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Kapitel 3
Mittwoch, 4. Juni, 8:15 Uhr, Favela Nova Jaguaré, São Paulo
ОглавлениеGabriella Gil wippte mit ihrem Fuß. Ruhig bleiben und tief durchatmen. Ohren auf Durchzug stellen und nicht aufregen. Als Kommissarin gelang es ihr in brenzligen Situationen die Ruhe zu bewahren. Als Tochter fiel es ihr schwer. Ihre Mutter hatte wieder diesen Blick drauf. Diesen „Ich-mein-es-doch-nur-gut-Blick“, den sie immer aufsetzte, wenn sie ihr Ratschläge erteilte.
„Du musst ausgehen, um endlich einen Mann kennenzulernen. Denk an dein Alter!“
Sie saß mit ihrer Mutter in der engen Küche und trank einen Espresso. Der Duft aus der kleinen Tasse erfüllte die ganze Küche.
„So einen guten Kaffee kochst nur du.“ Sie hatte einfach keine Lust auf dieses Gespräch. „Mamãe, was quälst du dich aus dem Bett. Es war gestern doch bestimmt spät.“
„Der Film hatte Überlänge. Die Herrschaften kamen erst kurz vor Mitternacht nach Hause. Der Senhor war leicht angetrunken. Deshalb hat mich die Senhora nach Hause gefahren.“
„Waren die Kinder brav?“
Andrea Gil lachte. „Manuel ist schon 14 und José bereits 12. Aber ihre alte Baba haben die beiden immer noch gern. Sie kommen mit mir besser aus als mit ihrer Mutter. Ich koche ihr Lieblingsessen und rieche nicht so streng nach Parfüm.“
„Wenigstens bezahlen sie dich ordentlich.“
Ihre Mutter nickte. „Sie zahlen sogar etwas für die Rente, so wie es die Regierung vorgesehen hat. Aber anstrengend ist es trotzdem.“
Gabriella Gil streichelte mit ihrer Hand die Wange ihrer Mamãe. Sie sah müde aus. „Du musst dich mehr um dich kümmern. Du solltest auch mal wieder ausgehen.“
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. „Wer soll mich mit 51 noch wollen...“
„52 Jahre um ganz genau zu sein!“
„Ach, hör schon auf! Um dich mache ich mir Sorgen. Denk daran wie alt du bist. Noch siehst du gut aus, man könnte denken, dass du erst 29 bist, vielleicht sogar 28, dabei bist du doch schon 32. Und die biologische Uhr tickt. Du darfst nicht nur an deinen Beruf denken, sonst wirst du niemals einen passenden Mann finden. Geh aus! Oder geh wenigstens ins Internet oder wo auch immer man heute einen Ehemann findet.“
„Du weißt selbst am besten, dass man ganz gut ohne Mann klar kommen kann. Du hast mich ohne Vater groß gezogen.“
Andrea Gil seufzte: „Gabi hör auf! Der Blödmann hat mich sitzen lassen. Deshalb habe ich dich ganz allein groß gezogen. Du sollst nicht den gleichen Fehler machen.“
Ein kleiner Schmerz zog durch Gabriellas Unterleib. Sie musste an Luiz, das Schwein, denken. Die Geschichte ihrer Mutter wiederholte sich. Nur ohne Kind. Als kleines Mädchen hatte sie erlebt, wie ihre Mutter versuchte noch einen Ehemann zu finden und vielleicht sogar einen Vater für ihre Tochter. Aber die Geschichten gingen nie gut aus. Sie stand auf und lief ins Bad und hielt ihr Gesicht unter das Waschbecken. Seit ihrer Trennung von Luiz lebte sie wieder bei ihrer Mutter. Anfangs dachte sie nur vorübergehend. Bis Luiz wieder bei Besinnung ist. Doch ihr Ex-Verlobter kam nicht zur Besinnung, sondern heiratete dieses Miststück auch noch. Sie kam aus dem Bad und goss sich am Gasherd den Rest des Espresso ein.
