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8 ERSTE HILFE GEGEN HEIMWEH

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Dieses Mal wussten die Leute zumindest, was sie erwartete. Ein weiterer Krieg sollte die Welt erschüttern, Millionen von Ehepaaren auseinanderreißen und apokalyptische Zerstörungen zurücklassen. Auf vier Kontinenten waren nicht weniger als 100 Millionen Menschen aktiv am Krieg beteiligt. Sie wurden in eine Tötungsmaschinerie hineingesogen, für deren Betrieb ganze Volkswirtschaften abgestellt wurden.

Im Jahr von Pearl Harbor waren in Amerika 127 Millionen Platten verkauft worden – Zahlen, die man seit Anfang der Zwanziger nicht mehr erlebt hatte. Nach 15 Jahren, in denen Schallplatten ihren Glanz verloren hatten, war die alte Faszination urplötzlich wieder da. Es war bizarrerweise die Kriegsdepression, die einen Schallplattenboom auslöste, wie man ihn seit dem Ersten Weltkrieg nicht erlebt hatte.

Was die Renaissance umso frappierender machte, war die Tatsache, dass sich die Musikindustrie gleichzeitig auch in interne Konflikte verstrickte. Zwischen 1941 und 1944 wurde die Branche mit ihrem ersten Generalstreik konfrontiert – was den Ausstoß an Neuerscheinungen erheblich reduzierte. Und doch waren die psychologischen Folgen des Krieges so verheerend, dass jede Art von Musik – selbst alte, verkratzte Schallplatten – als willkommene Medizin wahrgenommen wurden. Melancholie und gebrochene Herzen gingen mit dem Bedürfnis nach Musik eben schon immer Hand in Hand.

In den dreißiger Jahren hatten sich innerhalb der Musikindustrie tiefe Gräben aufgetan. Analog zur Radikalisierung der weltpolitischen Positionen hatten darbende Musiker damit be­gonnen, sich in Interessensverbänden und Gewerkschaften zu organisieren. Die US-Radiostationen hatten 1933 zwar bereits 12000 Arbeitnehmer, konnten aber auch Werbeeinnahmen von 60 Millionen Dollar verbuchen – Tendenz weiter steigend. Es war dieser Kuchen, der wachsende Begehrlichkeiten weckte.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1914 hatte sich die ASCAP, die Dachorganisation der Komponisten und Musikverleger, zu ei­ner potenten Lobby entwickelt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Grabens scharten sich die Radiostationen um die NAB, die »National Association of Broadcasters«. 1937 hatte die ASCAP angekündigt, einen Lizenzvertrag mit den Radio­stationen neu verhandeln zu wollen, wenn dieser im Jahr 1940 auslaufen würde. Die ASCAP drängte darauf, Lizenzgebühren für gespielte Titel künftig auf der Basis der Zuhörerzahlen zu entrichten. Die NAB entgegnete, dass keine Radiostation in der Lage sei, exakt ihre Einschaltquoten zu ermitteln.

1940 entschied ein Bundesgericht, dass Radiostationen weiterhin diejenigen Platten ausstrahlen dürften, die sie käuf­lich erworben hatten. Im Januar 1941 antwortete ASCAP mit einem Radio-Boykott: Zehn Monate lang war es allen NBC- und CBS-Stationen verboten, sich am ASCAP-Katalog zu bedienen, der immerhin eine Million Kompositionen umfasste.

Mit der »American Federation of Musicians«, angeführt von James Petrillo, rief 1942 eine weitere Organisation zum Boykott gegen die Plattenfirmen auf – die in jenen Jahren nun einmal deckungsgleich mit den großen Radiobetreibern wie RCA und CBS waren. Auf ihrer jährlichen Konferenz stimmten die Mitglieder geschlossen für einen Boykott aller Aufnahmestudios. Man wollte mehr Geld – und darüber hinaus auch Gelder für einen Fond, der arbeitslosen Musiker zur Verfügung gestellt werden sollte. Als der Zweite Weltkrieg die moderne Welt in ihre bislang größte Krise stürzte, kam die Musikproduktion in Amerika zu einem abrupten Halt.

