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6 ÜBERLEBENDE

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Für die jüngeren Musik-Pioniere, die flexibel genug waren und Mut zum Risiko hatten, bot der Radio-Boom durchaus die Möglichkeit, im Revier der großen Fische zu wildern – auch wenn der Teich zweifellos kleiner geworden war. Die 20er Jahre, so problematisch sie auch wirtschaftlich waren, sollten sich jedenfalls als reichhaltiger Nährboden für musikalische Großtaten erweisen. Als sich das Interesse immer mehr in die Nischen verlagerte, tauchte aus dem Unterholz ein neuer Typus des Talentscouts auf – der mit allen Wassern gewaschene record man.

Es waren zwei juristische Präzedenzfälle, die als Wegweiser in die schöne neue Radio-Welt dienten: Im Januar 1922 untersagte es die US-Regierung den privaten Radiobetreibern, die Ätherwellen mit »Unterhaltung« zu füllen. Es war ein vager Terminus, der noch im September gegen »mit Hand betriebene Instrumente« ausgetauscht wurde. Mit anderen Worten: Teenagern war es nun verboten, ihre Schallplatten mit anderen Radiohörern zu teilen.

Die ASCAP, der Interessenverband der Komponisten und Musikverleger, der sich neun Jahre zuvor konstituiert hatte, führte im Sommer 1923 einen Musterprozess gegen L. Bamberger & Company, die Eigentümer eines großen Warenhauses in New Jersey, gleichzeitig auch Betreiber der Radiostation WOR. Da die Radiostation sich geweigert hatte, für die ausgestrahlten Songs Tantiemen an die ASCAP abzuführen, entschied der Gerichtshof in Newark zu Gunsten der Kläger. Die Musikverleger begrüßten zwar grundsätzlich das Radio, wollten auf eine Scheibe der neuen Einnahmequelle aber keineswegs verzichten.

Anders als Victor und Edison hatte Columbia nicht die Cash-Reserven, um sich die Zeit mit Prozessen und Boykotten zu vertreiben. Immerhin waren die Columbia-Mitarbeiter hellhörig genug, das Radio als kostenlose Werbung zu begreifen. Am Ende des Tages aber brauchte die Firma vor allem eines: den visionären Kopf, der sie aus ihrer finanziellen Misere führte. Der Gesuchte kam in Gestalt des bulligen, scharfzüngigen Louis Sterling, der bislang Columbias Statthalter in London gewesen war. Während sich die grauhaarigen Industriellen Eldridge Johnson und Thomas Edison grummelnd in ihre Pa­läs­te zurückgezogen hatten, traute er sich zu, das lecke Schiff wieder flottzumachen.

Sterling, als Sohn jüdischer Eltern in Litauen geboren, war schon als Baby nach Amerika gekommen, hatte seine neue Heimat aber 1903 wieder verlassen, um in England sein Glück zu suchen. Bei seiner Ankunft in Southampton verjubelte er seine letzten fünf Dollar und schlief lieber auf dem Fußboden eines englischen Gefängnisses. Am nächsten Tag klopfte er sich den Staub aus den Kleidern und besuchte William Barry Owen, Chef der Gramophone Company, den er zuvor in New York kennengelernt hatte. Wie versprochen gab Owen dem 24-jährigen Jungen eine Chance: Als Vertreter für den hauseigenen Phonographen konnte Sterling in ganz England Erfahrungen sammeln, die ihn mit der Mentalität der Käufer, aber auch mit sozialen und kulturellen Unterschieden vertraut machten.

Nach Stationen bei kleineren Firmen heuerte er 1910 als Ver­kaufschef bei der englischen Columbia an – und war am Ende des Krieges bereits ihr Geschäftsführer. Aufgrund reichlich fließender Provisionen hatte es Sterling zu einem stattlichen Vermögen gebracht, das er allerdings größtenteils in sein Hobby – das Sammeln rarer Bücher – investierte.

