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„Paul!!“

Ein schriller Schrei gellte durch die geöffneten Seitenfenster des VW Passat in den strahlenden Apriltag hinaus und durchbrach das monotone Dröhnen des nachmittäglichen Verkehrs auf der A5.

Die Augen weit aufgerissen und starr vor Schreck, klammerte sich Gerda Langer mit der rechten Hand an den Griff der Beifahrertür und stützte die linke an der schwarzen Verkleidung des Armaturenbrettes ab.

Hast du den denn nicht gesehen!?“

Paul Langer trat hektisch auf die Bremse; der Passat schlingerte gefährlich zwischen der rechten und mittleren Spur; dann hatte Langer ihn wieder unter Kontrolle und fuhr geradeaus.

„Der blöde Sack! Kann sich doch nicht einfach so vor mich setzen und ...“

Aufgebracht schlug er mit der rechten Faust aufs Lenkrad, worauf der Wagen einen weiteren Schlenker machte.

„Fahr sofort rechts ran!“

„... und ohne jeden Grund ...“

„Fahr sofort rechts ran!“

„... und noch mit überhöhter Geschwindigkeit ...“

Sofort!“

„Aber Gerda, der hat … Hast du die Nummer aufgeschrieben? Dem werden wir ...“

So - fort!!

„Nun schrei doch nicht so! Dieser Depp da hat mich geschnitten ...“

„Paul“, Gerdas Stimme war auf einmal leise, fast freundlich, „wenn du nicht auf der Stelle rechts ran fährst, aussteigst und mich fahren lässt“, sie holte tief Luft, „dann kannst du dir unseren Urlaub in die dir noch verbleibenden Haare schmieren!“

Kriminalhauptkommissar Paul Langer warf einen irritierten Seitenblick auf seine Frau. Mehr als alles andere war es ihre ungewohnte Wortwahl, die ihn – eher verblüfft als verärgert – den Wagen langsam auf dem Standstreifen auslaufen ließ. Er stieg wortlos aus und ging um das Auto herum, stieg ebenso wortlos auf der Beifahrerseite wieder ein und schnallte sich an.

Gerda setzte sich ans Steuer.

Schweigend fuhren sie Richtung Norden.

„Er hat mich geschnitten“, wiederholte Paul Langer nach einigen Kilometern zaghaft.

„Hat er nicht.“ Gerda sah kurz in den Außenspiegel, blinkte, warf einen Blick über die Schulter und setzte auf die linke Spur.

„Er kam von rechts und hat noch nicht einmal den Blinker gesetzt.“

„Doch, er hat.“

„Er wollte mich rechts überholen.“

„Wollte er nicht.“

Langer brummte. „Wir sind noch nicht einmal an Friedberg vorbei und haben noch hundertfünfzig Kilometer vor uns; was soll das denn für ein Urlaub werden, wenn er schon so anfängt.“

„Ein sehr schöner, wenn du mich fahren lässt.“

Wieder wanderte Langers Blick zu seiner Angetrauten hinüber, die entspannt hinter dem Steuer saß und mit der lässigen Selbstverständlichkeit einer routinierten Autofahrerin abbremste, Gas gab, schaltete, überholte. Er würde das nie so hinbekommen, nicht in diesem Leben und nicht im nächsten. Zugegeben hätte er das nie, obschon es für sein gesamtes berufliches und privates Umfeld ein offenes Geheimnis war.

Eine gute Stunde später rollte der Wagen auf den weiträumigen Parkplatz eines riesigen Hotelkomplexes, der den Kamm eines bewaldeten Berges beherrschte. Prospekt und Website hatten die Aussicht, die Unterkunft, den Wellnessbereich und die Verpflegung gepriesen und zumindest im ersten Punkt nicht übertrieben.

Langer stieg aus, streckte sich ausgiebig und trat näher an den Rand des Parkplatzes, wo der Hang fast senkrecht in die Tiefe fiel und zwischen den Bäumen die Sicht auf die Serpentinen freigab, die Gerda in den letzten Minuten dank der Pferdestärken unter der Motorhaube zügig erklommen hatte.

Er atmete tief ein. „Gerda, guck mal, ist das nicht herrlich hier! Diese Luft! Diese Landschaft!“ Er drehte sich zu ihr um. „Lass doch die Tasche jetzt! Komm her und sieh dir das an!“

Gerda lächelte und trat zu ihrem Mann. Der zeigte stolz in die Gegend, als hätte er sie eben aus dem Ärmel geschüttelt. Wälder, Wiesen und Felder und wieder Wälder, wohin das Auge sah – man war in Waldhessen –, durchbrochen von kleineren und mittelgroßen Ansiedlungen. Unter ihnen wand sich die Fulda als schmales silbernes Band durch eine langsam aus dem Winterschlaf erwachende Landschaft. Noch sehr zögerlich überzog das Grün die Wälder; unten im Tal war es von dicken, bauschigen Ballen durchsetzt – Obst- und Laubbäume, die in weißer und rosa Blüte standen.

