Читать книгу Tod im Salz - G. T. Selzer - Страница 5

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Die unbelebte Landstraße zog sich durch Wälder und Wiesen, Langer saß am Steuer, Gerda einigermaßen entspannt daneben, das Radio dudelte leise.

„Was ist denn das?“ Gerda zeigte nach vorne auf einen schneeweißen, etwa zweihundert Meter hohen Tafelberg, dessen gesamte Höhe ein riesiges Plateau, etliche hundert Meter lang, bildete.

„Ein Salzberg. Eine Abraumhalde aus der Kalisalzproduktion. Die Leute sagen ‚Monte Kali‘ dazu.“ Er warf einen schnellen Blick zur Seite. „Himmel, ist der groß geworden!“

„Schön ist anders“, murmelte Gerda in sich hinein. „Aber immerhin wohl so was wie eine Attraktion für die Gegend hier, oder?“

Langer antwortete nicht, sondern konzentrierte sich auf die Straße.

Endlich passierten sie das Ortsschild Heubach und Langer sah sich aufmerksam um, was seiner Fahrsicherheit nicht eben zugute kam. Schließlich fuhr er auf der Hauptstraße in der Nähe einer kleinen Kirche an den Rand. Die Straße lag still und leer im nachmittäglichen Sonnenlicht. Über ihnen im Haus, vor dem sie parkten, wurde, von ihnen unbemerkt, eine Gardine zurückgezogen.

„Das ist es. Das Haus meiner Großeltern.“

Er zeigte auf ein vorbildlich restauriertes Fachwerkhaus auf der anderen Straßenseite. Rechts davon fiel der Blick durch ein offenes Tor auf einen großen, gepflegten Hof mit Pflastersteinen. Große Terracottatöpfe mit Oleander waren bereits aus dem Winterquartier gebracht worden und bildeten grüne Inseln; ein großes Scheunentor im Hintergrund war zugleich Abschluss und Beginn für etwas Neues.

„Oder besser, war es“, meinte er sinnend.

Gerda sah sich um. „Schön. Und jetzt? Willst du noch ein bisschen durchs Dorf fahren?“

Langer reagierte nicht. „Es hat sich viel verändert.“

„Wie lange warst du nicht mehr hier? Fast vierzig Jahre? Was erwartest du?“

„Ja, aber ich kannte hier alles wie meine Westentasche. In jeden Oster- und Sommerferien war ich hier, sogar noch in den ersten Semestern der Polizeihochschule ab und zu.“ Er brach ab und blickte weiter über die Straße hinüber in den Hof. „Wer da wohl jetzt wohnt?“

„Du wirst die Leute ohnehin nicht kennen.“ Eine leichte Ungeduld schwang in Gerdas Stimme mit. „Du hast es jetzt gesehen, was machen wir jetzt?“

Plötzlich kam eine Katze aus der Haustür in den Hof hinausgeschossen, fast gleichzeitig fegte eine Frau über die beiden Stufen, setzte der Katze nach und schimpfte lachend: „Jetzt isser schon wieder entwischt!“

Die Katze war auf einen riesigen Hibiskusbusch geflüchtet, dessen Zweige, säuberlich gestutzt, noch auf das erste Grün warteten. Dort blieb sie sitzen und sah gelassen auf ihr Frauchen herab.

„Du dummer Peter“, lockte die Frau, „nun komm schon runter!“ Sie streckte sich und holte den Kater vorsichtig aus den Ästen. Er schien nichts dagegen zu haben.

„Nun mach schon,“ sagte Gerda, „Lass uns fahren.“

Langer reagierte nicht, sondern starrte geistesabwesend auf die Szene im Hof.

„Du kannst nicht so lange hier stehen bleiben, wie sieht das denn aus! In so einem Dorf fällt man doch sofort auf!“

Die Frau war tatsächlich stehen geblieben und sah nun, den Kater auf dem Arm, über die Straße auf den parkenden Pkw. Langsam überquerte sie den Hof und trat auf die Straße hinaus. Es war eine attraktive Mittfünfzigerin mit ungebändigten, schwarzen Locken – bereits mit etlichen grauen Strähnen durchzogen, doch noch so dick, dass sie nur mühsam durch das Haargummi im Nacken gehalten wurden. Eine Strähne fiel ihr ins Gesicht.

