Читать книгу Einführung in die Theorie der Sozialpädagogischen Dienste - Gaby Flößer - Страница 10

1.2 Fürsorgliche Belagerung oder Garant sozialer Teilhabe?

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Aus diesen Vorüberlegungen heraus stellt sich die Frage, wie viel Soziale Arbeit, die von sozialpädagogischen Diensten erbracht wird, ist nötig, wie viel ist möglich? Empirisch ist diese Frage nicht zu lösen, denn die Kategorie der Notwendigkeit ist zutiefst wertebezogen; sie beinhaltet Aussagen über einen Mindeststandard gesellschaftlichen Zusammenlebens, eine Basis, die keinem Gesellschaftsmitglied vorenthalten werden darf. Und auch die Kategorie der Möglichkeit ergibt sich nicht einfach rechnerisch, sondern setzt einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess über öffentliche Einnahmen und ihre Verteilung auf die unterschiedlichen politischen Handlungsfelder voraus. Eine Antwort zu der Frage kann deshalb lediglich über die Funktionsbestimmung der sozialpädagogischen Dienste gefunden werden. In der Wahl ihrer Funktionen sind die sozialpädagogischen Dienste dabei keineswegs frei, sie handeln im sozialstaatlichen Auftrag und sind an die sozialpolitischen wie auch bildungs- und erziehungspolitischen Willensbildungsprozesse geknüpft.

Funktion sozialpädagogischer Dienste

Auffällig ist nun, dass die Sozialpädagogik gegenwärtig im Hinblick auf das Benennen ihrer Funktionen eher enthaltsam ist. Vielmehr wird sie von außen mit Funktionen belegt. Aber gerade dadurch gerät sie in einen Strudel, der sie vermeintlich oder tatsächlich zu neuen Ufern führt, indem sie sich anderen öffentlichen Diskursen anschließt. „Soziale Arbeit als Bildung“ steht ebenso wie die Aufhebung jedweder Differenz zwischen Sozialpädagogik und Sozialpolitik für diese Abstinenz in der eigenen Funktionsbestimmung. Eine wesentliche Ursache hierfür liegt darin, dass die gesellschaftliche Funktionszuschreibung der Sozialen Arbeit als „Bewachung und Reproduktion von Normalzuständen bzw. Normalverläufen“ (OLK 1986, S. 6) aus dem letzten Jahrhundert an Aussagekraft verliert, da sie infolge neuer gesellschaftlicher Bedürfnisse aufgefordert ist, ihre Leistungen über die ihr klassischerweise zugewiesene Funktion hinaus auszuweiten. Die Korrektur von Abweichungen bzw. die Herstellung von Normalität können nicht mehr als hinreichend für die Gewährleistung sozialer Integration gelten: Zum einen nicht, weil niemand mehr so genau weiß, was „normal“ ist, zum anderen, weil ganze Arbeitsfelder, wie die Kindertagesbetreuung oder die Altenhilfe, hiervon nicht angesprochen würden.

Normalität als Aushandlungsprozess

In dem Maße, wie sich die Normalitätsvorstellungen moderner Gesellschaften auflösen, Menschen nicht mehr in ihren Lebensbezügen aufgefangen werden können und die sozialen Grenzen des Wachstums kollektiver Güter erkennbar werden (vgl. HIRSCH 1980), Differenzierungsprozesse in der sozialen Schichtung und den Lebensläufen weiter voranschreiten, institutionelle Erosionen infolge der „Zangenbewegung von unaufhaltsamem Anwachsen der Individualisierung und unaufhaltsamem Verlust der politischen Steuerungsfähigkeit“ (ZAPF 1990, S. 20) zunehmen und globale Risiken und Gefährdungen anwachsen, verliert die Soziale Arbeit ihre Legitimationsbasis: „Normalität“ wird ihres statistischen Inhaltes enthoben und bedarf zunehmend der Aushandlung. Gegenwärtig besteht demnach eine der zentralen Herausforderungen der Gesellschaftsanalyse in der Klärung der ordnungsstiftenden Faktoren, die trotz der in den Prozessen von Individualisierung, Pluralisierung und Temporalisierung der Lebensverläufe inhärenten anomischen Tendenzen ein spezifisches gesellschaftliches Gefüge gewährleisten.

„Citizenship und soziale Teilhabe“

Nicht zuletzt die radikalen gesellschaftlichen Transformationsprozesse in Osteuropa forcieren diesen Legitimationsdruck, dem die etablierten Prinzipien sozialer Sicherung gegenwärtig unterzogen werden, indem die Prämissen der Gewährung sozialer Unterstützung zunehmend polarisiert und so entweder konsequente Ableitungen aus einem „Bedürftigkeitsmodell“ gezogen werden oder aber das „Modell der Citizenship“ als Prinzip, das aus dem Geltendmachen allgemeiner Bürgerrechte resultiert, favorisiert wird (vgl. MARSHALL 1992). Dieses Modell wohlfahrtsstaatlicher Interventionen hat gegenüber dem „Bedürftigkeitsmodell“ einen wesentlich ausgedehnteren Gegenstandsbereich, indem es die Voraussetzungen der sozialen Teilhabe insgesamt in seinen Handlungsrahmen einbezieht:

„1. Status, d.h. sozial anerkannte Teilhaberechte, wie sie in den verfassungsmäßigen Grundrechten oder gesetzlichen Ansprüchen präformiert sind (…)

2. Ressourcen: Hierunter seien knappe Güter (bes. Zeit, Geld, Besitz) verstanden, über die Individuen grundsätzlich frei, jedoch in beschränktem Umfange verfügen können (…)

3. Gelegenheiten: Soziale Teilhabe setzt ein Angebot an Teilhabemöglichkeiten voraus, das nach Maßgabe von Status, Ressourcen und Kompetenzen wahrgenommen werden kann (…)

4. Kompetenzen: Hierunter werden unmittelbar an die Person gebundene Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit (wie Bildung, Gesundheit, Wissen, Fertigkeiten) und der Handlungsbereitschaft (wie normative Orientierungen, Leistungsbereitschaft oder spezifische Motivationen) verstanden (…)“ (KAUFMANN 1988, S. 88ff.).

Herstellung sozialer Teilhabegerechtigkeit

Sozialpädagogische Dienste erfahren nach diesen Überlegungen einen gegenüber früheren Funktionsbestimmungen ausgeweiteten Handlungsauftrag. Da sie über keinen direkten Zugang zu den Steuerungsmedien Recht und Geld verfügen, somit im Hinblick auf den Status oder die Ressourcen der Bürgerinnen und Bürger nur beschränkt agieren können, liegt ihr Wirkungskreis begrenzt in den Feldern „Gelegenheiten“ und „Kompetenzen“. Da sie hier aber nicht nur korrigierend eingreifen müssen, sondern an deren Herstellung aktiv beteiligt sind, weitet sich der Interventionsradius deutlich aus. In diesem Rahmen zielen sie dann gemeinsam mit anderen sozialpolitischen Leistungen auf soziale Teilhabegerechtigkeit.

Bezugspunkte sozialpädagogischer Dienste

Sozialpädagogische Dienste, die keine aktive Überprüfung ihres Handlungsauftrags übernehmen, sind unter Umständen zwar kurzfristig nicht existenziell bedroht, wenn sie sich neuen Zielgruppen zuwenden, sie dürften aber von einem Bedeutungsverlust betroffen sein: „Die moderne Gesellschaft spaltet sich auf in ein in den Institutionen geltendes Selbstbild, das die alten Sicherheiten und Normalitätsvorstellungen der Industriegesellschaft konserviert, und in eine Vielfalt lebensweltlicher Realitäten, die sich immer weiter davon entfernen“ (BECK 1993, S. 186). Der Lebensweltbezug der Sozialen Arbeit nimmt infolge dieser Prozesse kontinuierlich ab und die Analyse Becks „die Institutionen werden zu Reitern ohne Pferde“ (BECK 1993, S. 187) forciert die Frage nach dem Grad der Abweichung der sozialpädagogischen Dienste von ihren sozialstrukturellen Bezugspunkten. Solche Prozesse, denen insbesondere die Fähigkeit von Selbstreflexion abgesprochen werden kann, münden dann höchstens in einer „fürsorglichen Belagerung“.

Folgende Fragen sollten Sie beantworten können, wenn Sie Kapitel 1 gelesen haben:

 Welche Indikatoren beeinflussen den gesellschaftlichen Bedarf an sozialpädagogischen Diensten?

 Wo liegen die Grenzen der gesellschaftlichen Organisation sozialpädagogischer Dienste?

 Welche Funktionen werden den sozialpädagogischen Diensten zugeschrieben?

Weiterführende Literatur zu Kapitel 1:

Zu einführenden Begriffen:

OTTO, HANS-UWE/THIERSCH, Hans (Hrsg.) (20053): Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik, München/Basel.

THOLE, WERNER (2002a) (Hrsg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Opladen.

Für die Kinder- und Jugendhilfe:

SCHRÖER, WOLFGANG/STRUCK, NORBERT/WOLFF, MECHTHILD (Hrsg.) (2002): Handbuch Kinder- und Jugendhilfe. Weinheim/München.

Grundlegende Modernisierungstheorien sind:

BECK, ULRICH/GIDDENS, ANTHONY/LASH, SCOTT (1996): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt a.M.

BAUMAN, ZYGMUNT (2009): Flüchtige Moderne. Frankfurt a.M.

Einen Überblick über den sozialstrukturellen Wandel gibt:

BÄCKER, GERHARD/NAEGELE, GERHARD/BISPINCK, REINHARD/HOFEMANN, KLAUS/NEUBAUER, JENNIFER (2008 ): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Bd. 1: Grundlagen, Arbeit, Einkommen und Finanzierung. Wiesbaden.

SCHÄFERS, BERNHARD (20048): Sozialstruktur und Sozialer Wandel. Stuttgart.

Die Konsequenzen des sozialen Wandels für die sozialen Dienste thematisieren:

BÄCKER, GERHARD/NAEGELE, GERHARD/BISPINCK, REINHARD/HOFEMANN, KLAUS/NEUBAUER, JENNIFER (20084): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Bd. 2: Gesundheit, Familie, Alter und Soziale Dienste. Wiesbaden.

Einführung in die Theorie der Sozialpädagogischen Dienste

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