Die Radiostationen lehnten jegliche Kompromisse ab, während sich die Plattenfirmen darauf beschränkten, existierende Aufnahmen wiederzuveröffentlichen. Die Lage wurde noch ex­plosiver, als sich mit der BMI ein weiterer Musikverlegerverband in die Diskussion mischte. Die »Broadcast Music Inc«, 1939 von Radiomanagern gegründet, um das ASCAP-Monopol zu schwächen, ergriff die Gunst der Stunde, um die Radiosender mit Nicht-ASCAP-Material zu versorgen. Da ASCAP von den großen Verlegern aus der Tin Pan Ally dominiert wurde, sahen die kleineren Verleger – die in Nashville beheimatet waren – eine Gelegenheit, ihre Präsenz im Radio zu verstärken.

ASCAPs Boykott sollte sich als Rohrkrepierer erweisen. Am Ende des Tages war man sogar gezwungen, einen Vertrag zu unterschreiben, der für die Musikverleger noch unvorteilhafter war als zuvor. Die Bestreikung der Aufnahmestudios, damals unter dem Namen »Petrillo ban« bekannt, zeigte hingegen handfeste Erfolge. Da die Studios praktisch paralysiert waren – und zudem viele Musiker an der Front kämpften –, waren die meisten Plattenfirmen zur völligen Untätigkeit verdammt.

Der einzige record man, der es irgendwie schaffte, seine Finger konstant am Puls der Zeit zu halten, war Jack Kapp. 1937 etwa hatte er die Andrews Sisters entdeckt – drei Country-Girls, die einen ganz eigenen, dreistimmigen Gesangsstil entwickelt hatten. Ihre frühen Aufnahmen, darunter der weltweite Hit »Bei Mir Bist Du Schoen«, verkauften sich prächtig – selbst zu Zeiten des »Petrillo ban«. Als Uncle Sams Maskottchen tourten sie unablässig durch Krankenhäuser und Munitionsfabriken oder die Militärbasen an den pazifischen Kriegsschauplätzen. Man nannte sie die »Sweethearts of the Armed Forces« – und ein Teil ihrer patriotischen Show bestand darin, drei glückliche Soldaten auszuwählen, die sie abends zum Dinner ausführen durften.

John Hammonds individuelle Erlebnisse waren symptomatisch für die Erfahrungen, die viele junge Männer in diesen Jahren machten. Während die Columbia-Studios im Dornröschenschlaf lagen, hatte er 1942 geheiratet und einen Sohn bekommen. Ein Jahr später, seine Frau war gerade mit ihrem zweiten Kind schwanger, wurde Hammond eingezogen. Er bestieg in New York einen Zug, der ihn mit anderen deprimiert dreinschauenden Rekruten nach Fort Dix in New Jersey brach­te. Er hatte gehört, dass dort am gleichen Tag auch Mitglieder der Count Basie Band erwartet wurden, doch anders als im Greenwich Village wurde in der Kaserne noch immer die alte, bei Liberalen verpönte Rassentrennung praktiziert.

Innerhalb weniger Tage wurde Hammond klar, dass sein ganzes bisheriges Leben vom Krieg weggewischt worden war. Er war jetzt nur noch der Gefreite Hammond, der von vierschrötigen Südstaaten-Rednecks getriezt wurde, weil sie seine Weltläufigkeit als Affront empfanden. Er wurde nach Fort Belvoir/Virginia verlegt, um auf den Einsatz bei einer Pioniertruppe vorbereitet zu werden. Auf den täglichen Gewaltmärschen, die mit 40 Kilo Gepäck zurückgelegt werden mussten, verlor Hammond nicht nur rapide Gewicht, sondern spürte auch, wie sich die Depression immer tiefer in sein Hirn fraß.

