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Das Dorf war nicht wieder zu erkennen. Was ein paar Tage vorher still und phlegmatisch im Sonnenlicht gelegen hatte, war jetzt voll quirligen Lebens. Menschen schoben sich durch die Dorfstraße, wo jedes Haus, jeder Platz verwandelt und in eine andere Zeit versetzt schien. Vor einem winzigen, windschiefen Häuschen mit weit offenen Türen stand ein streng aussehender älterer Herr im Frack und schwang eine riesige Glocke, woraufhin sich einige Meter weiter ein paar Jungen in alten, kurzen Hosen und Mädchen mit Zöpfen eilig in Bewegung setzten. Alle trugen uralte Schulranzen aus grobem Leder auf dem Rücken. Im Hof nebenan präsentierte sich ein Hochzeitspaar in strenger schwarzer Tracht vor einem großen Heuwagen, auf dem sich die Aussteuer befand: ein riesiges Federbett, geflochtene Körbe, Geschirr, auch etliche Nachttöpfe, Stühle, Kisten und Kästen. Daneben war eine Bauernstube aufgebaut, in der die Hochzeitgäste aus altem Geschirr Kaffee tranken. Große Reklameschilder, von denen die Farbe abblätterte, von Brauereien, die längst nicht mehr existierten, zierten den Eingang einer alten Kneipe, in deren Innerem eine Jukebox dröhnte. Man konnte in die gute Stube eines Bauernhauses schauen, in einem original eingerichteten Krämerladen alte Postkarten und selbst gehäkelte Topflappen kaufen, dem Hufschmied bei der Arbeit zusehen, Kinder auf Pferden reiten lassen, beobachten, wie unter der Hand eines Töpfers Krüge und Becher entstanden, oder durch einen duftenden Kräutergarten wandern.

Die Leute hatten Erstaunliches auf die Beine gestellt.

„Lass uns da mal hingehen“, sagte Langer und zeigte in den Hinterhof eines kleineren Fachwerkhauses, in dem sich ein großes Spanferkel langsam am Spieß drehte.

„Wir hatten doch gerade erst Kaffee und Kuchen!“

„Wann gibt’s schon mal Braten frisch vom Spieß! Nun komm schon!“

Kurz darauf suchten sie sich, jeder mit einem Teller, Besteck und einem Glas jonglierend, einen Platz an den Biertischen und setzten sich aufatmend.

„Geht ganz schön in die Füße.“

„Hm.“ Langer war bereits dabei, mit dem Plastikbesteck das Fleisch zu zerschneiden, was keine ganz leichte Aufgabe war.

„Prost Paul!“ Gerda hob ihr Glas. „Ist wirklich interessant hier, hätte ich nicht gedacht.“

„Sag ich doch“, brummte Langer unter Kauen.

„Paul? Langers Paul?“, sagte da plötzlich eine Stimme neben ihm.

Sie schauten auf und gewahrten einen Mann Mitte Fünfzig, der sie mit trüben Augen anblickte. Noch fülliges braunes Haar zierte seinen Kopf, breite Schultern und riesige schwielige Hände, die ein Bierglas hielten, zeugten von harter körperlicher Arbeit.

„Klar, das musst du sein. Susanne hat doch gesagt, dass du mal wieder in der Gegend bist.“ Er sagte es in einem Ton, als sei Langer vor vier Wochen und nicht vor vierzig Jahren das letzte Mal in Heubach gewesen.

„Heiner Hellermann! Na, das ist aber schön, jemanden von früher zu treffen.“ Langer reichte ihm die Hand. „Meine Frau Gerda.“

Hellermann nickte in ihre Richtung. „Extra zur Jubiläumsfeier gekommen?“

„Nein, eher Zufall. Aber wenn wir schon mal in der Nähe sind, dachten wir … Wie geht’s denn so?“

Heiner Hellermann zuckte die Schultern. „Könnte besser sein. Und du bist jetzt wirklich bei der Polizei?“

„Ja“, kam es knapp von Langers Seite. „Du hast jetzt den Hof deiner Eltern, habe ich gehört?“

Hellermann nickte geistesabwesend und stand plötzlich auf. „Tschuldigung, bin gleich wieder da.“ Sie sahen ihn an den Ausschank gehen und kurz darauf mit einem neuen Bier und drei kleinen Schnapsgläsern zurückkehren.

„Das muss doch gefeiert werden, Leute!“

Er stellte jedem einen Glas hin. „Prost!“

„Prost, Heiner!“

Die Männer kippten den Schnaps, Gerda nippte.

Mit einem Knall landeten die Gläser wieder auf dem Tisch, und Hellermann sah Langer auffordernd an. Der brauchte ein paar Sekunden, bis er aufstand und murmelte: „Die nächste Runde geht auf mich“, und nach ein paar Minuten mit zwei Gläsern zurückkam. Er wusste, dass Gerda ihren ersten kaum würde trinken können, wenn sie noch fahren wollte.

