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ОглавлениеNachdenklich drückte Isabella Neumann das Gespräch weg. Warum konnten diese Leute sie nicht endlich in Ruhe lassen? Was vorbei war, war vorbei. Sie hatte jetzt ein neues Leben mit Tobias und Fanny. Und heute war ihr fünfunddreißigster Geburtstag. Gedankenverloren schaute sie durch das große Wohnzimmerfenster auf die Terrasse hinaus, wo ihre Gäste sich offensichtlich gut amüsierten. Plötzlich erklang schallendes Gelächter; jemand, wahrscheinlich Otto Weller, ein Kollege aus der Schule mit Zweitberuf Frohnatur – was angesichts der allgemeinen Zustände an den deutschen Schulen eine beachtliche Leistung war – hatte gerade einen Witz erzählt.
„Was ist denn, Schatz?“ Ihr Mann war neben sie getreten. Er zeigte auf das Telefon. „Schlechte Nachrichten?“
„Nein, gar nicht. Andreas und Hella haben mir gratuliert.“
„Ist doch nett von ihnen, oder?“, fragte Tobias unbekümmert.
„Ja, sicher. Aber irgendwie, weißt du … irgendwie wäre es mir lieber, ich würde nichts mehr von ihnen hören.“
„Immerhin warst du mal ihre Schwiegertochter.“
„Ach, Tobias, Ralph ist seit zehn Jahren tot, und unsere Ehe hat nur knapp ein Jahr gedauert! Außerdem – Hella druckste so unbeholfen rum – gar nicht ihre Art! – sie seien ganz in der Nähe, wäre doch schön, sich wieder mal zu sehen … Ich hab‘s einfach ignoriert, was bei dem kompletten Lattenzaun, mit dem sie gewunken hat, sehr unhöflich war. Jetzt tut‘s mir schon wieder leid, aber ...“ Sie stellte energisch das Telefon in die Station zurück.
„Zwei mehr oder weniger heute Abend wären kaum aufgefallen“, meinte Tobias.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, wenn ich sie jetzt eingeladen hätte, würde ich sie auf Dauer nicht mehr so schnell loswerden.“
Tobias schaute auf die Terrasse hinaus. Der warme Frühlingstag ging langsam in eine kühle Dämmerung über. Dem Dutzend Leute draußen schien es nichts auszumachen. Wieder erscholl lautes Gelächter.
„Sag bloß, Peter hat einen Witz gemacht!“ Tobias lachte. „Allein das wäre lustig genug!“
Isabella warf ihrem Mann einen nicht ganz ernst gemeinten missbilligenden Blick zu. „Von keinem wird er so richtig ernst genommen, der Peter. Warum eigentlich? Ich finde ihn ganz sympathisch. Im Gegensatz zu seiner Frau.“ Isabella betrachtete Lisa Schraders verkniffenes Gesicht durch die Scheibe. „Passt ihr offensichtlich gar nicht, dass Peter mal im Mittelpunkt steht und sich dabei auch noch amüsiert.“
„Na ja ... Komm, lass uns wieder rausgehen“, meinte er.
„Muss noch Vater zurückrufen, der hat es heute schon drei Mal probiert. Sag ihnen, ich komme gleich. Hast du mal nach Fanny geschaut?“
Tobias winkte ab. „Schläft tief und fest. Wie sie das macht bei diesem Lärm ...“
Während Tobias nach draußen ging, wählte das Handy bereits die bekannte Nummer.
„Immelshausen“, kam es mürrisch durch die Leitung.
Sie grinste. Er griff fast immer blind zum Hörer, ohne auf das Display zu sehen.
„Hi, Paps. Ich bin‘s!“
„Ciao bella! Schön, dich zu hören!“
Die Stimmung am anderen Ende der Telefonleitung drehte sich um hundertachtzig Grad. Man hörte förmlich, wie sich der andere erleichtert in seinem Sessel zurücklehnte, seinen Bleistift hinwarf – will heißen, die Tastatur zuklappte –, die Füße auf den Schreibtisch legte und sich auf eine gemütliche Unterhaltung einstellte. „Wie geht es dir?“
„Wie es einem so geht mit Mitte Dreißig. Schauderhaft!“ Sie seufzte herzerweichend.