Als in Amerika der Radio-Boom begann, überzeugte Sterling seine englischen Geldgeber, dass das Zeitalter der Schallplatte noch keineswegs vorbei sei. Mit der ihm eigenen Risikofreude legte er im November 1922 500000 britische Pfund auf den Tisch und kaufte seinen Arbeitgeber auf – inklusive aller Trademarks, die Columbia in Europa und Asien erworben hatte. Er richtete seinen Blick gen Amerika, wo Columbia zwar unter Konkursverwaltung stand, aber immer noch Hits produzierte. Im Fahrwasser von Okeh hatte Columbias Talentscout Frank Walker die Bluessängerin Bessie Smith unter Vertrag genommen und von ihrem »Golf Coast Blues« 750000 Exemplare verkauft. Es war ein Treppenwitz der Geschichte, dass Bessie Smith (die von Okehs Fred Hager als »zu schwarz« – und von Harry Pace als »zu urwüchsig« abgelehnt worden war) nun Columbia aus den größten Sorgen sang.

Kurz darauf nahm Paramount, ein kleines Label aus Wis­con­sin, Ma Rainey unter Vertrag – eine weitere kernige Blues-Diva, die sich ebenfalls auf Vaudeville-Bühnen ihre Sporen verdient hatte. 60 Meilen weiter, in Richmond/Indiana, begann das Gennett-Label damit, Chicagos florierende Jazz-Szene auf Tonträgern festzuhalten. Die Musikverleger Lester und Walter Melrose waren bei Gennett mit den Notenblättern zweier Jazzmusiker aufgekreuzt, die ursprünglich aus New Orleans stammten, in Chicago aber als neue Pioniere gehandelt wurden: Jelly Roll Morton und King Oliver.

Es war dieser glücklichen Begegnung zu verdanken, dass King Oliver’s Creole Jazz Band – mit Louis Armstrong auf dem Kornett – 16 Aufnahmen für Gennett einspielte und damit offiziell den »Hot Jazz« aus der Taufe hob. Jelly Roll Morton hatte seine Karriere in den Bordellen von Storyville gestartet und war dort als Gauner, Glücksspieler, Zuhälter, Komiker und Pianist tätig gewesen. Der Mann mit den Diamanten-verzierten Zähnen schrieb nicht nur seine eigenen Kompositionen und Arrangements, sondern integrierte auch die kreolischen und karibischen Rhythmen von New Orleans in sein Material – eine Musikfarbe, die er »die spanische Mischung« nannte.

Doch so wegweisend diese Aufnahmen aus dem Mittleren Westen auch sein mochten: Es war noch immer das Okeh-Label, das Neuland betrat und progressive Ideen förderte. Die Zeitschrift The Wireless Age kürte es jedenfalls zur Radio-freundlichsten Plattenfirma in ganz Amerika. Okeh begann auch damit, die Fühler nach Atlanta, St. Louis, Detroit und Chicago auszustrecken. Einer der Pioniere auf diesen musikalischen Expeditionen war Ralph Peer, der zuvor als Toningenieur Mamie Smiths »Crazy Blues« betreut hatte. Während er im mobilen Okeh-Studio quer durch die USA fuhr, sah sich Peer eigentlich nur mit einem Problem konfrontiert: Es gab einfach viel zu viele Kandidaten, die er aufnehmen wollte.

Peer, ein drahtiger Mitt-Dreißiger, stammte aus Independence/Missouri und hatte früher im Kansas-Büro von Columbia gearbeitet. Während er nun in Hotelzimmern, Lagerhallen oder Tanzschuppen seine Aufnahmen mit Blues, Gospel und Folk machte, wurde ihm schlagartig bewusst, wie viel unentdeckte Talente sich im jungfräulichen Hinterland noch versteckten.

Sein wichtigster Kontakt in Atlanta war der 19-jährige Polk Brockman, der in einer Ecke des väterlichen Möbelgeschäfts schon so viele »race records« verkauft hatte, dass Okeh ihm den Vertrieb für den ganzen Südosten der USA anvertraute. Als er im Juni 1923 bei einem New York-Trip das Palace Theater am Times Square besuchte, sah er in einer Wochenschau zufällig einen Fiddler-Wettbewerb in Virginia. Wie vom Blitz getroffen, griff Brockman zu seinem Notizbuch und schrieb: »Fiddlin’ John Carson – lokales Talent – unbedingt aufnehmen!« Besagter Fiddler war ein 53-jähriger Farmer aus den Blues Ridge Mountains. Brockman überzeugte Peer, bei seiner nächsten Musikexpedition in jedem Fall auch in Atlanta vorbeizuschauen.