„Jetzt hast du‘s. Sie hat uns entdeckt – was soll die Frau nur von uns denken?“ Gerda wurde zunehmend unruhig. „Nun fahr schon los.“

„Die schwarze Susanne!“, flüsterte Langer und sah gebannt auf die Frau, die nun langsam die Straße überquerte. Ohne auf den verständnislosen Blick Gerdas zu achten, öffnete er die Fahrertür und stieg aus.

Die Frau starrte ihn an.

„Paul?“, fragte sie leise, dann lauter. „Paul? Mein Gott, das gibt’s doch nicht! Der Paul Langer!“

Den Kater mit der Linken mühsam an sich klammernd, hielt sie ihm die rechte Hand hin und lachte. „Ich fass‘ es nicht. Der Paul Langer is mal wieder in Heubach!“

Sie sprach den leichten Singsang des Osthessischen, der schon an Thüringen erinnerte und mit der Frankfurter Diktion nichts mehr gemein hatte.

Langer war hochrot im Gesicht geworden, ergriff die Hand der Frau und stammelte hilflos: „Hallo Susanne.“ Er wies auf Gerda, die inzwischen ebenfalls ausgestiegen war. „Äh … das ist meine Frau Gerda. Susanne Dengelmann, eine alte Freundin aus Heubach.“

„Nee, nicht mehr Dengelmann, ich hab‘ doch den Jürgen geheirat‘.“ Sie drehte sich zu Gerda um. „Susanne Meister.“

Diese nahm die dargebotene Hand und betrachtete die Frau neugierig. Ein paar Sekunden stand die kleine Gruppe nebst Kater beieinander und versuchte, mit der unerwarteten Situation fertig zu werden. Zwei Krähen schossen durch die Luft und ließen sich krächzend auf der Kastanie neben der Kirche nieder. Ein lang gezogenes Quietschen zeigte das Bremsen eines Zuges ganz in der Nähe an.

Plötzlich bog ein Motorrad um die Kurve, preschte die Hauptstraße hinab und machte ihnen lautstark ihre ungünstige Position nahezu mitten auf dem Asphalt bewusst. Der Kater, zu Tode erschrocken von dem Höllenlärm der rasenden Suzuki, riss sich aus Frauchens Arm los, rannte über die Straße in den Hof und war mit einem Satz wieder auf dem Hibiskus.

Susanne schüttelte lachend den Kopf und strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. „Der wird es einfach nicht müd´, das Spielchen. Und immer wieder auf den selben Busch.“ Sie sah Langer an. „Kommt doch rein, ich mach‘ uns einen schönen Kaffee, dann können wir ein bisschen von alten Zeiten reden!“

Bevor noch Gerda entsetzt abwehren konnte, hatte Paul Langer, der die ganze Zeit seinen Blick nicht von Susanne gelöst hatte, genickt.

„Eine prima Idee. Wir stören doch hoffentlich nicht?“ Dass seine Frage rein rhetorisch gemeint war, bewies die Tatsache, dass er bereits an der Fernbedienung des Autoschlüssels herumfingerte und kurz darauf ein leises Piepen ertönte, gefolgt vom Plopp der niedergehenden Schließknöpfe an den Fenstern.

Einigermaßen fassungslos beobachtete Gerda ihren Mann, der schon Anstalten machte, die Straße zu überqueren. Notgedrungen folgte sie den beiden. Der Kater ließ sich ebenso widerstandslos vom Hibiskus pflücken wie beim ersten Mal.

Sie betraten einen niedrigen Flur und kamen in eine große, gemütliche Wohnküche. Im Vorbeigehen drückte die Hausfrau auf den Knopf eines Kaffeeautomaten und holte drei Becher.

„Hab‘ sogar noch ein bisschen Kuchen von gestern“, meinte sie, während die Kaffeemaschine lautstark ihre Arbeit aufnahm. „Bin gleich wieder da.“

„Machen Sie sich doch keine Umstände!“, rief Gerda ihr nach und drehte sich, kaum war Susanne aus dem Zimmer, fauchend zu ihrem Mann um: „Was um alles in der Welt soll das denn jetzt?“

Langer schien endlich aus seinem tranceähnlichen Zustand zu erwachen und lächelte seine Frau glücklich an. „Da staunst du, was? Jetzt sitzen wir hier doch tatsächlich in der alten Küche von Opa zusammen!“

Gerda starrte zurück. „Und wer ist – sie?“ Sie deutete auf die Tür, durch die Susanne Meister verschwunden war.