„Du siehst mit deinen dunklen Haaren wirklich passabel aus.“ Ihre Mutter ließ einfach nicht locker. „Du hast meine schönen Beine geerbt, meine Intelligenz, seine Auffassungsgabe, leider auch seine etwas zu breite Nase. Du wirst aber nicht jünger!“
Eine Polizeisirene ertönte. Noch nie hatte sich Gil so sehr über ihr Diensthandy gefreut.
Capitão Paulo Mineiro war am Apparat. „Wir haben einen Einsatz im Hotel Marriott in Morumbi. Hast du schon gefrühstückt?“
Gabriella Gil lächelte: „Ich wollte mich gerade auf den Weg zum Bus machen. Was machen wir in diesem Luxushotel?“
„Frühstücken natürlich. Es ist leider dienstlich. Ein Offizieller vom Brasilianischen Fußballverband hat uns angefordert. Ich kann dich mit dem Polizeifahrzeug unterwegs auflesen. Wo können wir uns treffen?“
„Am besten an der Endstation der Buslinie 423b. Da können wir uns in einer Viertelstunde treffen.“
Mineiro räusperte sich. „Noch etwas, Gabriella. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber zieh dir was Ordentliches an. Da kannst du nicht im Kapuzenpulli kommen.“
Gil wollte eine Antwort geben, aber er hatte schon aufgelegt. Sie steckte das Handy in ihre Tasche und aß den halben Keks auf. „Ich habe einen wichtigen Einsatz.“ Sie hauchte ihrer Mutter einen Kuss neben die Wange, dann rannte sie in ihr Zimmer und riss ihren Kleiderschrank auf. Sollte sie in Polizeiuniform kommen? Irgendwo musste noch der graue Hosenanzug sein, den sie damals zum bestandenen Examen an der Polizeiakademie gekauft hatte. Als sie sich mit dem Anzug im Spiegel betrachtete, war sie stolz, dass sie seit damals noch kein Gramm zugelegt hatte.
Den Weg zur Bushaltestelle lief sie im Laufschritt. Es roch nach Zement und Bauschutt. Auf der linken Seite wurden vier neue Wohnblöcke hochgezogen. Ihre Mutter gehörte zu den glücklichen Paulistas, die in einem Neubauprojekt der Favela Jaguaré wohnten. In einer Fernsehsendung über Jaguaré nannte eine Schweizer Architektin diese städtebaulichen Maßnahmen ein „Upgrade der Favela“.
Die Leute an der Bushaltestelle glotzen sie an wie einen Alien. Sie wusste nicht, ob es an dem Hosenanzug lag oder dass sich inzwischen herumgesprochen hatte, dass sie Polizistin war. Sie grüßte eine Frau mit einem Kind, mit der sie vor vielen Jahren die Schulbank im Viertel gedrückt hatte. Die war wirklich fett geworden. Mineiro war noch nicht zu sehen. Sie schaltete ihr Smartphone ein und gab in ihre Suchmaschine „Marriott São Paolo“ ein. Kurze Zeit später erschien die Homepage des Luxushotels mit 28 Stockwerken im vornehmen Stadtteil Morumbi direkt neben der Brücke. Der Hotelkomplex verfügte über Tennisplätze, Saunen, Schwimmbäder, Fitnessräume und einen großen Konferenzraum.
Sie lief auf und ab. Seit dem Anruf waren schon drei Busse vorbeigekommen. Noch war kein Fahrzeug der Polícia Civil in Sicht. In der 20-Millionen-Metropole São Paulo brauchte man Geduld und gute Nerven.
Mit quietschenden Reifen hielt ein schwarzes Fahrzeug mit getönten Scheiben. Das Auto mit dem rotgrünen Wappen der Polícia Civil de Estadio São Paulo wurde von einigen Wartenden mit großem Misstrauen beäugt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ein Mann rasch sein Smartphone einsteckte.