Nachdem er bei einem Fitnesstest ohnmächtig geworden war, musste er zwar nicht mehr zur Front, wurde aber für einen stumpfsinnigen Büro-Job abgestellt, in dem er sich um Unterhaltungsmöglichkeiten in Kasernen und den Zusammenhalt der ethnischen Gruppierungen Gedanken machen musste. Er erhielt Urlaub, als seine Frau in New York ihr zweites Kind bekam, konnte aber im Krankenhaus nur miterleben, wie das Kind nach neun Tagen starb. Nichtsdestotrotz erhielt er die Order, nach Fort Belvoir zurückzukehren. Seine Frau, die mit der Tragödie nicht nur allein zurechtkommen musste, sondern sich gleichzeitig auch um ihren Erstgeborenen zu kümmern hatte, versank in Apathie. Hammonds Briefe nach Hause wurden von der Militäraufsicht gelesen und trafen mit dem entsprechenden Stempel der Behörden ein. Der Krieg gegen Hitler und Hirohito mochte unumgänglich sein, doch die Leiden der betroffenen Familien waren gewaltig.

Auch wenn Kriegspropaganda und die kollektive Erinnerung diese Ära heroisch verklärten, so erzählt die Musik doch eine andere Geschichte. 1939 landete Vera Lynn mit »We’ll Meet Again« in England einen Hit, der die emotionale Verunsicherung der Menschen genau auf den Punkt brachte. Glenn Millers opulente »Moonlight Serenade«, ebenfalls von 1939, schien Verzweiflung und Sehnsucht gleichermaßen zu transportieren. Mit ihren klagenden Klarinetten- und Saxofon-Harmonien sollte sie eine der unvergesslichen, nostalgieschwangeren Melodien der Kriegsjahre werden.

Die US-Army, vom Petrillo-Boykott nicht betroffen, begann 1943 damit, sogenannte »V-Discs« (»V« wie »Victory«) an die kämpfenden Truppen zu schicken. Rund vier Millionen Platten wurden weltweit vertrieben – eine nicht unbeträchtliche Anzahl, wenn man bedenkt, dass die Platten rund um die Uhr abgespielt wurden. Uncle Sam bemühte sich dabei, die gemeinsamen Erinnerungen mit einer ganz spezifischen Musik zu prägen. Es waren Melodien mit Wohlfühlfaktor, die möglichst viele soziale Gruppierungen ansprechen sollten.

Bandleader Artie Shaw erinnerte sich an eine besonders emotionale Episode an Bord des Flugzeugträgers »USS Saratoga«, der im Südpazifik im Einsatz war. Nachdem japanische Bomber das Schiff innerhalb weniger Wochen 17 Mal atta­ckiert hatten, war die Moral der Truppe auf dem Tiefpunkt. Shaw wurde gebeten, mit seiner Big Band aufzutreten, um die Stimmungslage wieder etwas aufzuhellen. Um den dramatischen Effekt zu verstärken, wurde die Band auf einer hydraulischen Plattform ins Innere des Schiffs hinabgelassen, wo 3000 Marines in Uniform warteten. Der Schrei, der bei ihrem Auftauchen ertönte, war mit nichts vergleichbar, was er in seinem Leben gehört habe. »Es warf mich wirklich um«, so Shaw. »Ich wollte nicht glauben, was ich dort hörte und sah. Ich hatte das Gefühl, Teil eines außergewöhnlichen Ereignisses zu sein. Die Männer dort waren geradezu ausgehungert nach etwas, das sie an die Heimat erinnerte, an Muttern und ihren Apple-Pie. Und die Musik hatte genau diese Wirkung.«