Peer nahm den Geiger aus den Appalachen in einer Fabrikhalle auf, hatte anschließend aber erhebliche Bedenken: Das Kratzen und Quietschen der Fiddle, so befand er, klänge »absolut scheußlich«. Brockman wusste indes, dass Carson unter den Rednecks, die in Atlantas Textilfabriken arbeiteten, eine loyale Gefolgschaft hatte. Um zu verhindern, dass die Aufnahme in den Archiven verstaubte, bat er Peer, ihm »umgehend« 500 Platten zu pressen.

Vier Wochen später traf eine Kiste mit unbeschrifteten Platten per Zug in Atlanta ein. Ein paar Tage später trat Fiddlin’ John Carson bei einem örtlichen Festival auf – und Brockman begann damit, den begeisterten Zuschauern die schwarzen Scheiben zu verkaufen. »Ich werd wohl mit dem Schnapsbrennen aufhören müssen und nur noch Platten machen«, bemerkte Carson, als er den Trubel verfolgte.

Nachdem Brockman Nachschub geordert hatte, nahm Peer den ungeliebten Fiddler auch offiziell in Okehs Repertoire auf. Er erinnerte sich auch daran, dass er kurz zuvor eine ähnliche Testpressung mit dem Titel »The Wreck of the Old ‘97« aussortiert hatte. Ein gewisser Henry Whitter besang darauf ein tragisches Zugunglück, das sich 1903 in Virginia abgespielt hatte. Peer schickte eine Kopie zu Brockman, der ihm bestätigte, dass es in Tennessee und Virginia mit Sicherheit einen Markt dafür gebe. Im Handumdrehen hatte Okeh einen weiteren ländlichen Hit – und Peer spürte, dass es erst die Spitze des Eisbergs war.

Die Konkurrenz brauchte nicht lange, um auf das Phänomen aufmerksam zu werden. Frank Walker von Columbia vergaß für eine Weile seine Bessie Smith und widmete sich vermehrt dem, was nun »Hillbilly« hieß. Im August 1924 gab Victor dem Balladensänger Vernon Dalhart den Auftrag, eine neue Version von »The Wreck of the Old ‘97« einzusingen. Die bewusst rührselige Interpretation traf den Nerv der Zeit und mauserte sich zu einem landesweiten Monster: Mit insgesamt sieben Millionen Exemplaren war es der größte Hit in der 40-jährigen Geschichte der Plattenindustrie.

Derartige Erfolgserlebnisse waren Balsam für eine Industrie, die im Lauf der letzten Jahre den Glauben an sich verloren hatte. Ein noch größerer Rettungsring wurde ihr von den Bell-Laboratorien zugeworfen, wo Forscher eine Vitalitätskur für den technisch veralteten Phonographen gefunden hatten. Indem sie Kondensatormikrofone, Röhrenverstärker mit angepasster Impedanz und eine elektromagnetische Technik zum Schneiden der Platten kombinierten, erfanden sie praktisch den Prozess des Aufnehmens völlig neu. Mit Hilfe der Mikrofone und Verstärker konnte man nun tiefe wie hohe Frequenzen mit ungekannter Präzision aufzeichnen, Sänger mussten nicht mehr schreien, die Aussprache war verständlicher – und Instrumente wie Gitarren und Banjos wurden erstmals nicht von den lauteren Blasinstrumenten übertönt.

Nachdem man die Technologie patentiert hatte, boten die Bell-Labs das »Western Electric electrical recording system« zunächst Victor, dann aber auch Columbia an. Angesichts lee­rer Kassen und der hohen Lizenzkosten für »Westrex« konnte sich Victor zu keiner Entscheidung durchringen. Louis Sterling hingegen, der die Entwicklung aus London aufmerksam verfolgt hatte, kam umgehend nach New York, kaufte Columbia Phonograph für 2,5 Millionen Dollar – und sicherte sich die Rechte an dem neuen, elektrischen Aufnahmeverfahren. Als Victor schließlich doch noch nachzog, entschlossen sich beide Firmen, ihre alten, »akustisch« aufgenommenen Platten zu verhökern, während sich die Techniker daranmachten, die alten Studios mit Trennwänden und separaten Kabinen aufzurüsten.