„Ach, Susanne“, Langer seufzte. „Susanne wohnte damals mit ihren Eltern ein paar Häuser weiter und wir – na ja ...“

Wieder wurde er rot wie ein Siebtklässler vor dem ersten Date. Seine Frau beobachtete ihn zunehmend beunruhigt. Das war nicht ihr Paul, den sie seit fünfunddreißig Jahren bemutterte.

„Also, ihr hattet mal was miteinander?“

Langer zuckte hilflos die Schultern, nickte, wiegte den Kopf, hob unschlüssig die Hände.

„Ja, was denn nun?“

„Na ja. Nein. Ja. Fast ...“ Ein tiefer Seufzer.

Plötzlich grinste Gerda ins sich hinein und stieß Paul mit dem Ellbogen sanft in die Rippen. „Du musst dich nicht aufführen wie ein Klosterschüler; das ist doch ewig her.“

Kleine Pause. Scharfer Blick.

„Ist es doch, oder?“

„Was? Ja, natürlich!“ Paul wandte ihr endlich den Kopf zu und sah sie entgeistert an. „Was dachtest du denn?“

„Na ja, du stellst dich an ...“

Sie brach ab, als Susanne mit einem großen Kuchenteller an der Tür erschien. Langer sprang auf und nahm ihn ihr ab, was Gerdas Augenbrauen in die Höhe schießen ließ. Sie selbst erhob sich ebenfalls und nahm drei Teller aus dem Gestell neben der Spüle.

„Dass Sie sich so viel Arbeit mit uns machen! Sie haben doch sicher zu tun – ich meine, der Hof und so.“

Susanne füllte die Tassen und setzte sich. „Hof? Ach so, nein, wir haben keine Landwirtschaft. Mein Mann – Jürgen Meister, du erinnerst dich doch, Paul, oder?“ Langer nickte dumpf. „Also Jürgen arbeitet in Bad Hersfeld auf dem Finanzamt, ich arbeite zwanzig Stunden die Woche in einem Steuerbüro und helfe drüben auf dem Reiterhof aus, vielleicht seid ihr daran vorbeigekommen. Und dann habe ich halt meinen Garten, fahre auf den Markt nach Rotenburg und Bad Hersfeld – na ja“, sie lachte, „es gibt immer was zu tun. Aber erzählt doch mal, was verschlägt euch hierher?“

„Urlaub“, antwortete Langer. „Ist ja so nah bei Frankfurt, aber tatsächlich war ich nach Großvaters Tod nicht mehr hier. Wollte es einfach mal wieder sehen.“

„Gute Idee! Dann müsst ihr unbedingt am Wochenende noch mal herkommen. Da ist großes Dorffest – unsere 850-Jahr-Feier. Die ganze Hauptstraße wird ein einziges Museum, Essen und Trinken gibt’s natürlich auch, und es spielen die Waldbuben im großen Zelt. Wird bestimmt toll!“

„Die Waldbuben?“, warf Gerda ein.

„Eine Band hier aus der Gegend. Super Musik, ehrlich. Die spielen alles, von Herzilein bis We will Rock You.“

Gerda begann, entsetzt den Kopf zu schütteln, doch Langer machte Augen wie ein kleiner Junge vorm Weihnachtsbaum.

„Ja, warum eigentlich nicht. Was meinst du, Gerda?“ Er wandte sich zu seiner Frau um, die ihn nur sprachlos anstarrte.

„Fast alle von der alten Clique werden da sein“, fuhr Susanne Meister unbekümmert fort, als habe sie Gerdas entsetzten Blick nicht wahrgenommen.

„Ach ja“, Langer drehte sich zu ihr um. „Was machen die denn jetzt so?“

„Na ja, den Jürgen habe ich geheiratet. Die Roswitha Müller ist schon vor fünfundzwanzig Jahren mit ihrem Steve nach Montana ausgewandert. Den hat sie in Frankfurt kennen gelernt, als da noch die Kasernen waren. Und jetzt heißt sie Miller – passt ja!“ Susanne kicherte. „Die hatte schon immer so einen Ami-Tick, kannst du dich erinnern?“

Langer nickte. „Ja, hat den ganzen Tag AFN gehört, war am liebsten in Cowboystiefeln unterwegs, die Pferde immer ohne Sattel geritten. Die Roswitha ...“ Er lächelte. „Was ist mit Heiner? Heiner Haller – Heller?“

