Читать книгу Einführung in die Theorie der Sozialpädagogischen Dienste - Gaby Flößer - Страница 12
2.1 Eine Theorie sozialpädagogischer Dienste und ihre disziplinäre Verortung
ОглавлениеSoziale Arbeit als Disziplin
Werden diese Mindestkriterien zugrunde gelegt, dann können für die sozialpädagogischen Dienste seit den 1990er Jahren verstärkte Anstrengungen einer wissenschaftlichen Theoriebildung konstatiert werden. Dies hängt unmittelbar mit der Konsolidierung der Sozialen Arbeit als einer wissenschaftlichen Disziplin zusammen. Ca. 30 Jahre nachdem die Soziale Arbeit zu einem festen Bestandteil der universitären Ausbildung geworden ist, wird ihre Wissenschaftsfähigkeit nicht mehr angezweifelt. Angesichts der eingangs beschriebenen Skepsis gegenüber der Theorieproduktion sind überprüfbare Erklärungen und Begründungen sowie die Reflexion auch des praktischen Handelns heute unhintergehbarer Standard. Die Verwendung theoretisch erzeugten Wissens ist jedoch gar nicht das primäre Ziel der Erkenntnisproduktion: Theorien kommen aus der Disziplin und sind wohl auch erst einmal an diese gerichtet. Das Argument, Theorien seien in der Praxis nicht brauchbar, trifft von daher nicht. Theorien erklären bestimmte Ausschnitte von gesellschaftlicher Wirklichkeit und beanspruchen keineswegs, Rezepte für professionelles Handeln oder gar Maßstab für die Bewertung dieses Handelns zu sein. Sie sind vom Handlungszwang entlastet.
Disziplinäre Bezüge
Wenn die Disziplin der Ort ist, an dem die Theorien entstehen und an dem sich ihre Güte zu beweisen hat, dann stellt sich die Frage, welche Disziplin für eine Theorie sozialpädagogischer Dienste im Hinblick auf ihre Begriffe, Aussagen und Argumentationen eine geeignete Heimat bietet. Aufgrund der Institutionalisierungslogik des Wissenschaftssystems – und nicht zwangsläufig der der Sozialen Arbeit – bieten sich vorrangig zwei Optionen an: Die Erziehungswissenschaft und die Sozialarbeitswissenschaft.
Erziehungswissenschaft
Soziale Arbeit als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft
An den meisten deutschen Universitäten ist die Soziale Arbeit als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft institutionalisiert. Dies hängt disziplingeschichtlich mit der „(Sozial-)Pädagogik“ zusammen, deren wissenschaftliche Fundierung die allgemeine Theoriebildung und Forschungspraxis der Erziehungswissenschaft stets begleitete. Während die Sozialarbeit einer fürsorgerischen Tradition folgte, deren Ausgangspunkte in einer defizitorientierten Beschreibung sozialer Probleme (v.a. Armut und Abweichung) lag und wissenschaftlich von der Soziologie bearbeitet wurde, standen in der Sozialpädagogik die Kategorien der Erziehung, der Bildung, der Sozialisation und der Hilfe im Zentrum, wobei die Lebensphasen der Kindheit und der Jugend besondere Beachtung erfuhren. Insofern diese Kategorien sich heute nicht mehr auf eine Phase des Lebenslaufs beschränken lassen, sondern zu einem universellen Bestandteil und einer Anforderung an die individuelle Lebensführung werden, der Gegenstand der Erziehungswissenschaft als „professionelle Lebensbegleitung“ (LENZEN 1997) sich gleichsam entgrenzt, findet die Soziale Arbeit auch insgesamt sich ein unter dem Dach der Erziehungswissenschaft. Sowohl die Erziehungswissenschaft als auch die Soziale Arbeit müssen im Hinblick auf ihren Gegenstandsbereich die Konsequenzen des gesellschaftlichen Wandels theoretisch bearbeiten:
„Zwei Veränderungen haben (…) stattgefunden: Die Formen der Einflussnahme und der Sorge für Menschen haben sich erweitert und die zeitliche Dimension wurde entgrenzt – von der Wiege bis zur Bahre. Das institutionalisierte Gefüge sozialpädagogischer Praxis lässt sich deshalb nur noch als differenzierte Organisation von Einrichtungen beschreiben, die den Lebenslauf begleiten“ (HAMBURGER 2003, S. 153).