Sich von den akustisch aufgenommenen Platten zu trennen, war zumindest ein Indiz, dass Eldridge Johnson langsam im Radio-Zeitalter angekommen war. Es war aber bezeichnenderweise sein Sohn, der den Vater zu neuen Victor-Modellen zu überreden versuchte, die neben einem elektrischen Plattenspieler auch einen Radioempfänger anbieten sollten. Ende Februar antwortete der Vater mit einem nachdenklichen Memo: »Ich kann mir nicht vorstellen ..., dass die vom Radio übertragene Musik die Talking Machines ersetzen kann; das Radio kann allenfalls unser Wachstum verlangsamen. Die Talking Machine hat nun einmal den Vorzug, ein individuelles Hören zu erlauben, eine freie Auswahl anzubieten, eine unbegrenzte Wiederholung und obendrein das Gefühl, eine Aufnahme wirklich zu besitzen – alles Eigenschaften, die das Radio nicht hat.«

Victor sah keine andere Wahl, als das Werbebudget einmal mehr aufzustocken – ein Posten, der im Jahr 1924 immerhin fünf Millionen Dollar ausmachte und Victor nach »Campbell’s Soup« zum größten Anzeigenkunden im amerikanischen Zeitschriftenmarkt machte. Ein Jahr später blieb es dem einstigen Marktführer trotzdem nicht erspart, das erste Minus in den Bilanzen zu verkünden. Eldridge Johnson musste hilflos mit ansehen, wie eine Führungskraft nach der anderen seine Firma verließ – obwohl die Manager mit 15 Prozent an Victor beteiligt waren. »Ich muss die ganze Organisation neu aufbauen«, klagte er, »diesmal aber mit Leuten, deren finanzielles Engagement weitaus geringer ist.«

Nachdem er seinen fruchtlosen Radio-Boykott endlich abgeblasen hatte, folgte Johnson dem Beispiel von Brunswick und organisierte Silvester 1926 in den Victor-Studios ein Konzert, das live vom Radio ausgestrahlt wurde. Bei der viel beachteten Veranstaltung stand der Star-Tenor John McCormack im Mittelpunkt – und konnte sich anschließend sogar darüber freuen, dass die Verkäufe seiner Platten deutlich anzogen.

Thomas Edison indes, noch weitaus konservativer als Johnson, kam aus seiner Schmollecke nicht heraus. Nachdem er einmal einer Radiostation erlaubt hatte, ein paar seiner liebsten »Edison Diamond Discs« zu spielen, rief er den Sender nach der Ausstrahlung persönlich an und beschwerte sich: »Wenn der Phonograph so katastrophal klänge, würde niemand das Gerät kaufen. Warum lassen Sie es zu, dass die Hörer einem derartigen Laborversuch ausgesetzt werden? Ich gebe den Leuten ein fertiges Produkt, aber Sie sind weit davon entfernt, etwas Vergleichbares anbieten zu können. Ich will damit nichts zu tun haben.«

Während sich die alten Mogule immer weiter ins Abseits manövrierten, marschierte Otto Heinemann umso energischer nach vorn. Da nun selbst in abgelegenen Regionen des Landes neue Radiosender entstanden, graste er mit seinem Aufnahmetruck nun auch Regionen ab, die bislang nicht auf der musikalischen Landkarte verzeichnet waren: St. Petersburg, Cleveland, Buffalo, Kansas City, Anapolis, Asheville oder Dallas. In einem Editorial von 1925 rühmte »Talking Machine World« beispielsweise Okehs Cajun-Aufnahmen: »Die Art und Weise, wie sie das Leben am Bayou porträtieren, grenzt fast schon an Poesie. Es sind Geschichten über die wundersamen Kreaturen, die sich in den Wassern der Bayous verbergen, aber auch über das monotone Leben der Fischer.« Es war diesen field recordings zu verdanken, dass wir erstmals einen Blick in das folkloristische Herz Amerikas werfen konnten – ein Herz, das erst durch die schillernden Geschichten seiner Einwanderer zu schlagen begann.