Die eigentliche Ikone der Kriegsjahre aber war ein anderer Decca-Star: Bing Crosby. Das Yank-Magazin, eine Army-Zei­tung, die während der Kriegsjahre veröffentlicht wurde und mit freizügigen Fotos von Glamourmodels für Aufsehen sorgte, hatte mit Sicherheit ein Gespür für die Gemütslage seiner Leserschaft. Es sprach für die Bedeutung von Musik in Krisenzeiten, dass Yank die Behauptung aufstellte, Bing Crosby habe mehr für die GI-Moral getan als alle Prominenten und Prediger zusammengenommen. Unter seinen zahllosen Hits war es vor allem die schmachtende Interpretation eines Irving Berlin-Songs, der alle existierenden Rekorde brach: »White Christmas« war im Winter ’42/’43 elf Wochen lang die meistverkaufte Aufnahme in den USA. Selbst als sie kurz vor Kriegsende wiederveröffentlicht wurde, marschierte »White Christmas« erneut an die Spitze der Verkaufslisten.

Ein bemerkenswerter Neuling unter den Plattenfirmen war Capitol – das erste Label, das im fernen Los Angeles aus der Taufe gehoben wurde. Hollywood-Bosse hatten mehrfach ver­sucht, einen Fuß in die Tür des New Yorker Musikgeschäftes zu bekommen, waren dabei aber stets gegen die Wand gelaufen. Capitol, basierend auf der Expertise von drei erfolgreichen Insidern, wollte hingegen einen Neubeginn wagen: Der erst 33-jährige Johnny Mercer war ein gefragter Songwriter, der oft mit Hoagy Carmichael zusammenarbeitete und Hits für Bing Crosby, Glenn Miller, Fred Astaire, Jimmie Lunceford, Cab Calloway, die Andrews Sisters und alle anderen US-Größen geschrieben hatte. Wie ein Vogel, der seine Würmer bevorzugt vor Sonnenaufgang findet, schrieb er seine Songs in der Morgendämmerung und legte den Stift am Mittag zur Seite.

Buddy DeSylva, zuletzt im Management von Paramount Films tätig, hatte mit George Gershwin das Musical »Blue Monday« geschrieben, aber auch jahrelang im Vorstand von ASCAP gesessen. Der Dritte im Bunde war Glenn Wallichs, der mit »Music City« den größten Plattenladen in Los Angeles besaß. Er überzeugte Mercer und DeSylva davon, keine Gelder von Paramount anzunehmen, sondern legte lieber 15000 Dollar in die Kasse, um Capitols Unabhängigkeit zu wahren.

Mercers erste Entdeckung war Nat King Cole, den er zwar unter Vertrag nahm, aber – wegen des Studiomusiker-Boykotts – nicht aufnehmen konnte. Jack Kapp, den ähnliche Sorgen plagten, hatte in der Zwischenzeit einen Deal mit James Petrillo ausgehandelt: Er zahlte einen prozentualen Beitrag seiner Einnahmen auf das Sperrkonto für arbeitslose Studiomusiker (und öffnete dafür sogar seine Geschäftsbücher, um anhand der Seriennummern die exakte Verkaufszahl einer Platte offenzulegen). Im Gegenzug konnte Decca, sollte es zu einem erneuten Streik kommen, mit denjenigen Musikern arbeiten, die man momentan unter Vertrag hatte. Da Mercer auf glühenden Kohlen saß und mit neuen Aufnahmen des King Cole Trios nicht warten wollte, folgte Capitol einen Monat später Deccas Beispiel und traf mit Petrillos Gewerkschaft eine entsprechende Regelung. »Straighten Up and Fly Right«, Coles erste Aufnahme, war die musikalische Interpretation einer Predigt, die sein Vater gehalten hatte – und verkaufte auf Anhieb 500000 Exemplare. Die Einnahmen reichten aus, um Capitols kritische Anfangsphase zu finanzieren.

