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Kapitel 1
Freitag, 30. Mai, Estadio Conde Rodolfo Crespi, São Paulo
ОглавлениеDie Tote lag auf dem Fußballfeld im Anstoßkreis. Die Finger der linken Hand berührten die weiße Linie. Der rechte Arm lag direkt neben dem Körper. Ihre Augen waren geschlossen. Es war ein friedliches Bild, trotz der verklebten Haare. Die blonde Frau sah aus, als ob sie schliefe. In ihrem Gesicht war kein Blut zu sehen. Nur auf der Stirn klaffte ein kleines hässliches Einschussloch.
Als Kommissarin Gabriella Gil mit ihrem Chef Duarte von der Mordkommission der Polícia Civil im Estadio Conde Rodolfo Crespi eintrafen, brauchten sie keinen Arzt, um den Mord festzustellen. Der Tatort war mit einem gelb-schwarzen Plastikband abgesperrt. João Russo kniete in einem weißen Overall auf dem Rasen und suchte mit einer Pinzette nach Spuren. Die Kommissarin schätzte die blonde Tote auf 20 bis 30 Jahre. Das starre Gesicht eines toten Menschen machte der Kommissarin immer noch zu schaffen. Gil schaute auf die leeren Ränge mit den blauen und roten Sitzen. Sie entdeckte einen anderen Polizist im weißen Overall, der an einem drei Meter hohen Metallzaun entlang lief, der das Gelände von einer Straße trennte.
„Die haben hier eine schöne Anlage“, meinte Duarte und prüfte mit seinem rechten schwarzen Schuh die Festigkeit des Rasens. „Dabei dümpeln die seit Jahren in der zweiten Liga herum. Letztes Jahr wären sie fast abgestiegen.“
Gabriella Gil nahm ein Kaugummi aus ihrem Rucksack. „Was macht die Frau mit einer Kugel im Kopf mitten auf dem Fußballfeld? Wer hat uns die Tote gemeldet?“
„Der Verein Juventus São Paulo wurde vor fast 100 Jahren von italienischen Einwanderern gegründet. Ein Onkel von meinen Vater hat hier auch einmal gespielt.“ Duarte blickte versonnen auf die Ränge. „Schöne Anlage. Die müssen im Geld schwimmen. Da ist doch dieser Buda Großsponsor.“
„Buda wer?“
„Na dieser Walter Buda, der Vizepräsident des brasilianischen Fußballverbandes. Der ist mit Ethanol und mit Bauprojekten reich geworden. Als kleiner Junge hat er hier mal Fußball gespielt. Ziemlich schlecht, wie mein Onkel mir erzählt hat. Bankdrücker in der zweiten Mannschaft. Aber jetzt sorgt sein Geld dafür, dass sie so einen schönen Rasen haben.“ Duarte spuckte auf das saftige Grün. „Der Anruf kam von dem Platzwart.“
Gil drehte sich um und lief Richtung Tribüne. Dort stand ein drahtiger kleiner Mann im Trainingsanzug. Er grinste verlegen mit seinem faltigen Gesicht. Sein Haar war immer noch dunkel. Als er den Mund aufmachte, fehlte einer seiner Vorderzähne.
„Jeden Morgen komme ich kurz vor acht Uhr hier ins Stadion und schließe die Tür auf und sehe nach dem Rechten. Das mache ich schon seit elf Jahren. Nie ist etwas passiert. Gut, wir hatten schon zweimal einen Einbruch.“ Der Mann kratzte sich am Kopf. „Nee, es waren sogar drei Einbrüche. Aber außer ein paar Bällen und einmal die Eintrittsgelder eines Spiel ist nichts gestohlen worden. Eine Leiche hatten wir noch nie.“
„Wann haben Sie die Tote entdeckt?“
„Zehn Minuten nach 8 Uhr.“
„Mein Name ist Gil, ich bin Kommissarin bei der Polícia Civil im Bezirk Santo Amaro und ermittle. Ich möchte sie als Zeugen vernehmen.“ Sie nahm ihr Diktiergerät aus ihrem Rucksack und drückte auf den Knopf. „Freitag, 30. Mai 2014. Protokoll der Vernehmung von ….“
„Ich heiße Rossi, Ricardo.“
„Wie alt sind Sie? Wo wohnen Sie?“
„72 Jahre. Paulista seit Geburt. Ich wohne in der Rua João Caetano 352.
