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Kapitel 2
Dienstag, 3. Juni 2014, 11 Uhr über dem Atlantik
ОглавлениеAls Christian Forte die Augen öffnete, blickte er in das bleiche Gesicht eines Mannes. Erschrocken fasste Forte an den Hals des Mannes. Gott sei Dank, war der Puls regelmäßig zu spüren. Der bärtige Mann schnappte nach Luft und döste weiter.
Forte sah durch das kleine Fenster auf die weißen Wattestreifen. Mit der deutschen Fußballnationalmannschaft flog er zur Weltmeisterschaft nach Brasilien, die in zehn Tagen begann. Mindestens drei Wochen würde er die Fußballer und Funktionäre bei dem Turnier begleiten. Falls Deutschland ins Finale kam, konnten daraus leicht sechs Wochen werden.
Es war ein Tag nach Sabines Geburtstag, als der Anruf kam. Die Aprilsonne schien in sein Arbeitszimmer und er korrigierte einen Relitest über die Säulen des Islam. Das Telefonat kam aus Hannover, der Zentrale der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Worte des Oberkirchenrates klangen noch in seinem Ohr: „Können Sie sich für die Fußballweltmeisterschaft ein paar Wochen frei machen?“ Für einen Augenblick glaubte Forte an einen Scherz. Doch er sprach tatsächlich mit Oberkirchenrat Rust, der für den Bereich Kirche und Sport zuständig war. „Pastor Heinz Adler hatte die letzte Märzwoche leider einen schweren Skiunfall. Der Arme ist noch einige Wochen im Krankenhaus. Wir suchen dringend einen Ersatz für ihn.“ Forte konnte sich an Heinz erinnern. Der Franke besaß einen strammen rechten Schuss und war ein echter „Clubberer“. Das Pech von Heinz war nun sein Glück.
Christian Forte hatte nicht lange überlegen müssen. Das war eine einmalige Chance, die nie wieder in seinem Leben kommen würde. Er sagte dem Oberkirchenrat spontan zu. Schwieriger war es, Sabine von dieser Auslandsreise zu überzeugen. Seine Frau verachtete Fußball. Sie wetterte gegen die hohen Gehälter der Spieler und die Gewalt in den Stadien. Nach 20 Jahren kannte er seine Frau so gut, dass er wusste, wie er sie umstimmen konnte. Seine Taktik war aufgegangen. Er machte seine Tochter Deborah und seinen Sohn Samuel zu seinen Verbündeten. Der zwölfjährige Sam war mächtig stolz auf seinen Vater. Forte versprach ihm hoch und heilig einen Weltmeisterschaftsball mit den Unterschriften aller deutschen Nationalspieler mitzubringen. Die Vertretung in der Schule übernahm ein Pfarrer im Ruhestand.
Ein Kopf kullerte auf seine Schulter. Monsignore Michael Braun schlief immer noch. Vorsichtig schob er dessen barocken Körper in die Sitzmitte. Mit dem musste er es jetzt ein paar Wochen aushalten. Er stand auf und kramte in seinem Rucksack nach dem Portugiesisch-Kurs, den ihm Sabine zum Abschied geschenkt hatte. Die Sprache fiel ihm nicht so schwer, da er als Kind häufig mit seinen Eltern bei den Verwandten in Kalabrien war.
„Wollen Sie einen Kaffee oder Wasser oder ein Glas Wein?“ Die junge Stewardess zeigte ihre weißen Zähne.
„Haben Sie einen guten trockenen Rotwein?“ Der Monsignore weilte wieder unter den Lebenden. „Und eine Tasse Kaffee.“
„Kaffee, Espresso oder Capucchino?“
„Einen normalen deutschen Kaffee bitte!“ Braun reckte sich. „Trinken Sie auch ein Glas Wein?“
Forte schüttelte den Kopf: „Nicht so früh am Morgen.“ Er lächelte die Stewardess an. „Für mich einen Espresso bitte und ein Glas Wasser!“
Sie prosteten sich mit Wasser und Wein zu. „Auf gute Zusammenarbeit!“ Braun nahm einen tiefen Schluck und ließ den Wein genießerisch die Kehle hinunter rinnen
„Wie kommen Sie zu dieser ehrenvolle Aufgabe“, fragte Forte. „An Ihren fußballerischen Fähigkeiten wird es nicht liegen....“
„Das ist jetzt keine Anspielung auf meine Körperfülle.“ Brauns Miene verfinsterte sich kurz. „Während meines Studiums an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt war ich zweimal ein halbes Jahr in Angola bei den Brüdern dort. Deshalb spreche ich fließend Portugiesisch.“ Er nahm noch einen Schluck Wein. „War nicht Pfarrer Adler für diese Aufgabe vorgesehen?“
„Leider kam Heinz Adler ein Skiunfall dazwischen. Sein Pech war mein Glück. Kennen Sie den Spruch ‚Der Mensch denkt, Gott lenkt‘?“
„Ich kenne sogar die Vergangenheitsform: ‚Der Mensch dachte, Gott lachte.‘“ Braun gluckste selbst am lautesten über seine Bemerkung. „Dann wollen wir einmal mithelfen, dass die Nationalmannschaft gut abschneidet. Zu unserem Team gehören ein Sportpsychologe und eine Trainerin für Entspannungstechniken. Ich bin eigentlich fest davon ausgegangen, dass wir in diesem Jahr auch einen Imam dabei haben.“
„Ah, Sie haben sich schon bekannt gemacht!“ Eine drahtige Frau mit grauer Kurzhaarfrisur stand plötzlich neben ihnen im Gang. Forte hatte Barbara Schuster Anfang Mai bei einem Vortreffen in der Zentrale des Fußballbundes in Frankfurt als rechte Hand des Organisationschefs kennengelernt. Sie war ihm von Anfang an unsympathisch. Er wusste nicht, ob es an ihrem gebräunten Gesicht oder an ihrer herrischen Art lag.
Forte streckte sich in seinem Sitz. „Ich hoffe, unsere langen Abwehrrecken haben im Flugzeug etwas mehr Beinfreiheit. Es wäre doch schade, wenn unsere Nationalmannschaft auf dem Flug vom Verletzungspech heimgesucht wird.“
Barbara Schuster grinste. „Da können Sie ganz beruhigt sein. Unsere wertvollen Spieler haben natürlich mehr Beinfreiheit. Wie Sie wissen, sind unsere Nationalspieler schon im Trainingslager in Mexiko. Ich bin überrascht, dass Pfarrer über Humor verfügen.“
Forte schaute sie an: „Da können Sie sich noch auf einiges gefasst machen. Ab wann kommen die Nationalspieler in unser WM-Quartier?“
„In einer Woche erwarten wir sie in unserer Residenz am Atlantik. Ich gehe davon aus, dass sie beide auch zu den Spielen unserer Mannschaft wollen. So ein bisschen Beistand von ganz oben wird unseren deutschen Kickern nicht schaden.“