Читать книгу Die Raben Kastiliens - Gabriele Ketterl - Страница 49

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Angel streifte nachdenklich am Ufer des Guadalquivir entlang. Viel zu lange war es her, dass er den Erzählungen der Fluten gelauscht hatte. Der Fluss hatte ihn durch viele Jahre seines Lebens begleitet. Heute noch liebte er es, irgendwo am Ufer zu sitzen oder auf einer Brücke und einfach nur auf die Strömung zu blicken. Es beruhigte ihn, brachte alte Erinnerungen zurück, nahm sie aber auch im steten Fluss des Lebens wieder mit sich. Nun war es endlich so dunkel, dass er den endlos wirkenden Sternenhimmel erkennen konnte. Tief sog er die feuchte Luft ein und ließ die ganz besondere Stimmung der Nacht auf sich wirken.

Irgendwo quakten Frösche und die Grillen zirpten so laut, dass sie die letzten Geräusche, die von der Straße herunter zu ihm drangen, nahezu übertönten. Das hohe Schilf am Ufer raschelte leise im Wind und vereinte sich mit dem Plätschern der kleinen Wellen am Ufer zu einer Jahrhunderte alten Melodie. Gerade als Angel sich auf einen Stein am Ufer setzen wollte, drang ein schwacher Laut an sein Ohr. Es klang wie ein entfernter Ruf. Sofort war er alarmiert. Nur einen Sekundenbruchteil später fühlte er etwas noch Beunruhigenderes: Angst, große Angst!

Angel rannte los, ging dem Grund für dieses Gefühl nach, lokalisierte die Person, die ganz eindeutig um ihr Leben fürchtete. Dann konnte er sie riechen. Schon vorhin, als sie sich zu ihm hinunter gebeugt hatte, um ihm sein zweites Glas auf den Tisch zu stellen, war ihm ihr faszinierender Duft aufgefallen. Nur der Hauch eines herben Parfüms, dazu ihr ganz eigener, wundervoller Geruch. Angel flog nahezu durch die fast verlassenen Straßen. Sie war in Lebensgefahr! Er konnte Blut riechen, ihr Blut. Endlich, am Ende einer schmalen Gasse, die hinaus führte auf die Straße am Fluss, sah er sie. Sie lag am Boden und ein großer, schlaksiger Kerl beugte sich über sie. Als Angel sah, dass er ihr den Rucksack von der Schulter riss und sie dazu achtlos mit dem Fuß zur Seite rollte, verlor er die Kontrolle über sich. Der Mann konnte ihn nicht kommen hören, niemand vermochte einen Hüter zu hören. Als Angel ihn zu sich herumdrehte und ihm die Faust ins Gesicht schlug, brach dessen Kiefer unter seinen Fingern. Der Kerl jaulte auf vor Schmerz, doch Angel kümmerte das nicht. Er riss ihn hoch und donnerte ihn mit aller Kraft auf die alten Pflastersteine. Im Körper des Mannes brachen weitere Knochen, doch Angel war noch nicht mit ihm fertig. Zornbebend riss er ihn hoch und schleuderte ihn etwa dreißig Meter weit hinaus in den Fluss, in dem er gurgelnd versank.

Binnen Sekundenbruchteilen gewann Angel seine Fassung zurück und beugte sich zu der stöhnenden Frau hinunter. »Vera, kannst du mich hören?«

Doch sie antwortete ihm nicht. Angel spürte, dass sie schwer verletzt war, ihr Atem ging flach und unregelmäßig. Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, nahm Angel sie auf die Arme, hängte sich den blutverschmierten Rucksack über die Schulter und raste zum Domizil der Raben gegenüber der Mezquita. Achtlos kickte er mit dem Fuß die Eingangstür auf, was Lian auf den Plan rief, der nicht lange fragte, als er die Frau sah. Rasch fegte er das Sofa im großen Wohnzimmer mit beiden Händen frei und Angel legte Vera vorsichtig ab. Behutsam strich er ihr die Haare aus dem Gesicht und suchte nach ihren Wunden. Ihr Angreifer hatte ihr das Messer in den Unterleib gestoßen und das nicht nur einmal. Wieder wallte Zorn in Angel auf, doch dafür war jetzt keine Zeit. Eilig zog er ihr die Bluse aus, öffnete sich die Pulsader am rechten Handgelenk und ließ sein Blut in ihre Wunden rinnen. Besorgt betrachtete Lian die Prozedur und auch Armando steckte seine Nase ins Zimmer. »Kann ich helfen? Was ist passiert?«

Ohne seinen Blick von der Ohnmächtigen abzuwenden, antwortete Angel ihm: »Wohl einer dieser miesen Strauchdiebe. Sie hat einige Stichwunden im Bereich der Lunge und der Leber. Armando, dein Blut ist älter als Lians, lass sie ein wenig von dir trinken.«

»Klar.« Sofort ging Armando neben Vera auf die Knie. »Oh, sie ist ja eine Schönheit.«

»Schwärmen kannst du später, wie wäre es nun erst mal damit, sie zu retten?«

»Schon gut, ich mach ja schon.« Armando lächelte leise, krempelte den Ärmel seines Leinenhemdes hoch und biss sich ins Handgelenk. Vorsichtig hob er Veras Kopf an und legte sein Handgelenk an ihren Mund. Langsam lief sein Blut zwischen ihre Lippen und sie schluckte schon wenig später kräftig und gleichmäßig sein, für Menschen so betörend schmeckendes, Lebenselixier.