„Prost, Paul!“

„Prost!“

Wieder klatschten die Gläser auf das Holz des Tisches.

Man hörte den Mendelsohnschen Hochzeitsmarsch, gespielt in der dudeligen Version eines Leierkastens, und jemand rief: „Platz für das Brautpaar!“ Die Musik kam näher, und das düstere, schwarz gekleidete Paar von eben schritt gemächlich die Dorfstraße entlang, vor ihnen ein würdevoller Pastor, hinter sich eine ebenso schwarz gewandete Hochzeitsgesellschaft. Kleine Mädchen streuten Tannenzweige auf die Straße.

Die Leute klatschten.

„Ist das eine Hochzeit oder eine Beerdigung?“, versuchte Langer zu scherzen, als der Zug vorbei war.

„Wo ist da schon der Unterschied“, brummte Hellermann und wandte sich wieder seinem Bier zu. „Noch einen?“

„Nein“, sagte eine Stimme hinter ihnen. „Heiner, ich glaube, du hast genug.“ Susanne Meister war an den Tisch getreten und lächelte den Langers freundlich zu. Mit den Augen und einem leichten Kopfschütteln gab sie ihnen zu verstehen, dass Hellermanns Alkoholpegel bereits das verträgliche Maß überschritten habe.

„Ach Susanne, Susannchen, du bist zu hart mit mir!“ Hellermanns Stimme klang weinerlich und er lehnte den Kopf soweit zurück, bis er auf Susannes Bauch lag.

Sie schob ihn sanft beiseite. „Komm, steh auf und geh nach Hause!“

Mühsam tat der Bauer, wie ihm geheißen. Als er auf seinen wackeligen Beinen stand, beugte er sich ungeschickt zu Susanne hinab. Wieder wehrte sie ihn ab und schob ihn in Richtung einer kleinen Gasse, durch die man eine große Wiese und dahinter ein Gehöft erkennen konnte.

„Heiner, s‘schickt! Moch dich heim!“

Hellermann ging langsam in die angegebene Richtung, drehte sich auf halbem Wege noch mal um und rief Langer zu: „Fast wie in alten Zeiten, Paul, fast!“

Susanne hatte Hellermanns Platz am Biertisch eingenommen und schüttelte den Kopf. „Hat‘s noch nie leicht gehabt, der Heiner. Früher mit seinem Vater – erinnerst du dich, Paul, was für ein brutaler Mensch der war? – jetzt die Frau weg, Hof auch bald weg, und dann?“ Sie zuckte hilflos mit den Schulten „Trotzdem hat er es bis jetzt immer noch hingekriegt mit dem Hof, irgendwie.“

„Er scheint immer noch ein Faible für dich zu haben“, meinte Langer.

Susanne lächelte traurig, ging aber nicht auf die Bemerkung ein. „Normalerweise trinkt er nicht so früh, weiß auch nicht, was mit ihm los ist.“ Sie sah Gerda an. „Man kennt sich schon so lange, und nimmt Anteil. Auf dem Dorf ist das anders als in der Stadt.“

„Toll, was ihr alles geleistet habt“, meinte Langer und sah sich um. „Da hat wohl jeder mitgeholfen, wie?“

„Oh ja, auch wir haben vieles vom Speicher und aus dem Keller geholt. Jürgen ist ganz versessen auf den alten Kram.“

„Aus Opas Speicher? Da haben wir in den ersten Jahren immer Verstecken gespielt, weißt du noch?“

„Ja, das war so schön unheimlich!“ Sie lächelte. „Der war immer noch voll mit Gerümpel, als wir das Haus gekauft haben.“

Langer lachte. „Oh ja, Opa war ein großer Sammler, der konnte nichts wegwerfen. Als Oma noch lebte, gab es regelmäßig Krach deswegen. – Ihr habt also das Haus dann gekauft?“

Er erinnerte sich vage, dass das alte Haus einige Jahre leer gestanden hatte, weil sich die Erbengemeinschaft – sein Vater und dessen Geschwister – nicht recht hatte einigen können …

„Ja, ziemlich bald nach der Hochzeit.“ Sie zeigte auf eine Ecke der Dorfstraße, in der alte Wagenräder, Eggen, Dreschflegel, Butterfässer, Heugabeln, Pferdegeschirre und vieles mehr ausgestellt waren. „Jeder im Dorf hat für das Fest seine Scheunen und Keller durchforstet. Auch Jürgen ist in alle Ecken gekrochen. Da vorne zum Beispiel, der alte Bauernschrank, der in der Brautstube steht – voll mit altem Trödel war der –, den haben Jürgen und noch zwei Jungs vom Boden runtergehievt. Frag nicht, was das für ein Gedönse war.“ Sie zwinkerte Gerda zu. „Wenn Bürohengste schon mal arbeiten!“

Gerda lachte wissend.

