Читать книгу Einführung in die Theorie der Sozialpädagogischen Dienste - Gaby Flößer - Страница 15

3.1 „Hospitäler, Bewahranstalten und Strickschulen – die Institutionalisierung organisierter Hilfen für junge Menschen und ihre Familien“

Оглавление

Anfänge öffentlicher Versorgung und Erziehung

Die ersten Vorläufer von sozialpädagogischen Diensten finden sich bereits im Mittelalter. Die zentrale Einrichtung war das Hospital, welches im Gegensatz zum heutigen Verständnis nicht ein Krankenhaus darstellte, sondern all jene Personengruppen aufnahm, die nicht für sich selbst sorgen und nicht im Rahmen von der Familie versorgt werden konnten. Hierzu zählten die Kranken, Irren, Siechen, aber auch Findel- und Waisenkinder sowie Personen, die aufgrund körperlicher Gebrechen nicht dem Gewerbe der Bettelei nachgehen konnten. Daneben gab es bereits Institutionen, insbesondere Klöster, aber auch städtische Findelhäuser, die sich der Lage der verlassenen Kinder annahmen. Die Arbeit in den Hospitälern, Findel- und Waisenhäusern bestand lediglich in einer Versorgung der Hilfebedürftigen, bis die Kinder- und Jugendlichen in der Lage waren, für sich selbst Almosen zu erbitten (vgl. JORDAN 2005, S. 18).

Zucht- und Arbeitshäuser

Mit dem Aufbrechen der spätmittelalterlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung setzte ein Umdenken ein: Während das Almosenwesen in der mittelalterlichen Ständegesellschaft auf der religiösen Weltanschauung beruhte, dass Armut als gottgewollt, also ein von Gott verordnetes Schicksal (der Armenbevölkerung) bzw. als Gelegenheit zu guten Taten (für die Wohlhabenden) gesehen wurde, wird Armut ab dem 17. Jahrhundert als selbstverschuldet betrachtet. Die Folge war die Etablierung von Zucht- und Arbeitshäusern, die nach London 1555 und Amsterdam 1595 mit der Gründung des Bremer Arbeitshauses 1609 verstärkt auch in den deutschen Staaten Einzug hielten (vgl. SACHßE/TENNSTEDT 1980, S. 113ff. und 159ff.). Die Zucht- und Arbeitshäuser sind zunächst unspezifische Institutionen, die ein durchaus breites, durch alle Schichten gestreutes, Klientel haben. Typisch für die Arbeitshäuser ist die Verbindung von strenger Zucht und Ordnung auf der einen und Manufakturarbeit auf der anderen Seite. Diese Entwicklung kann als „Ökonomisierung der Armut“ (vgl. MÜNCHMEIER 1981) bezeichnet werden.

„Ökonomisierungder Armut“

Im Zentrum steht die Disziplinierung der Armen durch eine verschärfte Verpflichtung zur Arbeit. Die gefängnisartigen und geschlossenen Anstalten der Armenpflege des 16. und 17. Jahrhunderts wurden so zu einem Instrument der Wirtschaftsförderung und bildeten eine „industrielle Reservearmee“ als Vorsorge für die starken zyklischen Schwankungen des Arbeitsmarktes.

Armut als Erziehungsproblem

Da Armut nun nicht länger ein gottgewolltes Phänomen darstellt, werden Motivprüfungen eingeführt, die eine Unterscheidung zwischen Arbeitswilligen und Arbeitsunwilligen erlauben. Arbeitsfähigen, aber arbeitsunwilligen Personen wurde in Form einer hoch-repressiven Arbeitspädagogik innerhalb der privaten und kirchlichen Vereine und Initiativen begegnet. Der Kampf gegen die Armut wurde mehr und mehr als Erziehungsproblem wahrgenommen, sodass nicht zufällig die Industrieschulen, als Instrumente der Erziehung von Kindern und Jugendlichen aus den unteren Schichten zur Arbeitsamkeit, eine vergleichsweise schnelle Verbreitung fanden. Repression und Erziehung von Armen waren so zwei Seiten einer Medaille: der Durchsetzung des disziplinierten Arbeitsbürgers einerseits und die wirtschaftlichen Interessen der Manufakturbesitzer andererseits (vgl. SACHßE/TENNSTEDT 1980).

Pietismus

Der Intention nach anders stellten sich die im Zuge der religiösen Erweckungsbewegung (Pietismus) entstehenden Waisenhäuser dar. Ein prominenter Vertreter dieser Bewegung war August Herrmann Francke (1663 – 1727), welcher im Jahr 1694 die Halleschen Anstalten gründete. In den pietistischen Waisenhäusern wurden Kinder armer Familien durch regelmäßigen Schul- und Religionsunterricht sowie durch harte körperliche Arbeit erzogen. Im Gegensatz zu den Arbeits- und Zuchthäusern rückte hier die Erziehung der armen Kinder zu nützlichen Gesellschaftsmitgliedern in den Vordergrund. Die Kinder sollten durch Zucht und Ordnung dazu angeleitet werden, ihr Leben selbst zu gestalten. Auch wenn die Lebensbedingungen in den Waisenhäusern, insbesondere ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, heftig kritisiert wurden (Waisenhausstreit), bereitete Francke mit seiner Idee der Aufklärung über die eigene Situation sowie dem Gedanken einer Integration in das damalige Gesellschaftssystem den Weg der Entwicklung einer sozialen Fürsorge. Trotz aller Kritik wird Francke noch heute als ein Wegbereiter der Heimerziehung gesehen. Der Gedanke der Unterrichtung und Betreuung von Kindern wurde insbesondere im Zuge der fortschreitenden Aufklärung vorangetrieben.