Es war vielleicht unvermeidlich, dass sich Louis Sterling 1925 auch Okehs Mutterfirma – die Carl Lindström-Gruppe – einverleibte und damit gleich zwei neue Standbeine bekam: eins im kontinentalen Europa, das andere im ländlichen Amerika. Die größeren Schlagzeilen in Fachkreisen aber machte Eldridge Johnsons endgültige Kapitulation: 1926 kaufte das Finanzkonsortium Seligman & Speyer die »Victor Talking Machine Company« für 400 Millionen Dollar. Es war eine Entscheidung, die Johnson bis zu seinem Todestag bereuen sollte.

Da er sich von den neuen Herren einen Karrieresprung versprach, wechselte Ralph Peer die Fronten und heuerte bei Victor an. Er machte sich auf den Weg nach Bristol/Tennessee, richtete im Obergeschoss eines Hutgeschäftes ein Studio ein und schaltete in den Zeitungen der Umgebung eine Annonce: »In keiner anderen Region des Südens wurden die Vorkriegs-Melodien und Appalachen-Songs sorgsamer tradiert als in den Bergen von East Tennessee und Southwest Virginia ... Vor allem aus diesem Grund hat sich die Victrola Company entschlossen, Bristol zu ihrer operativen Basis zu machen.« Peer verstand es auch, die angesprochenen Musiker um den Finger zu wickeln: In den begleitenden Zeitungsartikeln wurde stets erwähnt, dass der »Hillbilly« Ernest Stoneman gerade einen Tantiemen-Scheck über 3600 Dollar erhalten habe. Unter den Solisten und Gruppen, die sich aus den Bergen auf den Weg nach Bristol machten, entdeckte Peer unter anderem Jimmie Rodgers und die Carter Family, die mit ihrer »Bristol Session« einen Meilenstein der Countrymusik lieferte.

Das Motiv hinter Peers Arbeitsplatzwechsel sollte auch schnell publik werden: Ein Victor-Angestellter namens Nathaniel Shilkret erzählte davon, dass sich einer ihrer Manager mit Peer zusammengesetzt habe, um über sein Honorar als Talentscout zu verhandeln. Peer habe dabei eine neuartige Idee durchboxen können, nämlich »keine Gehaltserhöhung, sondern eine Tantieme – ein Cent pro Plattenseite –, die er sich dann mit dem Künstler teilen würde«. Shilkret erinnerte sich daran, dass der Vorschlag intern ein Erdbeben ausgelöst habe: »Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. Niemand aus der Musikabteilung hatte je eine Tantieme für seine Arrangements oder Kompositionen bekommen. Und plötzlich gab es da diesen Mann, der sogar Tantiemen für die Kompositionen anderer Leute erhielt.«

Allein im zweiten Quartal 1927 nahm Peer 250000 Dollar an Tantiemen ein und gründete umgehend seine eigene Firma. Wobei die »Southern Music Company« ihre Künstler dazu verpflichtete, nicht nur die Verlagsrechte, sondern auch das Management von der Firma wahrnehmen zu lassen. Peer mochte ein schlitzohriger Opportunist sein, aber zumindest verstand er die Mechanismen des Marktes. Hier im ländlichen Hinterland waren die Musiker schon froh, wenn sie eine Pauschale von 50 oder 100 Dollar bekamen. Er behauptete sogar, dass »ein Honorar eigentlich überflüssig war, da die meisten von ihnen keinerlei Entgelt für eine Aufnahme erwarten«.

Während sich Musikmanager wie Ralph Peer und Frank Walter fast nur noch auf weiße Countrymusik konzentrierten, wurde der ländliche und weit weniger kommerzielle Blues von einem anderen Talentscout entdeckt: Henry Speir aus Jackson/Mississippi war ein weiterer weißer Ladenbesitzer, der in einer Lagerhalle Gramophone und Instrumente anbot, aber auch rund 3000 Schallplatten. Er erlaubte es seiner vorwiegend farbigen Kundschaft, sich Platten in einer Kabine anzuhören und bot ihnen auch an, für fünf Dollar eine eigene Aufnahme zu machen. Er konnte nicht ahnen, dass er fast im Alleingang alle großen Delta Blues-Sänger der späten 20er und frühen 30er Jahre entdecken sollte.

