf Worte der Heiligen Schrift berufen konnten. Paulus nimmt in 1 Korinther 8-9 und in Römer 14-15 dazu Stellung, teilt allen seine persönliche Meinung mit (Röm 15,1), anerkennt aber, dass andere zu einer anderen Entscheidung kommen (14,1.7).

Paulus nimmt ernst, dass es verschiedenartige Persönlichkeitsstrukturen gibt (1 Kor 8,7ff) und drängt darauf, diese Unterschiede unter Christen zu respektieren. Die eigene Erkenntnis anderen aufdrängen oder gar aufzwingen zu wollen, kann den Glauben des anders strukturierten Christen sogar zerstören! Ganz ähnlich argumentiert er in Römer 14-15. Er will, dass wir die Verschiedenartigkeit unter Christen würdigen: „Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest? Er steht und fällt seinem Herrn. Er wird aber stehen bleiben; denn der Herr kann ihn aufrecht halten … Was richtest/verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden … Und jeder von uns wird für sich selbst Gott Rechenschaft geben … Lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander“ (Röm 14,4.10.12.19). Weist nicht auch Jesu Warnung, einander kein Ärgernis zu bereiten (Lk 17,1.2), in die gleiche Richtung?

Jeder Mensch ist von Gott als unverwechselbares Original geschaffen; bei aller Ähnlichkeit unter uns Menschen gibt es doch auch erhebliche Unterschiede.

Seitdem ich einige der vielen Persönlichkeits-Typologien genauer zur Kenntnis genommen habe, kann ich viel entspannter mit manchen Zügen meines eigenen Naturells umgehen, aber ebenso mit der Art anderer Christen, auch und gerade im Blick auf unseren manchmal recht unterschiedlichen Umgang mit der Heiligen Schrift.

Typologien als Hilfe

Einige Schlaglichter auf verschiedene Typologien, die alle ihren Wert, aber auch ihre Grenzen haben, mögen das verdeutlichen. Bekannt ist die alte Unterscheidung zwischen introvertierten und extravertierten Menschen ferner die Vierer-Typologie Choleriker, Sanguiniker, Melancholiker und Phlegmatiker im Blick auf unterschiedliche Temperamente. 1989 ist erstmals das „Enneagramm“ der christlichen Theologen Richard Rohr und Andreas Ebert erschienen, die die menschlichen Charaktere noch weiter differenzieren und neun Persönlichkeitstypen unterscheiden. Ihre Aufteilung kann zu mehr Verständnis unseres unterschiedlichen Umgangs mit der Bibel beitragen.

Hilfreich ist auch die Vierer-Typologie nach Fritz Riemann in seinem oft aufgelegten Buch „Grundformen der Angst“. Er unterscheidet Menschen nach ihrer Grundangst: die Angst vor Nähe oder Distanz, vor Veränderung oder Dauer. Riemanns Kennzeichnungen erhellen meines Erachtens auch gut unsere unterschiedliche Wertschätzung bestimmter biblischer Bücher:

Die einen lieben besonders die Evangelientexte, die Jesus in seiner liebevollen Zuwendung, seiner Nähe zu einzelnen Menschen schildern, tun sich aber schwer mit eher lehrhaften Briefabschnitten, z. B. von Paulus, die sie als abgehoben und distanziert empfinden. Andere bevorzugen gerade diese Texte und solche biblischen Abschnitte, die theologische Gesamtzusammenhänge oder wichtige Einzelthemen darstellen und sie denkerisch herausfordern. So können sie mit einem gewissen Abstand alles bedenken und systematisch zuordnen.

Anderen ist wichtig, dass Gott unwandelbar ist; sie beziehen dies meist nicht nur auf seine Treue, sondern ebenso auf seine Gebote und Weissagungen. Worte des Alten Testaments und Aussagen des Neuen Testaments sind ihnen gleich wichtig und gleich richtig.