Die aufregendste Stimme unter den neuen jungen Sängern aber gehörte Columbia. Frank Sinatra war ein attraktiver Italo-Amerikaner, der zum ersten Mal auf Platte zu hören war, als er beim Swing-Orchester von Harry James als Sänger mitwirkte, schnell aber die Begehrlichkeiten eines Konkurrenten weckte. Der resolute Posaunist Tommy Dorsey warb ihn nicht nur ab, sondern überzeugte den 26-jäh­rigen Sänger auch davon, einen zusätzlichen Managementvertrag mit ihm abzuschließen. Im Mai 1941 wurde Sinatra nicht nur von Billboard und Down Beat zum besten Sänger gekürt, sondern entwickelte auch in der jungen Damenwelt eine phänomenale Anziehungskraft. Die »Sinatramania« erreichte im Winter 1942 nie gekannte Ausmaße, als er das »Paramount Theatre« in New York acht Wochen lang ausverkaufte. »Ich hatte schon Angst, das ganze gottverdammte Gebäude würde einbrechen«, so Komiker Jack Benny, »und alles wegen eines Burschen, von dem ich vorher noch nie gehört hatte.« Columbia überschlug sich geradezu dabei, ihn unter Vertrag zu nehmen. Es war John Hammonds Chef Manie Sacks, der Sinatra obendrein davon überzeugte, sich aus dem Managementdeal mit Dorsey irgendwie herauszulavieren. Vor das Problem gestellt, dass man Sinatra zwar unter Vertrag hatte, aber aufgrund des Studioboykotts keine Aufnahmen machen konnte, entschloss sich Columbia, die Harry James-Aufnahmen von 1939 aus dem Archiv zu holen und als Sinatra-Platte wiederzuveröffentlichen.

Während sich das Original mehr schlecht als recht verkauft hatte, ging die Neuversion im Sommer 1943 eine Million Mal über die Ladentische. Sinatra wurde auf unliebsame Weise an seinen Managementvertrag erinnert, als sich Dorsey 43,3 Prozent der Tantiemen unter den Nagel riss. Mit tatkräftiger Unterstützung von Sachs gelang es Sinatra, sich aus dem Vertrag freikaufen. Dorseys Trostpflaster in Höhe von 25000 Dollar schoss ihm Columbia vor.

Als sich die Gefechte im Pazifik, in Nordafrika und Russland 1943 ausweiteten, zog auch die Zahl der Einberufungsbefehle weiter an. Im Dezember war Sinatra aufgrund eines geplatzten Trommelfells mit »4-F« als untauglich gemustert worden. Da er auf Fotos stets den Playboy mimte, der von schönen Frauen (oder schreienden Teenagern) umgeben war, avancierte der junge Sinatra zum umstrittensten Prominenten der Kriegsjahre. Glaubt man einem Gerücht, so zahlten seine Hintermänner 40000 Dollar, um ihn vom Militär zu befreien. Jahre später wurde bekannt, dass ihn ein Militär-Psychologe als »neurotisch« und »aus psychiatrischer Sicht ungeeignet« eingestuft habe. Der namhafte Journalist und Autor William Manchester, der selbst eingezogen worden war, bemerkte einmal, dass »Frank Sinatra wohl der meistgehasste Mann in Zweiten Weltkrieg war – noch vor Adolf Hitler«.

Die letzten Jahre des Krieges sollten das Musikgeschäft noch einmal kräftig umkrempeln. Die Swing-Bands wur­den von den Einberufungen empfindlich getroffen. Down Beat hatte 1942 eine Kolumne namens »Killed in Action« eingeführt, in der die gefallenen Jazzmusiker aufgelistet wurden. Einer von ihnen war Glenn Miller, der 1944 ums Leben kam, als er in einem Flugzeug den Ärmelkanal überqueren wollte.