„Ach du liebes Bisschen. Ja, du tust mir leid! So leid!“ Er kicherte wie ein Schulmädchen. Dann, ernster: „Ich wünsche dir alles erdenklich Gute, Isabella. Möge alles, was du dir wünschst, in Erfüllung gehen!“
„Danke, dann will ich noch mal fünfundzwanzig sein!“ Die Zeit mit Ralph kam ihr wieder in den Sinn. „Ach nein, lassen wir das lieber. Wie geht es dir? Was macht das Manuskript?“
Die Antwort war ein tiefer Seufzer, der ihrem in nichts nachstand. „Jedenfalls hat mir Scherer noch etwas mehr Zeit und hundert Seiten mehr genehmigt, da kann ich es ruhiger angehen lassen. – Ich hoffe, Fanny geht’s gut? Feierst du schön?“
„Ja, ein paar Nachbarn und Kollegen, auch von Tobias aus der Kanzlei, sind da. Ganz lustig. Die Kleine schläft wie ein Stein. Und – weißt du, wer angerufen hat? Die Liebigs!“
„Ach! Herr und Frau Wir-haben-ein-Autohaus-in der Hanauer-Landstraße-Liebig!“
Sie lachte laut auf. „Jetzt bist du aber gemein! Die wollten hier vorbeikommen heute Abend, aber ich habe es vorgezogen, ihren Wunsch nicht zur Kenntnis zu nehmen.“
„Tz, tz. Weiß gar nicht, wer dich erzogen hat. Von mir kannst du das doch nicht haben!“
„Sagt gerade der Richtige!“
Richard wurde wieder ernst. „Bedenke, dass sie damals ihren Sohn verloren haben. Und heute ist sein zehnter Todestag. Vielleicht hilft es ihnen, wenn sie den Kontakt erneuern, gemeinsame Erinnerungen ...“
„Mir hilft es jedenfalls nicht, genauer gesagt, ich brauche in dieser Beziehung gar keine Hilfe. Ich habe damit abgeschlossen; es war schlimm genug. Und heute Abend würde das schon gar nicht passen.“
„Nun, es ist deine Entscheidung. – Ich habe gestern mit Hellas Vater gegessen; er lässt grüßen.“
„Friedrich, der alte Schwerenöter!“
„Schwerenöter – sagt man das heutzutage denn noch?“
„Weiß ich nicht, aber zu dem alten Herrn passt es hundertprozentig. Was der noch so alles anbaggert in seinem Alter! Grüß bitte zurück. Ich komme demnächst wieder mal nach Frankfurt, dann machen wir einen zünftigen Sachsenhäuser Abend zu dritt.“
„Ja, tu das – ich freu mich drauf!“ Es entstand eine kleine Pause. „Wieso wollten Hella und Andreas vorbeikommen? Ich meine, das ist schon eine ganze Strecke ...“
„Die scheinen hier in der Nähe Urlaub zu machen.“
„Die machen da oben bei euch Urlaub? Passt gar nicht zu ihnen.“
„Stimmt, jetzt, wo du‘s sagst. Papa, ich muss Schluss machen, muss wieder raus zu den Leuten.“
„Pass auf dich auf, Isabella. Gute Nacht.“
„Ciao, Papà!“
Peter Schrader, ebenfalls Kollege von Isabella in Bad Hersfeld – sie für Mathematik und Musik, er für Latein und Deutsch – war eindeutig in Fahrt. Er gab gerade eine Zugabe in Form einer kleinen Anekdote aus der achten Klasse, als Isabella mit einer gemurmelten Entschuldigung wieder auf der Terrasse erschien.
„Errare humanum est, das hatten wir gerade übersetzt. Da richtet sich der lange Fabian aus der letzten Reihe zu seiner ganzen Größe auf und fragt mich mit ernstem Gesicht, ob die Abkürzung dafür unser deutsches Wort Ehe sei!“
In das Gelächter stimmte dieses Mal nur gut die Hälfte der Anwesenden ein; für den Rest ohne humanistische Bildung übersetzte Peter Schrader: „Errare humanum est heißt: Irren ist menschlich.“ Womit er einerseits einen zweiten Lacher einheimste, andererseits die Stimmung seiner Angetrauten nicht gerade verbesserte.
„Mein Gott, Lisa, nun lach doch auch mal!“ Otto Wellers dröhnender Bass legte sich über das Gelächter und deckte es zu. „Das hier is 'ne Party!“
Augenblicklich wurde es still, einzelne Blicke schossen verstohlen zu Lisa hinüber, die mühsam ihren Mund zu einem Lächeln verzog, dann fing wie auf Kommando jeder wieder an zu reden.
„Noch Wein?“ Tobias sprang hastig auf und griff nach einer Flasche auf dem Tisch.
„Himmel – Latein!“ rief Kerstin, eine Nachbarin der Neumanns, lauter als es nötig gewesen wäre, aus. „So was lernt man noch heutzutage!?“
„Echt – total old school“, grinste ihr Mann dazu.
„Non scholae, sed vitae …!“ tönte sein Nachbar zur Linken mit schalkhaft erhobenem Zeigefinger dazwischen.
Peter hielt Tobias demonstrativ sein Glas hin. „Ich nehme gern noch ein Glas. Lisa fährt ja. Nicht wahr, Schatz?“ Er fixierte seine Frau scharf; der Ausdruck auf seinem Gesicht wollte gar nicht so recht zu seiner sonstigen devoten Art passen. Lisa lächelte verkniffen.
Isabella seufzte. Der Kollege hatte es nicht leicht mit dieser Frau, doch hätte sie sie schlecht aus der Einladung ausnehmen können. Für sich alleine genommen, war Peter Schrader ein ganz netter Kerl, im Kollegium zwar als Langweiler verschrien, doch sie hatte schon viele anregende Gespräch mit ihm geführt.
Zusammen waren die beiden eine Katastrophe.
Lisa Schrader war es dann tatsächlich, die am Steuer saß und den Wagen ins heimatliche Rotenburg steuerte. Stumm saß das Ehepaar im Auto, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, bis es Lisa nicht mehr aushielt.
„Bist du nun zufrieden, dass du mich vor aller Welt lächerlich gemacht hast?“ fauchte sie.
„Lächerlich machst du dich doch alleine, dazu brauchst du mich nicht“, erwiderte er müde.
Er hatte alles satt, so satt! Aber es würde ja nicht mehr lange dauern … Heute war wieder ein Brief gekommen, doch diesen würde er ignorieren.
Sein Entschluss stand fest. Es würde leicht werden.
Doch erst würde er auf dieses Dorffest gehen.
„Ehrlich, ich bin froh, dass ich dich morgen Abend nicht um mich habe!“, sagte er erbittert.
„Morgen?“
Er verdrehte die Augen, was sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Natürlich hatte sie es vergessen.
„Es ist das Fest in Heubach, aber das kann dir ja egal sein, du bleibst sowieso zu Hause. Hab wirklich keine Lust, mir von dir auch noch diesen Abend vermiesen zu lassen!“