Wie sehr dieser Markt vernachlässigt worden war, hatte bereits das Paramount-Label aus Wisconsin bewiesen, als es 1926 mit Blind Lemon Jefferson eine Aufnahme produziert hatte, die zumindest in dieser Nische ein echter Hit war. Es handelte sich um einen kargen, rohen, bodenständigen Blues, der so authentisch klang, als säße der Musiker auf einer Veranda und traktiere seine lädierte Gitarre. Da Paramount händeringend nach einem Nachfolgehit suchte, klopfte man bei den Geschäftspartnern im ganzen Land an. Speir, der seine Platten bei Zwischenhändlern in St. Louis bestellte oder direkt per Mailorder bei den Labeln, war auch bei Paramount kein Unbekannter mehr.

Speir wusste genau, dass es in Mississippi Bluesmusiker gab, die sich hinter Blind Lemon Jefferson nicht verstecken mussten. Und er wusste auch, wie die farbigen Plattenkäufer tickten. Samstags kamen sie mit alten Autos und Trucks nach Jackson, um hier Straßenmusiker zu begutachten oder aber Platten zu kaufen, die dann bei Partys auf den Plantagen gespielt wurden. Im Sommer hatte Speir seinen Laden oft bis zehn Uhr abends geöffnet und verkaufte täglich bis zu 600 Platten. Die Mehrzahl der Käufer bestand aus farbigen Frauen – oft Dienstmädchen oder Köchinnen, die bei reichen Familien arbeiteten. Die typischen Baumwollpflücker konnten sich die 75 Cent für eine Platte nur zur Erntezeit leisten, wenn sie zumindest zeitweise etwas Geld in der Tasche hatten.

Da er mit Farbigen aufgewachsen war, konnte Speir selbst die versteckten Anspielungen in Blues-Texten verstehen. Er wusste, dass es eigentlich immer nur um Glücksspiele ging, um Alkohol, Ehebruch und körperliche Gewalt. Messerstechereien und tödliche Schüsse standen in den Tanzkneipen nun mal auf der Tagesordnung. Wer Gospel sang und zur Kirche ging, hatte in dieser tiefreligiösen Umgebung einen Freifahrtschein in den Himmel. Wer hingegen den Blues spielte und ein Leben in Sünde führte, steckte mit dem Teufel unter der Decke und musste in die Hölle.

Auf der Suche nach ausdrucksstarken Bluesmusikern fuhr Speir kreuz und quer durchs Hinterland, suchte auch in den benachbarten Bundesstaaten, schaute sich Straßensänger an, besuchte Vollmond-Partys und die Tanzveranstaltungen auf den Plantagen, ja begutachtete sogar die Stimmen der Ansager auf den Bahnhöfen. Auch wenn es überall Talente zu geben schien, so stellte er doch schnell fest, dass er vor allem in der Umgebung von Memphis und New Orleans fündig wurde.

Glaubte er ein Talent entdeckt zu haben, nahm Speir zwei Songs auf einer Metallscheibe auf und schickte sie zu einer potenziell interessierten Plattenfirma. Um eine entspannte Per­formance zu bekommen, hatte er stets einen ausreichenden Nach­schub an Alkohol zur Hand. Das bevorzugte Gift der Bluesmusiker war in den Jahren der Prohibition entweder Etha­nol, das gewöhnlich als Antiseptikum eingesetzt wurde, oder aber verdickter Brennspiritus, der nach dem Erhitzen eine rauschhafte Wirkung entfaltete.

Für eine Erfolgsprämie von 150 Dollar brachte er William Harris zu Gennett oder Tommy Johnson zu Ralph Peer. Auf einer Plantage stolperte er 1929 über Charlie Patton, »den Vater des Delta Blues«. Es war ein kleiner Mann mit großer Stimme, der obendrein mehr Songs geschrieben hatte, als sich in einer Session aufnehmen ließen. Das Originalmaterial war, neben dem individuellen Stil, für Speir der wichtigste Faktor – und zwar aus einem ganz banalen Grund: Wenn man einen vielversprechenden Musiker gefunden hatte, setzte man ihn in einen Zug in die nächste Stadt und nahm in einem mobilen Studio eine Handvoll Songs mit ihm auf. Um Speirs Unkosten und die 50 Dollar Musiker-Honorar wieder reinzuholen, brauchten die Plattenfirmen mindestens vier Songs, auf die sie dann das Copyright anmeldeten. Wenn sich die erste Aufnahme zufriedenstellend verkaufte, wurden die anderen Tracks aus der Session gleich nachgeschoben.