„Also wohnhaft in São Paulo. Sie haben doch eben gesagt, dass Sie kurz vor acht das Tor schon aufgeschlossen haben.“
Der hagere Mann kratzte sich am Kopf. „Ja, aber ich gehe immer zuerst in die Umkleidekabinen und schaue nach, ob die Duschen abgedreht sind und alle Fenster geschlossen. Erst als ich raus kam, fiel mir die Frau auf dem Rasen auf.“
„Wann haben Sie die Frau genau entdeckt?“
„Wie gesagt, 8:10 Uhr.“ Der Alte hielt den Arm mit seiner Uhr hoch.
„Kennen Sie die Frau?“
Er schüttelte den Kopf. „Die habe ich noch nie gesehen. Keine Ahnung, wer die arme Seele ist.“
Es blitzte. Aus dem Augenwinkel sah Gil, wie Russo von der Spurensicherung mit seiner Digitalkamera Fotos vom Tatort machte.
„Ist Ihnen in den letzten Tagen etwas aufgefallen? Gab es irgendetwas Besonderes?“
Der Mann legte seine Stirn in Falten. „Es war eigentlich wie immer. Die Mannschaften kommen zum Training. Na ja, durch die Weltmeisterschaft hat die Winterpause schon früher begonnen und die ganzen Jugendmannschaften trainieren nicht mehr. Aber ein paar ältere Herren kommen, um miteinander zu spielen.“
„Wann wird das Stadion geschlossen?“
„Das hängt vom Trainingsbetrieb ab. Gestern Abend war ich um 22 Uhr hier und habe eine halbe Stunde vor Mitternacht das Tor abgeschlossen. Manchmal trinken wir noch ein Bier nach dem Training.“
Die Kommissarin drückte auf Stopp und steckte das Gerät in den Rucksack. „Geben Sie bitte Ihren Namen und Ihre Adresse Hauptkommissar Duarte, der dort hinten steht. Wir brauchen natürlich auch Namen und Telefonnummern des Vereinspräsidenten sowie der verantwortlichen Trainer. Und die Namen der Spieler.“
„Sie meinen alle Spieler?“
„Geben Sie uns die Liste der Spieler! Wie viele Personen sind das?“
Rossi zuckte mit den Schultern. Dann musste das Duarte mit dem Präsidenten des Vereins klären. Inzwischen stand neben dem grünen Rasen ein grauer Plastiksarg. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit noch nicht beendet. Die beiden Männer, die die Leiche in die Pathologie transportieren sollten, standen hinter dem Tor und rauchten eine Zigarette.
Warum lag die blonde Frau mitten auf den Fußballplatz? Spielte sie Futbol oder war sie mit einem Fußballer liiert? War das eine Botschaft für die Fußballweltmeisterschaft, die in zwei Wochen begann?