Wieder andere betonen dagegen, dass Gott ein lebendiger, liebender und damit wandelbarer Gott ist, der nicht starr an seinen Anweisungen und Drohungen – um der Menschen willen – festhält, dass er frei ist, sein Nein in ein Ja zu ändern. Seine Liebe ist nicht starr, sondern offen für neue Möglichkeiten. Sie verweisen auf die angekündigte Vernichtung durch die Sintflut und den sogenannten Noahbund (1 Mo 6,5-7 und 8,21-23), sie denken an Jona und Ninive (Jona 3,4-10 und 4,9-11) oder an die Verkündigung des Propheten Hosea in Kap 11. Und sie erinnern vor allem an Gottes völlig neues Heilshandeln in Jesus. Sie lieben zudem die Texte vom Wachsen in der Gotteserkenntnis und vom oft überraschenden Handeln des Heiligen Geistes.

Jesus und sein Umgang mit der jüdischen Bibel

In diesem Zusammenhang sei auch auf Jesu Umgang mit seiner „jüdischen Bibel“, unserem Alten Testament, hingewiesen. Viele Aussagen hat er Wort für Wort übernommen und bestätigt; bestimmte Anweisungen der Tora, des göttlichen Gesetzes, aber hat er als alt im Sinne von vergangen erklärt, so z. B. die Speisegebote und Opferriten in 3 Mo 11 u. ö. Der Umgang mit Feinden, Fremden und Frauen ist durch Jesus gegenüber dem Alten Testament weitgehend verändert worden. Das zeigt: Frühere Anweisungen Gottes sind nicht automatisch für alle Zeit und für jede Situation gültige Worte. Hier ist ein Hören auf das Gesamtzeugnis der Bibel wichtig, aber ebenso das Beachten der Erkenntnisse der Mitchristen früher und heute. Und da ist unser Gebet notwendig, vor allem die Bitte um die Leitung des Heiligen Geistes, der uns in alle Wahrheit leiten kann und soll (Joh 16,13f).

„Nehmt einander an, so wie Christus euch angenommen hat“ (Röm 15,7)

Wir haben es oft erlebt: Christen unterschiedlicher Prägung und Persönlichkeitsstruktur können, wenn sie einander achten und ernsthaft aufeinander hören, auch bei unterschiedlichem Schriftverständnis voneinander lernen und einander helfen, sich den Worten der Heiligen Schrift intensiver und mit neuem Interesse zu öffnen. Dann ergänzen sich nahezu gegensätzliche Auslegungen eines biblischen Textes trotz allem gegenseitig und lassen etwas vom Reichtum des Wortes Gottes aufleuchten. Zugleich tragen Austausch und Zusammenarbeit unterschiedlich geprägter Christen dazu bei, Einseitigkeiten zu vermeiden, die nicht dem Gesamtzeugnis der Bibel gemäß sind. Unterschiede im Verständnis nicht so zentraler Fragen werden vermutlich bleiben, dies sollte aber das genannte Bemühen nicht hindern.

Wenn wir unterschiedlich geartete Christen unter dem einen Herrn miteinander verbunden bleiben und uns gegenseitig ergänzen, kann auch unser Glaubenszeugnis gegenüber Außenstehenden vielgestaltiger sein. Deutlich ganz auf das jeweilige Gegenüber bezogen, so wie Jesus sich einzelnen Menschen immer individuell und unterschiedlich zugewandt hat, offenbar in Achtung ihrer jeweiligen Eigenart und Lebenssituation. Paulus hat diese Art und dieses Ziel für die missionarische Arbeit in 1 Kor 9,19-22 entsprechend aufgenommen und so ausgeführt: Den Juden wie ein Jude, den Griechen wie ein Grieche, den Schwachen wie ein Schwacher!

Es ist unsere Aufgabe, uns jedem Menschen individuell und so flexibel wie möglich zuzuwenden, damit jede(r), soweit es an uns liegt, zum Glauben finden oder im Glauben ermutigt und gestärkt werden kann.

Das Buch, das viele Sprachen spricht

Подняться наверх