„Bei uns ist die Natur schon viel weiter, da sind die Blüten fast überall schon abgefallen. Was die paar Kilometer doch ausmachen“, wunderte sich Gerda.

Langer hatte den Kopf schweifen lassen und sinnend nach unten geschaut. „Da vorne liegt Rotenburg, weiter hinten kannst du Bebra sehen. Und dort ...“, er drehte sich nach links, „dort muss ungefähr Heubach liegen.“

„Ach ja, Heubach. Da bleiben wir aber nicht lange, oder?“

„Na ja, ich will es schon mal wieder sehen.“ Er sah noch einen Augenblick in die Ferne, dann schüttelte er den Kopf und ging auf das Hotel zu.

„Lass uns reingehen und uns die gute Stube mal ansehen.“

Gerda Langer war geschlagen mit einem verhassten Vornamen, den sie hauptsächlich ihrer Mutter zu verdanken hatte, und einem Ehemann, der trotz ihrer ständigen Bemühungen – oder vielleicht auch gerade deshalb – zu den unordentlichsten Menschen gehörte, die sie jemals kennengelernt hatte.

Gegen ihren Namen konnte sie nichts unternehmen, hatten ihre Eltern sie doch noch nicht einmal mit einem zweiten Taufnamen ausgestattet.

Was ihren Mann betraf, so focht sie seit nunmehr fast dreißig Jahren einen schier aussichtslosen Kampf. Um ihres eigenen guten Rufes willen war sie ständig auf der Hut; sie sortierte rechtzeitig die Jacketts für die Reinigung aus, damit er nicht – ohne jede Absicht, aber mit untrüglicher Sicherheit – gerade jenes aus dem Schrank fischte, das die Reste der mittäglichen Tomatensoße zierte; überredete ihn zum nächsten Friseurtermin; befreite seine Aktentasche von faulendem Obst der Vorwoche.

Zwei Mal im Jahr, im Frühjahr und Herbst, pflegten die Langers Urlaub zu machen. Um die Anzahl und das Ausmaß der Ehestreitigkeiten auf einem vertretbaren Maß zu halten, hatte man sich schon vor einiger Zeit darauf geeinigt, dass die Wahl des Herbsturlaubs Gerda überlassen blieb – meist ging es dann nach Frankreich oder Italien –, während über die Tage im Frühling Paul bestimmen durfte, der sich immer für einen möglichst nahe gelegenen deutschen Landstrich entschied. Dieses Mal also war man im Osthessischen Bergland gelandet, keine zweihundert Kilometer von Frankfurt entfernt, in unmittelbarer Nähe der thüringischen Grenze.

Der Hotelprospekt hatte auch in den anderen Punkten seine Versprechen gehalten. Gerda brauchte auf keine Bequemlichkeit zu verzichten, Paul genoss lautstark die Landschaft und schweigend das abendliche Menü.

Bereits am ersten Abend war Langer ein Paar am Nebentisch aufgefallen, das aus dem Rahmen der restlichen Gäste – Rentner und Familien mit Kindern – herausfiel; letztere hatte man vorsorglich in den Apartments und Familienzimmern in einem etwas abgelegenen Trakt untergebracht. Die beiden jedoch waren weder das eine noch das andere.

Die Frau mochte Anfang oder Mitte Fünfzig sein, er vielleicht ein paar Jahre älter, beide blond, sportlich und trotz der frühen Jahreszeit auf natürliche Weise sonnengebräunt – eine Bräune, wie kein Sonnenstudio sie hätte hervorzaubern können. Man hätte sie sich besser in Cannes oder in einem Skihotel in Davos vorstellen können; diesem ruhigen Landhotel im letzten Zipfel Hessens gaben sie etwas fast Mondänes.

Auch Gerda hatte schon zwei oder drei Mal einen Blick auf den Mann nebenan riskiert, war er doch in jeder Beziehung genau das Gegenteil von dem, was ihr Göttergatte repräsentierte: schlank, beste Umgangsformen, die Kleidung von legerer Eleganz – unvorstellbar, dass die schicke Frau, die neben ihm saß, ein Auge darauf haben musste, dass er morgens mit sauberem Jackett aus dem Haus ging.