João Russo stellte sich neben Gil und schob die weiße Kapuze zurück. „So eine Leiche habe ich noch nie gesehen. Sie wurde richtig auf den Rasen drapiert.“
„Habt ihr Spuren gefunden?“
Russo schüttelte den Kopf. „Nichts. Es gibt keine Schleifspuren. Der Rasen wurde erst vorgestern gemäht und ist ziemlich kurz. Ich konnte nirgends Fußabdrücke identifizieren. Zu trockenes Wetter und zu kurzer Rasen. In der Hose der Toten waren nur ein altes Taschentuch und etwas Kleingeld. Keine Papiere.“
„Was macht dein Kollege am Zaun?“
„Der prüft nach, an welcher Stelle die Täter auf das Gelände gekommen sind. Hoffentlich findet er Spuren, die uns weiterhelfen.“ João Russo rieb sich seinen Fünftagebart. „Was machst du eigentlich hier? Bist du nicht zu dieser Spezialeinheit versetzt worden?“
Gil nickte. „Heute ist mein letzter Arbeitstag. Zum Abschied eine Frauenleiche. Ab Montag bin ich bei Gol, um im Dienste der brasilianischen Regierung zu helfen, dass wir in der Weltöffentlichkeit ein gutes Bild abgeben. Gol São Paulo – klingt doch gut oder?“
Russo lachte. „Du machst Karriere und ich muss hier versauern.“ Leise sagte er: „Ich werde dich vermissen. Wie soll ich das ohne dich mit Sabão aushalten?“
„Seid ihr bald fertig hier?“ Die Stimme des Chefs war nicht zu überhören. „Vielleicht lädt die schöne Kommissarin uns alle zum Abschied zu einem Aperitif in einer Bar ein?“
Gil hätte gerne gesagt, da kannst du lange darauf warten. Aber sie schwieg. Das war sicher das Beste an ihrem Stellenwechsel, dass ihr dieser Chef erspart blieb. Nun roch sie das aufdringliche Parfüm von Sabão, der Seife, wie Duarte von allen heimlich genannt wurde. Sabão stand dicht hinter ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter. Sie schüttelte ihn ab wie eine lästige Fliege und lief über den Rasen zur toten blonden Frau. Sie brauchte frische Luft. João hatte Recht. Das Opfer war auf dem Rasen drapiert worden.
So leicht ließ sich Duarte nicht abschütteln. Sie konnte sein Parfüm schon wieder riechen. Er betrachtete den Körper der Toten. „Schade, dass sie tot ist. Die Kleidung sieht billig aus. Hoffentlich meldet sich jemand, der das Mädchen kennt.“
Mit langsamen Schritten betrat Emilio Lappa das Spielfeld. Wie immer trug er einen dunklen Anzug mit einer Fliege. Ein weiteres Markenzeichen dieses wortkargen Staatsanwaltes war seine runde Brille und die streng nach hinten gekämmten graue Haare. Der Staatsanwalt begrüßte mit einem Nicken die beiden Ermittler. Lappa blickte kurz auf das Opfer. Von Duarte ließ er sich über den Stand der Ermittlungen informieren. In ihrer blauen Jeans und dem schwarzen Kapuzenpulli kam sich Gil etwas underdressed vor. Ungefragt berichtete sie von der Vernehmung des Platzwartes.
„Noch heute ordne ich die Leichenöffnung in der Pathologie an. Ich werde beim Ermittlungsrichter die Beschlagnahmung des Mitgliederverzeichnisses des Fußballvereins Juventus beantragen. Möglicherweise rückt der Verein die Unterlagen auch so heraus. Aber sicher ist sicher. Informieren Sie mich über den Fortgang der Untersuchung so wie immer.“ Er warf noch einen Blick auf die tote Frau. Dann ging er gemächlich zurück. Die Kommissarin sah, dass er sein linkes Bein leicht nachzog.
Als der Staatsanwalt verschwunden war, meinte Duarte: “Immer korrekt gekleidet unser Herr Staatsanwalt. Aber auch alt geworden. Ich dachte, er ist schon in Pension.“
Die Kommissarin schwieg und stieg über das gelb-schwarze Band. Die Tote trug ein blaues Shirt und verwaschene Jeans. Ihre Füße steckten in billigen Turnschuhen. Am Rücken war das Shirt etwas hochgerutscht und man konnte einen blauen Fleck entdecken. Sie zog dünne weiße Gummihandschuhe an und schob den Hosenbund etwas nach unten. Nun sah sie, dass es sich um ein etwa fünf Zentimeter großes Tattoo handelte. Zwei Hände gingen wie Schalen nach oben, darüber war ein Herz mit einem Kreuz.