Nachdem die Army den Swing groß gemacht hatte, wurden ihm nun seine wirtschaftlichen Grundlagen mehr und mehr entzogen. Eine 20-prozentige »Unterhaltungssteuer« gab 1944 den eh schon ums Überleben kämpfenden Ballrooms den Todesstoß. Die Rationierung von Gummi und Benzin machte die Tourneen per Bus problematisch. Die Züge waren oft komplett mit zurückkehrenden Soldaten gefüllt. Für farbige Musiker war­tete der Krieg noch mit zusätzlichen Schikanen auf. Lester Young, Basies legendärer Saxofonist und engster Freund von Billie Holiday, wurde 1944 eingezogen und zu einem Ausbildungslager in Alabama geschickt. Als er mit Marihuana erwischt wurde, wurde er von einem Militärgericht umgehend zu einem Jahr Haft in einer Arrestzelle verurteilt.

Viele farbige Musiker umgingen die Einberufung, indem sie psychische Probleme, Drogenabhängigkeit oder Homosexualität vortäuschten. Oder aber sie zogen ohne feste Adresse so häufig um, dass man ihnen gar nicht erst auf die Spur kam. Trompeter Howard McGhee bekam die Freistellung, nachdem er einem entgeisterten Psychiater erzählt hatte, er wolle unbedingt in den Südstaaten ausgebildet werden. Nur dort könne er sich mit anderen Farbigen zusammenschließen und gemeinsam lernen, wie man auf Weiße schießt. »Wie sonst soll ich wissen, ob es sich nun um einen Franzosen oder Deutschen handelt? Woher soll ich den Unterschied kennen?«

Die neue, militante Spielart, der sich im Jazz herausschälte, war nicht zuletzt dieser konfrontativen Mentalität geschuldet. »Bebop«, wie er bald genannt wurde, war eine enthusiastische Bewegung jüngerer Jazzer, die vor allem im Umfeld der Earl Hines Band zuhause waren – allen voran Charlie Parker und Dizzy Gillespie, der einmal erklärte: »Der Feind war nicht der Deutsche – es waren zunächst einmal die weißen Amerikaner, die uns tagtäglich einen Tritt gaben – körperlich wie moralisch ... Wenn sich Amerika nicht an die Verfassung hielt und uns als vollwertige Menschen respektierte, konnte uns auch der american way gestohlen bleiben. Aber unsere Musik zu mögen galt ja geradezu als unamerikanisch.«

Mit dem Bebop wollten zumindest einige farbige Musiker die Limitierungen jener weißen Bandleader bloßstellen, die den Schwarzen ihre ureigene Musik geraubt hätten. Oder wie Thelonious Monk es formulierte: »Wie wollten eine Musik, die sie nicht spielen konnten.« Bebop, die wilde Musik aus dem Untergrund, machte jedenfalls den radikalen Schritt zu einer abstrakten Harmonik – was auch der Grund war, dass der einst so populäre Jazz in den Nachkriegsjahren eher als elitäre Nischenmusik wahrgenommen wurde.

Während des Studio-Boykotts hatte sich Billie Holidays Niedergang weiter beschleunigt. Ihr Vertrag mit Columbia war sang- und klanglos ausgelaufen. Sie hatte die »Strange Fruit«-Kontroverse noch immer nicht verwunden und suchte nun mehr denn je ihr Heil im Heroin. Unter dem Pseudonym »Lady Day« hatte sie 1942 eine enttäuschende Aufnahme für Capitol gemacht und musste danach auf das Ende des »Petrillo ban« warten, bis sie zwölf neue Songs für das kleine Commodore-Label von Milt Gabler aufnehmen konnte. Zum gleichen Zeitpunkt aber hatte Jack Kapp den vielseitig begabten Gabler als A&R-Mann und Produzenten verpflichtet – möglicherweise mit dem Hintergedanken, auf diesem Umweg Billie zu Decca zu holen. Der Plan ging auf – und Gabler, inzwischen mit einem üppigeren Decca-Budget ausgestattet, sollte einige ihrer musikalischen Sternstunden produzieren.