Am zweiten Tag liefen sich die beiden Paare in der Fußgängerzone der historischen Altstadt von Rotenburg über den Weg, wo Gerda den Startpunkt ihrer Sightseeingtour durch die Region angesetzt hatte.

„Ach, hallo“, der Fremde kam freundlich lächelnd näher, „Sie wohnen doch auch bei uns im Hotel, nicht wahr?“

Langer brummte still etwas in sich hinein und spürte gleichzeitig einen sanften Rippenstoß von Gerdas Seite; ganz im Gegensatz zu ihrem Mann lernte sie gerne neue Leute kennen. Ein Ausweichen war ohnehin unmöglich.

„Guten Tag“, sagte Gerda.

„Wir haben uns noch nicht vorgestellt. Andreas Liebig, meine Frau Hella.“

Langer musste wohl oder übel in Aktion treten. „Angenehm. Paul Langer, meine Frau Gerda“, echote er im gleichen Tonfall.

Es entstand eine kleine Verlegenheitspause, bevor Liebig sagte: „Wirklich schön hier, oder? Wir haben mal gedacht, wir bleiben im Lande und machen einen völlig ruhigen Urlaub. Nur erholen, entspannen, Natur, keine Hektik und keine Pläne. Leben von einem Tag auf den anderen sozusagen.“ Sein Lachen war ansteckend.

Ein paar Minuten später fand man sich zu viert in einem Café nahe der Fulda wieder. Das schnell lebhaft werdende Gespräch, in dem zunächst einmal festgestellt wurde, dass alle – welch unfassbarer Zufall! – aus Frankfurt kamen, wurde hauptsächlich von den Liebigs und Gerda bestritten. Langer, der im entscheidenden Moment den Absprung verpasst hatte, saß meist still in seiner Ecke.

„... ein Autohaus, ziemlich groß sogar. Wir machen das zusammen. Ohne meine Frau geht gar nichts“, hörte er Liebig gerade sagen. „Vielleicht kennen Sie es, draußen in der Hanauer ...“

Der Mann war ihm nicht unsympathisch, er hatte eine Art, sogar solche Sachen zu sagen, ohne dass es nach Angeberei geklungen hätte; die Frau, Hella, hatte einen natürlichen Charme, dem man sich nur schwer entziehen konnte. Trotzdem wäre Langer jetzt gerne alleine an der Fulda entlang gegangen, vielleicht Schwäne gefüttert – gab es da überhaupt Schwäne? – und …

„Beamter“, kam es in diesem Moment von Gerdas Seite.

Langer setzte sich ruckartig auf. Gerda hatte strikte Anweisung, bei solchen Gelegenheiten dies und nicht mehr über seinen Beruf verlauten zu lassen. Sie hielt sich – wie immer – daran und fuhr geschickt fort, bevor noch weitere Fragen gestellt werden konnten: „Und ich arbeite nebenberuflich in einer Boutique. Man kann ja nicht immer nur Haushalt und Garten ...“

„Ach, Sie haben einen Garten! Wie schön! Mein Traum!“ warf Hella Liebig ein, während sie ihren Mann mit einem ungnädigen Blick streifte. „Aber er hier“, sie knuffte ihn in die Seite, „ist so ein schrecklich urbaner Typ! Auf unserer Terrasse kann ich gerade mal eine paar Töpfe aufstellen.“

„Dabei hat er doch gerade noch von der Natur hier und der Ruhe geschwärmt“, wunderte sich Gerda.

Anerkennend lächelte Langer in sich hinein. Schlaues Mädchen, hättest zur Kripo gehen können. Widersprüche in der Aussage aufspüren und den Finger drauf legen.

„Ja eben!“ konterte Andreas Liebig lachend. „Manchmal braucht man das ja. Aber jeden Samstag Rasen mähen, das wäre nichts für mich.“

„Hättest ja nicht gleich mit ins Café gehen müssen!“, murrte Langer, als sie sich verabschiedet hatten und ihren Weg fortsetzten. „Wir sehen die doch sowieso jeden Tag im Hotel.“

„Wieso denn nicht? Die sind doch nett, oder?“

„Mag sein. Aber jetzt haben wir sie für den Rest des Urlaubs am Bein. Die hängen an uns wie Kletten, wirst an mich denken.“

„Du bist und bleibst ein alter Brummbär“, erwiderte Gerda gutgelaunt und hakte sich bei Paul ein. „Außerdem wollen wir morgen erst mal in dieses Heubach, da hast du schon mal vor ihnen Ruhe.“

Tod im Salz

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