Henry Speirs Entdeckungen lesen sich heute wie das »Who is Who« der frühen Blues-Legenden: Charlie Patton, Robert Johnson, Son House, Jim Jackson, Bo Carter, Skip James, Ish­mon Bracey, Blind Joe Reynolds, Blind Roosevelt Graves, The Mississippi Sheiks, Robert Wilkins und Geeshie Wiley. Er nahm farbige Jazz-Bands auf, weiße Appalachen-Musik mit Gitarre, Banjo und Mandoline oder auch Formationen der Choctaw-Indianer, die im Südosten der USA ansässig waren. Einmal brachte er sogar eine mexikanische Gruppe über die Grenze, um in San Antonio mit ihr ins Studio zu gehen. Die Liste seiner Kunden war entsprechend lang: Neben Paramount wurden Victor, Columbia, Okeh, Brunswick-Vocalion und Gen­nett von Speir beliefert.

Während Amerika noch immer die Wurzeln seiner musikalischen Identität entdeckte, machte in den Großstädten bereits eine neue Mode Furore: Der ländliche Blues wurde zunehmend vom urbanen Jazz abgelöst – wobei »Jazz« nicht mehr nur einen musikalischen Stil definierte, sondern ein kulturelles Phänomen. Zuerst war es der Charleston, der die Tanzflächen eroberte, dann kam Hollywood mit Al Jolson und »The Jazz Singer«. Es war nicht nur der erste abendfüllende Tonfilm der Filmgeschichte, sondern entpuppte sich 1927 auch als Kinokassen-Knüller schlechthin.

Die atmosphärische Poesie des Jazz passte perfekt zum Zeitgeist der »Roaring Twenties«. Die provokante »Flapper«-Mode kreierte ein neues Frauenbild, die Sprache der Speakeasys fand ungefiltert ihren Weg in den Mainstream. Allein für den alkoholischen Rausch erfand die Jazz-Generation ein ganzes Arsenal von plastischen Beschreibungen: »blotto«, »fried«, »hoary eyed«, »splifficated«, »ossified« oder »zozzled«. Minderwertiger Bootleg-Schnaps hieß »coffin varnish«, während der Kater am nächsten Morgen mit »heebie jeebies« oder »screaming meemies« umschrieben wurde. Der »vamp« war ein Frauenheld, der »lollygagger« ein leichtes Mädchen, der »cake eater« ein Playboy, der »face stretcher« eine ältere Frau, die sich verzweifelt auf jung trimmt, die »handcuffs« oder »manacles« die Verlobungsringe.

Der gewiefteste Akteur in New Yorks boomender Jazz-Szene folgte den gleichen Prämissen, die Ralph Peer im Rahmen der Countrymusik aufgestellt hatte. Irving Mills – halb Schlitzohr, halb Visionär – hatte gelernt, dass im Zeitalter des Radios nicht mehr die Plattenproduktion das große Geld abwarf, sondern Musikverlag und Management.

Mills war damit groß geworden, sich notfalls mit Fäusten durchs Leben zu boxen. Als Sohn jüdischer Einwanderer aus Odessa war in einem Getto auf New Yorks Eastside aufgewachsen. Als sein Vater starb, war er elf Jahre alt und musste die Schule verlassen. Er verkaufte Krawatten und Tapeten, bis er eines Tages mit dem Broadway Bekanntschaft machte. Mills arbeitete als Page im Theater-Restaurant »Stanley’s«, in dem auch eine hauseigene Big Band spielte. Die Broadway-Größen, die hier speisten und den Jungen für gelegentliche Botengänge einsetzten, hinterließen bei Mills einen nachhaltigen Eindruck.