„Hellermann. Der wohnt noch hier in Heubach, hat den Hof von seinen Eltern übernommen. Ist aber ein schweres Geschäft, beißt sich halt so durch. Der kommt bestimmt.“ Susanne seufzte. „Der kommt immer, wenn‘s Bier gibt. Hat eine aus der Stadt geheiratet, aus Eisenach, gleich nach der Grenzöffnung, aber die blieb nicht lange.“

„Da war doch noch einer, so ein Stiller ... Peter?“

Susanne schmunzelte. „Der Peter Schrader. Ist jetzt Lehrer in Bad Hersfeld. Frau, zwei Kinder, Hund, Reihenhaus in Rotenburg. Alles unauffällig wie er selber.“ Ihre Schultern hoben sich, ihr Lächeln wurde breiter. „Ob der Ausgang bekommt … Seine Frau müsste es erst mal erlauben.“ Langer gestattete sich ein wissendes Grinsen.

Gerda schielte auf ihre Uhr. Das konnte noch Stunden so weitergehen. Sie knuffte ihrem Mann leicht in die Seite, doch der schien es nicht zu bemerken, sondern fragte statt dessen:

„Was ist mit der Marga? Wie hieß die noch gleich?“

„Marga Krantzfeld? Ja, die heißt jetzt wieder so, wohnt in Bad Hersfeld, ist gerade zum dritten Male geschieden. Wir haben nur noch losen Kontakt. Sie hat sich überhaupt nicht verändert. Noch immer die oberflächliche Person, die sie immer war. Sie wird sicher kommen. Nur der Felix ...“ Sie brach ab, ihr Blick trübte sich.

„Felix. Felix Schulze.“ Auch Langer wurde ernst. „Hast du nach dieser … dieser Sache noch mal etwas von ihm gehört?“

Susanne schüttelte den Kopf. „Nein,“ sagte sie leise. „Nie mehr. Ist 1978 einfach verschwunden aus dem Dorf, keiner weiß, wo er abgeblieben ist. Jemand will ihn mal in Berlin gesehen haben, aber ob das stimmt ...“

Beide schwiegen. Gerdas Blick wanderte zwischen den beiden hin und her; blitzschnell packte sie die Gelegenheit beim Schopf und stand entschlossen auf. „Jetzt haben wir Sie aber lange genug aufgehalten, wir müssen mal wieder.“ Sie sah ihren Mann scharf an. „Nicht wahr, Paul?“

Er erhob sich widerwillig. „Ja, wir müssen mal weiter. War schön, dich zu sehen, Susanne.“

„Ebenfalls. Und – ihr kommt doch, oder?“

„Auf keinen Fall!“ zischte Gerda, als sie die Straße in Richtung Auto überquerten. Schaurige Bilder von singenden Lederhosenträgern stiegen vor ihrem geistigen Auge auf, ein eingefrorenes Grinsen im Gesicht und zu dröhnender Blasmusik Laute von sich gebend, die für den hiesigen Normaldeutschen akustisch nicht mehr zumutbar waren. Davor lange Reihen stumpfsinnig klatschender Menschen …

„Auf gar keinen Fall!“, wiederholte sie. „Da kriegst du mich nicht hin!“

„He!“ Gutgelaunt stieß Langer sie in die Rippen. „Nun komm schon! Das wird bestimmt lustig! Wir schwofen mal ein bisschen.“

„Wir schwo … Paul, was ist denn nur in dich gefahren!“

Sie setzte sich ans Steuer und sah ihren Mann nachdenklich an. „Das ist doch sonst nicht deine Art, dass du auf einmal Leute treffen willst, auf Feste gehen, tanzen, schwofen! Blasmusik hören. Blasmusik!“

„Das ist meine Vergangenheit, mein Leben“, sagte er, unvermittelt ernst geworden. „Ja, ich will die alle noch mal sehen. Mach dir doch einen schönen Abend mit den Liebigs, wenn du nicht mit willst.“

Sie antwortete nicht, startete den Wagen, und eine Weile fuhren sie stumm Richtung Hotel.

„Nett, die Susanne. Warst wohl schwer verknallt in sie damals, wie?“ meinte sie schließlich betont beiläufig.

„Das ganze Dorf war verknallt in sie, zumindest der männliche Teil. Dass ausgerechnet der Jürgen sie gekriegt hat ...“ Langer schüttelte den Kopf.