Mineiro drückte sofort aufs Gaspedal und schlängelte sich durch den dichten Verkehr. Der Capitão trug seine schwarze Dienstuniform. Auf dem Rücksitz lag seine Offiziersmütze. Er schlüpfte in eine Lücke und fuhr dicht auf die Fahrzeuge auf.
„Ich bin beeindruckt. Der Anzug steht dir wunderbar.“
„Das ist nichts gegen deine Dienstuniform“, entgegnete Gil.
„Die Leute im Mariott sollen gleich wissen, mit wem sie es zu tun haben. Im Luxushotel wohnen während der Weltmeisterschaft Vertreter des Fußballweltverbandes. In der Suite des Assistenten des Generalsekretärs gab es einen Einbruch. Deshalb hat der nationale Fußballverband sich sofort an unsere Spezialeinheit gewandt. Wir sollen ermitteln.“
„Kamen Personen zu Schaden?“, fragte Gil.
Mineiro bog bei roter Ampel links ab. „Nur Sachschäden. Es ist peinlich, dass etwas entwendet wurde. Das ist Wasser auf die Mühlen der Menschen, die sagen, dass Brasilien ein Land der Verbrecher ist.“
„Dabei hat doch die Polícia Militar mit ihren Spezialkräften in den Favelas von São Paulo und Rio de Janeiro brutal aufgeräumt. Die haben sogar Panzer eingesetzt.“ Gil deutete auf das Foto, das vorne am Armaturenbrett klebte. „Ist das deine Familie?“
Mineiro lächelte wie ein sattes Baby. „Das sind meine Mädels. Meine Töchter Selena, Sofia und Martha. Und Monica, meine Frau. Du kannst dir nicht vorstellen, wie anstrengend das für mich ist, als einziger Mann im Haus. Immer krieg‘ ich alles ab, was Männer in unserem Land falsch machen. Das ist eine Menge!“
„Och, der arme Capitão.“ Sie hörte plötzlich auf zu lachen. In diesem Augenblick beneidete Gil ihren Chef für sein Glück.
Mineiro bremste. Vor ihnen stauten sich die Autos auf der zweispurigen Straße nach Osten. Etwa fünfzig Meter vor ihnen hielten Demonstranten bunte Schilder hoch. Einige Plakate forderten die kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs. Andere eine bessere Bezahlung für die Lehrer an öffentlichen Schulen. Auf einem Transparent, das zwei junge Frauen hoch hielten, stand „Fifa go home“.
Militärpolizisten drängten die Demonstranten von der Straße ab. Sie setzten ihre schwarzen Schlagstöcke ein.
„Das ist die neue Taktik der Demonstranten. Sie gehen nicht mehr in die Nähe der Stadien, wo es eine hohe Polizeipräsenz gibt, sondern tauchen an verschiedenen Orten der Stadt auf“, meinte Gil.
„Könnte gut sein, dass zwei meiner Töchter bei der Demo mitlaufen. Gestern gab es bei uns einen großen Streit, weil Sofia unbedingt mit ihrer älteren Schwester dabei sein wollte, und wir sie aufforderten, zur Schule zu gehen.“
„Wie alt ist Sofia?“
„Sie ist 15 und eifert ihrer großen Schwester in Sachen Rebellion bedenklich nach“, seufzte Mineiro. „Ich kann ja verstehen, dass sie gegen Korruption und Geldverschwendung auf die Straße gehen. Aber doch nicht Schule schwänzen! Meine Frau macht es wütend, wenn sie wegen solcher Sachen ihre Zukunft aufs Spiel setzen. Die Debatten bei uns zu Hause sind ganz schön hitzig.“ Er schnaufte. „Ich habe natürlich auch Angst, dass ihnen was passiert. Die Polícia Militar ist nicht zimperlich.“
Endlich waren die Demonstranten weitergezogen und ein Militärpolizist winkte die Fahrzeuge durch.
Gil war gespannt, was sie im Luxushotel erwartete.