Susanne schaute auf die Uhr. „Aber jetzt gehen wir ins Zelt, ja? Die Musik fängt bald an!“

Ach Gott ja, die Musik, dachte Gerda und wappnete sich.

Langer sah sich um. „Bist du allein? Wo ist denn dein Jürgen?“

„Ach, der kommt sicher nach. Er ist diese Woche noch auf Fortbildung, wollte aber heute zurück sein.“ Sie seufzte kurz. „Sein Problem, wenn er nicht Nein sagen kann.“ Entschlossen stand sie auf. „Kommt, damit wir noch einen guten Platz kriegen!“

Es wurde ein fantastischer Abend. In dem brechend vollen Festzelt stiegen Stimmung, Lautstärke und Alkoholpegel von Minute zu Minute und proportional zueinander. Regisseure der ersten beiden waren die Waldbuben, die routiniert und mit durchschlagendem Erfolg eine Mischung aus Rock, Pop und Volksmusik hinlegten, die das Zelt zum Kochen brachte. Gerda eingeschlossen, die sich irgendwann im Arm eines gestandenen Heubachers wiederfand, der sie nach allen Regeln der Kunst und des Discofox‘ herumschwenkte.

Aufgekratzt rief sie ihrem Mann zu, der von der drei Mal geschiedenen Marga Krantzfeld – Langer einen halben Kopf überragend – über die Tanzfläche geschoben wurde: „Die Jungs sind wirklich gut. Ganze sieben Minuten haben sie gebraucht, um anständige Musik zu spielen!“

Heiner Hellermann war am späteren Abend von zu Hause zurückgekehrt, wo er seinen mittäglichen Rausch einigermaßen ausgeschlafen, viel Kaffee getrunken, geduscht und sich in Schale geworfen hatte. Jetzt sah er gar nicht so übel aus, als er, über das ganze Gesicht strahlend, mit Susanne Meister der Aufforderung Twist again like we did last summer nachkam. Auch der stille Peter, Lehrer mit Hund und dominanter Ehefrau, amüsierte sich musikalisch mit einer jungen Frau aus dem Dorf, während die Angetraute im Rotenburger Reihenhaus die Kinder hütete. Und schließlich waren da noch Roswitha Müller-Miller im Dirndl und ihr Steve in Krachledernen, die den Weg aus Shelby, Montana, nach Heubach gefunden hatten und hingebungsvoll around the clock rockten.

Bevor die Musik richtig laut wurde, hatte man sich ausgiebig über die alten Zeiten ausgelassen, nach jedem Schnaps festgestellt, wie schnell doch die Zeit verging und ernsthaft geschworen, sich öfter zu treffen. Susanne musste sich ein paar Sticheleien gefallen lassen, weil Jürgen Meister nun doch nicht mehr gekommen war; allerdings schien es Langer, als würde sich keiner so wirklich darüber wundern.

„Nee, der Jürgen, der ist für Party nicht zu haben“, sagte Heiner im Vertrauen zu ihm. „War schon immer eine Schlaftablette, weißt du doch.“

Langer nickte und grunzte befriedigt.

„Hat aber viel bei der Vorbereitung geholfen“, warf Marga ein. „Das muss man ihm lassen.“

Felix Schulze oder seinen Bruder Wolfgang hatte keiner erwähnt ...

Es war fast zwei Uhr morgens, als sich die Langers auf den Weg in ihr Hotel machten. Gerda hatte so gut wie nichts getrunken und steuerte den Wagen, Langer döste auf dem Beifahrersitz mit einem seligen Lächeln im Gesicht. Als der Passat auf dem Parkplatz hielt, fuhr er erschrocken auf und sah irritiert um sich.

„Wo …? Ach so.“ Ächzend erhob er sich und hievte seinen rundlichen Körper aus dem Wagen. „Und jetzt ab ins Bett.“ Er streckte sich und gähnte lauthals. „Aber schön war‘s, gell, Gerda?“

„Brüll‘ doch nicht so rum, die schlafen doch schon alle … Ach, schau mal, wer kommt denn da auch noch so spät?“

Ein großer Wagen hatte sich fast lautlos in die andere Ecke des Parkplatzes geschoben, nur der Kies knirschte leise unter den schweren Rädern. Die Lichter erloschen, Türen öffneten sich und fielen mit gedämpften Plopps wieder zu.

„Die Liebigs“, raunte Gerda.

„Stimmt, das ist ihr BMW. Aber warum flüsterst du denn so? Warum sollen die nicht auch ihren Spaß gehabt haben?“ Doch auch er blieb stehen und beobachtete, wie die beiden Gestalten gesittet und leise dem Hoteleingang zustrebten.

„Jetzt komm schon, ich bin hundemüde.“ Gerda sah sich ungeduldig nach ihm um.

„Warte noch eine Sekunde, bis die ihren Schlüssel haben und im Aufzug sind. Hab jetzt keine Lust, denen zu begegnen.“

Tod im Salz

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