Gründe für Auf- und Ausbau sozialer Einrichtungen

Der Auf- und Ausbau sozialer Einrichtungen für Kinder und Jugendliche hing dabei entscheidend mit folgenden gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen:

 Die Ausbreitung des Manufakturwesens begünstigt die Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre (Arbeitsort und Familie),

 die Entstehung der Klasse des besitzlosen Proletariats verschlechterte die Lebensbedingungen für weite Bevölkerungskreise und zwang zu Frauen- und Kinderarbeit,

 in der Aufklärung wurde das Bürgertum selbstbewusster und beanspruchte politische Mitbestimmung im Staat,

 Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Preußen 1717.

Friedrich Fröbel

Diese Entwicklungen führten letztlich zur Einrichtung von Kinderbewahranstalten, Vorläuferorganisationen des Kindergartens, die in erster Linie die Proletarierkinder vor Verwahrlosung bewahren sollten, erst in zweiter Linie bezweckten sie eine pädagogische Förderung. Nicht selten musste eine Aufsichtsperson bis zu 100 Kinder betreuen, was die Überfüllung dieser Anstalten verdeutlicht. Dennoch sollen sie dazu beigetragen haben, dass fast überall die Sterblichkeitsziffer der Kinder in den ersten Lebensjahren zurückging. Für die Kinder des Bürgertums gab es Kleinkinderschulen, die als familienergänzende Einrichtungen auf den späteren Besuch der Lernschulen vorbereiten sollten. Die Ausweitung des Erziehungsgedankens auf den frühpädagogischen Bereich und die Organisation spezieller Einrichtungen wird dabei mit dem Namen Friedrich Fröbel (1782 – 1852) verbunden. Für Fröbel beginnt die Erziehung mit der Geburt und ist eine weit umfangreichere Aufgabe, als nur die Erziehung zur Arbeit. Innerhalb der Erziehung wird den Kindergärten die Aufgabe übertragen, die häusliche Erziehung der Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren zu unterstützen, zu ergänzen und die Kinder durch Bewegungsspiele, Förderung des kreativen Gestaltens, das Anschauen und Besprechen von Bildern und Gegenständen, Erzählungen und Geschichten und leichte Gartenarbeit zu fördern.

Johann Heinrich Pestalozzi

Fröbel stand in der Entwicklung seiner pädagogischen Ideen in engem Austausch mit Johann Heinrich Pestalozzi (1746 – 1827). Er besuchte ihn mehrfach in seinen Einrichtungen der Armen- und Waisenfürsorge und teilte mit ihm die Einsicht in die Notwendigkeit frühkindlicher Erziehung. Die Erziehung zur Arbeit und durch die Arbeit stand bei Pestalozzi zwar im Vordergrund, aber da er Armut nie nur als ökonomische Mangellage betrachtete, und er die Kinder auch nicht zu einem bloßen reibungslosen gesellschaftlichen Funktionieren heranzüchten wollte, konnte und wollte er bei dieser einseitigen Sicht auf Armut nicht stehen bleiben. Denn, so die Annahme Pestalozzis, die Erziehung zur Arbeit sollte vielmehr eingebettet in eine ganzheitliche Bildung sein und stärker in die Entwicklung des Einzelnen eingreifen. Großen Wert legt er auf die didaktische Vermittlung des dem Kind beizubringenden Wissens. In Folge dieser Einsicht wird nach anfänglicher Zusammenlegung von produktiver Arbeit und schulischem Unterricht dem Kind beides zeitlich getrennt nahegebracht. Durch eine ganzheitliche Erziehung von ,Kopf, Herz und Hand‘ im Rahmen von Arbeit war es das Ziel Pestalozzis, das ,arme‘ Kind zur selbständigen Lebensführung zu erziehen (vgl. RAITHEL/DOLLINGER/HÖRMANN 2005, S. 114f.). Ankerpunkt seiner institutionellen Umsetzung dieser Erziehungsidee war die Orientierung in ein festes soziales Gefüge. Die Anstrengungen dieser Anstaltserziehung für die Kinder wurden seinerseits gerechtfertigt durch das Erleben einer Liebesbeziehung zwischen Kind und Erzieher, welches dem in einer „Wohnstube“ ähnlich war.

Johann Wichern und die „Rettungshausbewegung

Ein gutes Jahrhundert später kam es in Europa im Zuge der religiösen und kirchlichen Erneuerungsbewegung („Rettungshausbewegung“) zu einer Fürsorge für verwahrloste Kinder, die durch die beginnende Industrialisierung aus Familien- und Dorfgemeinschaften herausgerissen wurden. Die im Kern bis dato immer noch altruistische Hilfeleistung unterlag in ihren Leitmotiven einer Wandlung: „Rettung“, „Förderung“ und „Besserung“ mit pädagogischen Mitteln wie Strafe und Erziehung standen nun im Vordergrund, da es zentral um die religiöse Seelenrettung der Kinder bzw. Jugendlichen ging. Der Pfarrer Johann-Hinrich Wichern (1808 – 1881) gründete im Jahr 1833 das „Rauhe Haus“ in Hamburg und erzog dort verwahrloste Kinder und Jugendliche in familienähnlicher Umgebung. Im Gegensatz zu den bisherigen Konzepten außerfamiliärer Erziehung zeichnete sich Wicherns Rettungshaus dadurch aus, dass neben dem Aspekt der Arbeit erstmalig der Gedanke an eine pädagogisch angeleitete Freizeitgestaltung ins Spiel kam. Zudem nahmen die Rettungshäuser nur Kinder mit vorheriger Zustimmung der Eltern auf, wodurch erstmalig eine freiwillige Erziehungshilfe institutionalisiert wurde.

Einführung in die Theorie der Sozialpädagogischen Dienste

Подняться наверх