Eine der bewegendsten Aufnahmen der ganzen Kriegsjahre war die melancholische Ballade »Lover Man« von 1944, die auch mit einer gewagten Textzeile für Aufmerksamkeit sorgte: »I go to bed with a prayer that you’ll make love to me.« Zwischen 1944 und einer 18-monatigen Haftstrafe wegen Heroin-Besitzes, die sie im Mai 1947 antrat, nahm sie 21 opulent orchestrierte Jazz-Balladen auf, die viele ihrer Highlights umfassten: »That Ole Devil Called Love«, »Don’t Explain« oder »Good Morning Heartache«.

Während die Decca- und Capitol-Studios geöffnet waren und fleißig Hits produzierten, fragte sich Ted Wallerstein immer verzweifelter, wie er die riesige Nachfrage nach Sinatra in klingende Münze umsetzen könne. Obwohl US-Präsident Frank­lin Roosevelt persönlich zu vermitteln suchte, hatte sich Gewerkschaftsboss Petrillo keinen Millimeter bewegt, verglich CBS und RCA mit »Sklavenhaltern aus den Jahren des Bürgerkriegs« und drohte damit, »die Beziehung zu diesen Firmen zu beenden und an ihrem Grab zu stehen, das sie sich mit ihren ruchlosen Methoden selbst geschaufelt haben«. Wallerstein blieb keine Wahl, als sich Petrillos Konditionen zu beugen. Sinnigerweise war es der »Armistice Day«, der Tag der deutschen Kapitulation im Ersten Weltkrieg, den Wallerstein für seinen Canossa-Gang wählte. »Wir haben nur die Wahl, den Vertrag zu unterschreiben – oder uns aus unserem Geschäft zu verabschieden«, sagte er.

Im Januar 1946, nach drei langen Jahren, die er in diversen Militärbasen verbringen musste, wurde John Hammond endlich aus der Armee entlassen. Wie so viele entwurzelte Soldaten »kehrte ich zurück zu einem Sohn, den ich nicht kannte, und zu einer Frau, die ihre eigenen Probleme hatte. Ein weiteres Baby sollte in einem Monat zur Welt kommen – und ich sah mich mit einer Verantwortung konfrontiert, die ich nicht schultern konnte. Ich war ein Fremder in meinem eigenen Haus und wusste, dass ich Hilfe brauchte.«

Was die Musik anging, so suchte Hammond an seine alten Kontakte anzuknüpfen. Im Greenwich Village, wo er 1941 Josh Whites wegweisendes »Chain Gang«-Album produziert hatte, war der Washington Square zu einem sonntäglichen Treffpunkt der Folk-Szene geworden. Sein alter Freund und Förderer Eric Bernay, Betreiber des Magazins New Masses, hatte sogar ein neues Jazz- und Folk-Label gegründet, das auf den Namen »Keynote« hörte. Die wichtigste Gruppe waren die Almanac Singers – ein Kollektiv politisch Gleichgesinnter, zu dem unter anderem Pete Seeger, Woody Guthrie, Josh White und Burl Ives gehörten.

Zusammen mit Guthrie, Bernay und Musikologe Alan Lomax trat er auch Pete Seegers »People’s Song«-Organisation bei, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, Gewerkschaften in ganz Amerika mit Protestsongs zu beliefern. Seine Rechnung, tagsüber bei Columbia zu arbeiten, um dann abends Platten für seine Keystone-Freunde zu produzieren, hatte Hammond allerdings ohne den Columbia-Chef gemacht. Ted Wallerstein zeig­te ihm die rote Karte – und Hammond stand einmal mehr auf der Straße und hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser.

Wallerstein, vom »Petrillo ban« noch immer angefressen, hatte für Gewerkschaften und Musikologen wenig Verständnis. Zwischen 1946 und 1947 waren die US-Plattenverkäufe von 275 auf 400 Millionen hochgeschnellt. Neuling Capitol hatte in den ersten vier Jahren seines Bestehens immerhin schon 42 Millionen Platten abgesetzt. Im sicheren Gefühl, am Anfang eines neuen Booms zu stehen, glaubte Wallerstein, dass die Zeit für sein gut gehütetes Geheimprojekt gekommen sei: den Start der 12-inch großen Schallplatte mit 33 1/3 Umdrehungen pro Minute.