„Wieso?“

„Der war schon immer so ein Langweiler! Und mindestens zehn Jahre älter als sie! Müsste doch schon in Rente sein. Finanzamt, ja, das kann ich mir gut vorstellen! Und überhaupt … Der passt doch gar nicht zu ihr. Was die nur an ihm findet!“

Gerda grinste und schielte zu ihm hinüber. Dann wurde sie wieder ernst. „Was war das denn für eine ‚Sache‘, von der ihr da geredet habt? Im Zusammenhang mit dem einen aus eurer Clique, wer war das noch gleich?“

„Felix. Felix Schulze. Der war der Sohn des Lebensmittelhändlers. Tja, das war schon sehr merkwürdig damals.“

„Nun erzähl schon.“

Langer lehnte sich in den Sitz zurück. „Also, Felix hatte noch einen jüngeren Bruder, Wolfgang. Wolfgang war anders als wir, still, kindlich, langsamer in allem. Damals sagte man: zurückgeblieben. Wie ein Hündchen trottete er immer der Clique hinterher, auch wenn die ihn gar nicht haben wollte. Oft wurde er von den anderen gehänselt, ja, ich fürchte – ich war ja nur in den Ferien da, darfst du nicht vergessen – ich fürchte, manchmal haben sie ihm richtig schwer zugesetzt. Natürlich nur, wenn Felix nicht in der Nähe war. Dann hat keiner es gewagt, Wolfgang zu ärgern, sein Bruder hat ihn verteidigt wie eine Löwin ihre Jungen. Und vor Felix hatte jeder Respekt.“ Langer machte eine Pause. „In meinem letzten Jahr war es, kurz bevor Großvater starb. Eines Abends kam Wolfgang nicht mehr nach Hause. Die einen sagten, er sei mal wieder der Gruppe hinterher gelaufen, die anderen meinten, sie hätten ihn nachher noch im Dorf gesehen. Als er nachts immer noch nicht zu Hause war, wurden Suchtrupps losgeschickt. Nach zwei Tagen fand man seine Leiche unterhalb des Salzbergs.“

„Da vorne bei dem Berg?“, fragte Gerda überrascht. Sie passierten gerade den weißen Giganten, der sich jeden Tag etwas weiter in die grüne Landschaft schob, bedrohlich und unaufhaltsam.

Langer nickte nachdenklich. „Damals waren die Absperrungen und Sicherheitsvorkehrungen lange nicht so streng wie jetzt. Heute würdest du gar nicht mehr an den Berg herankommen; damals war das kein Problem, wir waren oft da. Der Berg war noch viel, viel kleiner; er wächst ja jeden Tag. Und die Salzauswaschungen sind alles andere als unproblematisch für Boden und Grundwasser hier.“

Er ließ den Blick einen Augenblick an dem Kaliberg hängen, der allmählich kleiner wurde und schließlich verschwand. „Na ja, jedenfalls, es hieß, der Junge – Wolfgang – sei abgestürzt. Er galt als orientierungslos und nicht in der Lage, auf sich aufzupassen. Man beließ es dabei und schloss die Akte ziemlich schnell. Vielleicht zu schnell. Womöglich untersuchte man den Fall nachlässiger, als es hätte sein sollen“, setzte er leise dazu.

„Und sein Bruder Felix verschwand?“

„Genau. Am Tag nach der Bekanntgabe des offiziellen Untersuchungsergebnisses war er aus dem Dorf verschwunden. Und blieb unauffindbar. Der Vater starb ein paar Jahre später, und noch nicht einmal zu dessen Beerdigung hat man ihn gesehen. Ein Makler hat das Haus verkauft, die Mutter war ja schon ein paar Jahre vorher gestorben, und es war, als hätte es die Familie Schulze in Heubach nie gegeben.“

Gerda warf ihm wieder einen Blick zu. Manchmal konnte der alte Brummbär fast poetisch werden. „Aber es gab keine Hinweise darauf, dass es etwas Anderes als ein Unfall war?“, fragte sie. „Bei Wolfgang, meine ich.“

Langer zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich war damals in den letzten Semestern auf der Polizeihochschule. Erst später habe ich von der Sache gehört. Ja, und eben heute, als Susanne mir sagte, dass Felix immer noch verschwunden ist.“

Sie näherten sich bereits dem Hotel, als Gerda meinte: „Also gut, ich gehe mit zu diesem Dorffest. Und die Musik höre ich mir exakt fünf Minuten an; wenn sie mich dann noch nicht überzeugt hat, fahre ich zurück.“

Langer strahlte, was selten genug vorkam. „Sagen wir fünfzehn, okay?“

Tod im Salz

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