Читать книгу Die Raben Kastiliens - Gabriele Ketterl - Страница 48
B
ОглавлениеVera gähnte lange und herzhaft. Die Bodega hatte seit etwa fünfzehn Minuten geschlossen und der Vorplatz lag nun, kurz vor Mitternacht, wieder ruhig und beinahe leer im Licht der Gaslaternen. Was für ein Abend! Es war voll gewesen wie fast immer, die Gäste waren, dem reichlichen Trinkgeld nach zu urteilen, offenbar sehr zufrieden gewesen. Vor allem Angel und Lian, die beiden tollen Kerle, hatten ihr ein üppiges Sümmchen zurückgelassen. Zuerst glaubte sie, die zwei hätten das Geld vergessen, bis Mauro sie aufklärte, dass sie immer sehr großzügig mit Trinkgeld waren.
Angel! Der Name spukte ihr im Kopf herum, seit ihr Chef ihn vorhin erwähnt hatte. Nachdem ihre letzte Beziehung nicht glücklich gelaufen war, genoss sie seit etwa einem Jahr das Dasein als Single und bis heute Abend hatte sie auch keine Sekunde in Zweifel gezogen, dass das noch eine Weile so bleiben würde.
Sie war so in Gedanken, dass sie gar nicht bemerkte, wie Mauro sie beobachtete.
»Ich bin ja nicht neugierig, aber für deine Gedanken würde ich dir zwei Extrastunden bezahlen.«
Vera riss sich schmunzelnd zusammen. »Vergiss es, meine Gedanken gehören nur mir.«
»Ich könnte schwören, dass sie irgendwas mit einem großen, dunkelhaarigen Kerl zu tun haben.« Mauro knipste die letzten Lampen hinter der Theke aus, zog sich seine Lederjacke über und kam auf sie zu. »Hör zu, Vera, Angel ist ein toller Kerl, aber ich will dir nicht vorenthalten, dass er etwas anders als andere Typen ist. Und damit meine ich nicht, dass er – ich zitiere Sophia - besser aussieht als jeder durchschnittliche Halbgott.«
»Keine Bange, Mauro, ich bin bereits ein paar Tage über achtzehn. Ich hab das im Griff.« Lachend steckte Vera ihr Trinkgeld in ihre Geldbörse und verpackte diese im Rucksack.
Mauro zuckte mit den Schultern. »Stimmt, Kleines, du musst wissen, was du tust. Komm, ich fahr dich nach Hause.«
»Danke, das ist sehr lieb von dir, aber die paar Straßen schaffe ich ohne Unterstützung. Es sind noch Leute unterwegs.«
Mauro schien nicht überzeugt. »Ja, fragt sich nur, was für welche.«
Vera lächelte, Mauros Fürsorge rührte sie immer wieder. »Schon gut. Wirklich, es ist eine wunderschöne Nacht und ich bin in kaum zehn Minuten daheim, wenn ich über die Promenade unten am Fluss gehe.«
Mauro gab, wenn auch ungern, nach. »Okay, aber pass auf dich auf. Bis morgen, Kleines.«
Sie musste unwillkürlich lächeln. Dass er sie »Kleines« nannte, obwohl er gerade mal sechzehn Jahre älter war als sie, fand sie immer wieder lustig.
»Gute Nacht, Mauro, komm gut heim.«
Ihr Chef wuschelte ihr noch einmal durch die Haare und verschwand dann grinsend zu seinem Auto.
Vera schulterte ihren Rucksack und machte sich gut gelaunt auf den Heimweg.
Nur wenige Touristen kreuzten noch ihren Weg. Ein Pärchen erregte ihre Aufmerksamkeit ganz besonders. Sie mochten wohl beide in ihren Achtzigern sein und gingen langsam und bedächtig, eng umschlungen durch die Nacht. Vera beneidete sie ein wenig. Ihren Eltern war es nicht vergönnt gewesen, gemeinsam alt zu werden. Ihr Vater war bei einem Unfall auf der Autobahn gestorben, als sie gerade vier Jahre alt gewesen war. Ihre Mutter hatte sie allein großgezogen und das mit viel Aufopferung und viel Mut. Als sie starb, hatte ihr Tod eine große Lücke hinterlassen. Vera wusste bis heute nicht, ob diese sich jemals schließen würde. Wahrscheinlich nicht. Lächelnd sah sie dem alten Paar nach, ehe sie ihren Weg fortsetzte. Dass sie nicht mehr allein war, wurde ihr erst bewusst, als sie den Schatten vor sich in einer kleinen Gasse verschwinden sah. Sie umfasste den Griff ihres Rucksacks fester, ging auf die andere, heller erleuchtete Straßenseite und beschleunigte ihre Schritte.