Zu dem historischen Meeting im CBS-Sitzungsraum hatte der Vorstandsvorsitzende Bill Paley den CBS-Präsidenten Frank Stanton, Ted Wallerstein sowie den federführenden Ingenieur Peter Goldmark gebeten. Auf der anderen Seite des Tisches saß der langjährige RCA-Präsident David Sarnoff, der gleich acht seiner Ingenieure mitgebracht hatte. Für die Demonstration hatte Stanton zwei Plattenspieler aufgestellt, einen traditionellen mit 78 Umdrehungen – und einen Prototypen des neuen Langspiel-Players.

Als Stanton die Nadel auf dem neuen Player abgesetzt hatte, war die Wirkung auf die Gäste nicht zu übersehen. »Es war, als seien sie vom Blitz getroffen worden«, erinnerte sich Goldmark, »genau wie wir es erwartet hatten. Ich habe noch nie acht Techniker gesehen, die allesamt wie ein verkniffenes Häufchen Elend aussahen.« Sarnoff nahm die Zigarre aus dem Mundwinkel und schaute zu den Ingenieuren auf seiner Tischseite hinüber. »Hat man euch Penner wieder mit runtergelassenen Hosen erwischt!«, sagte er. Er könne nicht »glauben, dass die kleine Columbia Graphophon Company dieses Ding erfinden konnte, ohne dass ich davon Wind bekam«.

Bill Paley deutete an, dass er sich eine Lizenzierung des Geräts durchaus vorstellen könne. Sarnoff gratulierte seinen Gastgebern zu ihrem beeindruckenden Erfolg und meinte dann, dass er sich das Angebot in Ruhe durch den Kopf gehen lassen werde. Andererseits, fügte er an, sei eine Lizenzierung vielleicht gar nicht notwendig, da Columbias Gerät kei­ne Bestandteile benutzte, die patentierbar seien. Sarnoff juristische Spürnase hatte ihn gleich auf die richtige Fährte geführt: Es gab kein geistiges Eigentum – sah man einmal davon ab, dass sich CBS-Columbia den Namen »LP« hatte schützen lassen.

Der Symbolismus war vielleicht durchaus beabsichtigt, als man genau zur Sommersonnenwende 1948 die LP 40 Journa­lis­ten im New Yorker »Waldorf Astoria« vorstellte. Um die Bedeutung der Erfindung auch visuell zu unterstreichen, hatte man einen wackligen Turm alter 78er aufeinandergeschichtet, um ihn mit einem kleinen LP-Stapel zu kontrastieren. Die gleiche Menge Musik war auf einem Minimum an Raum gespeichert. Während sich Columbia noch im Rampenlicht sonnte, schlug RCA Victor im Februar 1949 mit einer 7-inch-Single zurück, die mit 45 Umdrehungen lief und immerhin acht Minuten Speicherkapazität hatte. Keine Frage: Mit der Geburt zweier neuer Formate war das Musikgeschäft endgültig zurück auf der Überholspur.

Die wundersame Renaissance wurde natürlich nicht zuletzt durch den Geist des weltweiten Wiederaufbaus beflügelt. Nachdem 70 Millionen Menschen ums Leben gekommen waren, nachdem von ganzen Ländern nur noch Ruinen standen, konnte sich die kommende Generation glücklich schätzen, dass ihr die Früchte des Friedens kampflos in den Schoß fielen. Der Zweite Weltkrieg, so heißt es, habe Amerika seiner Unschuld beraubt. Die nächste Welle amerikanischer Musik sollte nun den Soundtrack ihrer Jugend liefern.

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