Eine Theorie der sozialpädagogischen Dienste würde dann denjenigen Ausschnitt aus der Teildisziplin beleuchten, der das sozialpädagogische Handeln in seiner organisierten Verfasstheit, also in den sozialen Diensten, betrifft.
Sozialarbeitswissenschaft
Sozialarbeitswissenschaft als eigenständige Disziplin
Was ist die Identität Sozialer Arbeit und welche Theorie braucht sie? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt für die Diskussion um eine Sozialarbeitswissenschaft, die Ende der 1980er Jahre insbesondere von Kolleginnen und Kollegen der Fachhochschule gestartet wurde. Hiernach reicht es für die Soziale Arbeit nicht aus, eklektizistisch auf Theorien anderer Disziplinen zurückzugreifen, sondern ein eigenständiger Theorierahmen soll künftig das gesellschaftlich so bedeutsame Handlungsfeld der Sozialen Arbeit konturieren (vgl. ENGELKE 1998). Bewusst wird dabei die Disziplin der Erziehungswissenschaft als nicht hinreichend, wenn nicht sogar als irrelevant bezeichnet. Dies hängt in erster Linie mit dem für die Soziale Arbeit zu fordernden Wissenschaftscharakter zusammen:
Verhältnis von Universitäten und Fachhochschulen
Sozialarbeitswissenschaft hat als Adressatinnen und Adressaten ihrer Erkenntnis neben der Disziplin auch die Profession. Die Debatte um die Sozialarbeitswissenschaft hat entsprechend mindestens zwei Stränge, die gelegentlich miteinander verwoben werden, obwohl sie nicht zwangsläufig ineinander greifen. Unter dem Label Sozialarbeitswissenschaft findet zum einen eine bildungs- und hochschulpolitische Debatte über das Verhältnis von Universitäten und Fachhochschulen statt, die oftmals auch polemisch bestimmt wird:
„Wie das eben zwischen der Beletage und dem Souterrain im Haus der Gelehrsamkeit so ist. Aber unten ist man näher an der Straße, wo man von Berufs wegen mit den Leuten zu tun hat. Weiter oben ist der Ausblick besser; der nutzt aber wenig, wenn sich die universitäre Sozialpädagogik vor allem um ihr Selbstverständnis innerhalb des Zirkels kümmern muss, den die Erziehungswissenschaft, genauer: die Pädagogenfakultät, um sie geschlagen hat. Außerhalb ihres Bannes sind wir freier, die Sozialarbeitswissenschaft zu entfalten“ (WENDT 1994, S. 19).
Disziplinäre Zuordnungsproblematik
Zum anderen stehen Bemühungen im Vordergrund, den Gegenstandsbereich, die Funktion sowie das Instrumentarium einer wissenschaftlich fundierten Sozialen Arbeit autonom zu definieren:
„Soziale Arbeit ist eine Profession, die sozialen Wandel, Problemlösungen in menschlichen Beziehungen sowie die Ermächtigung und Befreiung von Menschen fördert, um ihr Wohlbefinden zu verbessern. Indem sie sich auf Theorien menschlichen Verhaltens sowie sozialer Systeme als Erklärungsbasis stützt, interveniert Soziale Arbeit im Schnittpunkt zwischen Individuum und Umwelt/Gesellschaft. Dabei sind die Prinzipien der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit für die Soziale Arbeit von fundamentaler Bedeutung“ (International Federation of Social Workers 2000, zit. n. STAUB-BERNASCONI 2002, S. 256).
Ob es tatsächlich gelingen wird, eine konsistente Sozialarbeitswissenschaft nicht nur zu entwerfen, sondern auch durch eine entsprechende Forschungsmethodologie zu fundieren, soll und kann hier nicht entschieden werden, eine wesentliche Unterscheidung zu dem eingangs skizzierten Theorieverständnis ist allerdings festzuhalten: Die Sozialarbeitswissenschaft versteht sich nicht als interdisziplinär, sondern als transdisziplinär.
Unterhalb dieser disziplinären Zuordnungsproblematik gibt es derzeit eine angeregte Diskussion um eine geeignete Perspektive auf die Soziale Arbeit, die auf differente wissenschaftstheoretische und konzeptionell-programmatische Zugänge zu den sozialpädagogischen Diensten aufmerksam macht.