»Das genügt, die Wunden sind zu. Gerade noch rechtzeitig.«

»Ja, sieht gut aus.« Armando, der ehemalige Spielmann, fuhr sich nachdenklich durch seine wirren, braunen Locken. »Langsam werden die Kerle zu einer richtigen Landplage. Wir sollten dagegen etwas unternehmen. Es ist eine Schande für unsere Stadt, wenn eine Frau ihres Lebens nicht mehr sicher ist.«

»Wohl wahr. Lian, Vera hat ungefähr Reynas Statur. Kannst du bitte im Schrank nach einem Shirt oder einer Bluse suchen? Die hier ist nicht mehr zu gebrauchen. Ich möchte gern, dass sie angezogen wieder aufwacht.«

»Schon unterwegs!« Flink flitzte der blonde Vampir aus dem Zimmer.

»Wer ist sie? Kennst du das Mädchen?« Neugierig sah Armando auf Vera hinunter.

»Ja, seit heute Abend. Sie arbeitet bei Mauro in der Bodega. Die arme Kleine, wenn ich schneller gewesen wäre, dann hätte sie das vielleicht gar nicht abbekommen.«

»Jetzt mach mal halblang. Du bist schneller als der Wind.« Armando streichelte abwesend über Veras blasse Wange. »Weiß sie, was wir sind?«

»Nein, und ich werde es ihr auch noch nicht sagen.«

»Wie willst du das hinbekommen? Sie wurde halb erstochen, und sie hat keine Bluse mehr.« Armando konnte sich nun, da die Frau tief und fest schlief und in Sicherheit war, das Lachen nicht verkneifen. »Da ist dein Improvisationstalent gefragt, mein Alter.«

»Lass mich nur machen, das bekomme ich hin.«

»Mach du mal. Ich seh gern dabei zu.« Armando warf seine Haare zurück und ließ sich grinsend in einen der zahlreichen Ledersessel fallen, die im Raum standen.

Angel erhob sich und schloss seine Pulsadern. Gerade als die letzten roten Punkte verschwanden, kam Lian zurück. Er trug eine Jeansbluse über dem Arm und reichte sie Angel. »Hier, das sollte passen, aber dir ist schon klar, dass es damit nicht getan ist?« Stirnrunzelnd folgte Angels Blick Lians ausgestrecktem Zeigefinger.

»Ach du Scheiße, die Hose ist auch blutig. Äh, kannst du eventuell …?«

»Schon verstanden, ich hole eine Hose.«

»Das klappt nie. Sie wird wissen wollen, warum sämtliche Klamotten weg sind und warum sie keine Narben oder Verbände hat, es sei denn …« Armando ließ den letzten Satz unvollendet im Raum stehen.

»Es sei denn, ich lösche ihre Erinnerung?« Angel gefiel die Idee nicht besonders. Er wühlte ungern in den Köpfen junger Frauen herum, wenn auch nur bildlich gesehen. Aber Armando hatte recht. Wenn er ihr nicht hier und jetzt seine Identität preisgeben wollte, musste er Teile ihrer Erinnerung löschen.

Als Lian mit einer passenden weißen Jeans zurückkam, kleideten sie Vera wieder an, dann setzte Angel sich neben sie auf das Sofa. Zärtlich nahm er ihren Kopf in die Hand, legte seine Hände links und rechts an ihre Schläfen und tauchte in ihre Gedanken ein. Er fand die Stelle in ihrem Geist, als sie voller Angst aufschrie und ihr Angreifer ansetzte, sein Messer in ihren Körper zu stoßen. Genau hier begann Angel ihre Erinnerung zu löschen. Sie würde sich nur an den ersten Angriff erinnern, an nichts, was danach geschehen war.

»Fertig?« Armando sah ihn fragend an.

»Ja, sie wird sich nur noch erinnern, dass sie überfallen worden ist. Der Rest bleibt meinem Einfallsreichtum überlassen.«

Armando grinste breit. »Ich bin der Spielmann, lass mich die Geschichte erzählen.«

»Aber sicher doch, damit sie sich nachher gar nicht mehr auf die Straße traut. Herzlichen Dank, das mache ich lieber selbst.«

»Softie!« Ehe Angel ihn erreichen konnte, war Armando laut lachend verschwunden. Auch Lian zog sich schweigend zurück. Angel setzte sich neben die tief schlummernde Vera, bewachte ihren Schlaf und überlegte fieberhaft, was für eine Story er ihr wohl auftischen konnte. Nach diversen geistigen Froschsprüngen und Umbrüchen im Handlungsaufbau war er endlich zufrieden. Er rückte näher und streichelte behutsam ihr schwarzes, seidiges Haar und ihre Wangen, in die langsam wieder leichte Röte zurückkehrte.

Die Raben Kastiliens

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