Mit 14 war er Platzanweiser in einem Theater, das sich ganz in der Nähe der Tin Pan Alley befand – jenem Straßenzug in Manhattan, in dem sich die Musikverleger und Komponisten niedergelassen hatten. Broadway-Schauspieler schickten ihn des öfteren los, um dort die Notenblätter mit den neuesten Hits zu kaufen. Einer der Musikverleger fragte ihn schließlich, ob er nicht lieber als »Song-Plugger« für ihn arbeiten wolle – als Promo-Mann also, der neue Songs den potenziellen Interpreten schmackhaft zu machen versucht. Auch wenn Mills keine Noten lesen konnte, so hatte er doch eine gute Stimme und sang den Schauspielern den betreffenden Song einfach vor.

Ein paar Jahre später war er selbst Sänger einer Big Band, hatte seinen eigenen Musikverlag gegründet und begann damit, billige Jazz-Platten für die Warenhäuser zu produzieren. Der Fingerzeig des Schicksals aber kam 1926, als ihm jemand den Tipp gab, sich im »Kentucky Club« eine neue Kapelle namens »The Washingtonians« anzuschauen, die von einem gewissen Duke Ellington geleitet wurde. Mills hörte ein Genie, sah einen künftigen Star und roch schon die Dollars. Gleich am nächsten Tag nahm er Ellingtons Band als Manager und Musikverleger unter Vertrag – und besorgte ihnen wenig später ein Langzeit-Engagement im legendären »Cotton Club«.

Während regelmäßige Radio-Shows aus besagtem Club »den Duke« zu Amerikas populärstem Jazzmusiker machten, sorgte eine Flut von Veröffentlichungen auch für den nötigen Umsatz. Zwischen 1927 und 1930 nahm Ellington unter elf verschiedenen Namen über 200 Tracks auf, die insgesamt 20 Plattenfirmen angeboten wurden. Mills’ Musikverlag florierte und expandierte zu einem kompletten Musikkonzern, der weitere Musiker unter Vertrag nahm, Zeitungen verlegte und eine eigene Konzertagentur unterhielt. Und wie eine Salami-Maschine schnitt sich Mills von jedem Häppchen eine Scheibe ab, schrieb Hits für seine populärsten Klienten oder – wenn man diversen Quellen glauben will – meldete auch schon mal fremde Kompositionen unter eigenem Namen an.

Als die »Roaring Twenties« an ihr Ende kamen, waren die Ruinen der einst so mächtigen Phono-Industrie nicht mehr wiederzuerkennen. Anders als sein Vorläufer, der noch mit Klassischer Musik aufgewachsen war, glich der neue record man eher einem schlitzohrigen Vertreter, der stets auf der Jagd nach dem neuesten Hit war. Radio und Musikverlag hatten sich zu den treibenden Umsatzträgern der Gegenwart gemausert – und das Zeitalter einer neuen, autobiografisch gefärbten Musik stand vor der Tür.

Eine Analyse, 1929 von der US-Regierung in Auftrag gegeben, belegte mit Zahlen, was man subjektiv schon ahnte: Das Radio war die größte Boom-Industrie, die das ablaufende Jahrzehnt hervorgebracht hatte: Allein die Hardware trug zu einem jährlichen Umsatz von 842 Millionen Dollar bei. 41 Prozent der amerikanischen Haushalte verfügten bereits über einen dieser neuartigen Radio-Empfänger.

Emile Berliner, der Erfinder des Gramophone, verstarb am 3. August 1929 und hinterließ ein Vermögen, das auf 1,5 Millionen Dollar geschätzt wurde. »Nach meinem Tod wünsche ich mir keine teure Beerdigung«, schrieb er in einem Abschiedsbrief an seine Familie. »Aufwendige Begräbnisse sind eine fast schon kriminelle Geldverschwendung. Ich würde mich freuen, wenn Alice den ersten Teil der Mondschein-Sonate spielen könnte – und zum Abschluss vielleicht Josephine den Trauermarsch von Chopin. Gebt etwas Geld an junge allein stehende Mütter und begrabt mich bei Sonnenuntergang. Ich bin dankbar, in den Vereinigten Staaten gelebt zu haben und möchte meine Kinder und Enkel daran erinnern, dass es der innere Friede ist, den sie stets anstreben sollten.«

Cowboys & Indies

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