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7 IM TAL DES TODES

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War schon die neue Konkurrenz durch das Radio schmerzhaft gewesen, so zwang der Aktien-Crash am 24. Oktober 1929 die angeschlagene Industrie endgültig in die Knie. Während Film- und Radio-Firmen auch während der Depression weiter wuchsen, löste sich das öffentliche Interesse an Schallplatten praktisch in Luft auf.

Die jährlichen Plattenverkäufe in Amerika, die 1927 noch 104 Millionen betragen hatten, waren drei Jahre später auf zehn Millionen geschrumpft. Es war der dramatischste Einbruch in der 40-jährigen Geschichte der Branche. 1932 hatte sich der gesamte Ausstoß sogar auf sechs Millionen reduziert. Da auch die Verkäufe der Plattenspieler von 987000 auf 40000 dezimiert wurden, war die gesamte amerikanische Musikindustrie – Hardware und Platten – in diesen fünf Jahren auf fünf Prozent ihrer vormaligen Größe eingedampft worden. Selbst in den Jahren der Großen Depression gab es wenige Industriezweige, die eine derartige Schrumpfkur überlebten. Es sah ganz so aus, als habe die Industrie Schiffbruch erlitten und treibe nun leblos im Wasser.

In den sogenannten »dirty Thirties« reichte es nicht mehr, den Hals mit Ach und Krach aus der Schlinge gezogen zu haben. Man war auf die rettende Hand von Fremden angewiesen. Und ob es nun Hilfsbereitschaft, Eitelkeit oder eine abenteuerliche Investmentstrategie war: Es gab tatsächlich einige exzentrische Tycoone aus benachbarten Industrien, die beim Ausverkauf zugriffen und sich etablierte Trademarks und Musikkataloge zum Schnäppchenpreis unter den Nagel rissen. Die einst so stolzen Gründerfirmen – geschrumpft, fusioniert, umbenannt – hatten jedenfalls keine Ähnlichkeit mehr mit dem, was sie ursprünglich einmal darstellten.

Die Edison Phonograph Company, schon lange auf dem absteigenden Ast, registrierte als erste der Traditionsfirmen, dass ihre Zeit nach dem Börsen-Crash endgültig abgelaufen war. Edison, der störrische Patriarch, stellte den Betrieb einfach ein. »Seit Gründung der Firma hat Mr. Edison im Phonographen immer nur eine Maschine gesehen«, monierte The Phonograph Monthly Review in einem wenig wohlwollenden Nachruf. »Wie konnte er hoffen, ohne jedes musikalische Verständnis in diesem Geschäft überleben zu können?«

Im Januar 1929, also noch vor dem Crash, war Victor von Seligman & Speyer für nur 160 Millionen Dollar an den Erzfeind RCA verkauft worden. Im September 1930 erfolgte auch das symbolische Ende, als die Victor-Zentrale in »The Radio Center of the World« umgetauft wurde. Eldridge Johnsons Sohn Fenimore, der mit den neuen Herren nicht kooperieren mochte, packte seine Sachen und ging auf eine Expedition ins Herz Schwarzafrikas.

Angesichts des boomenden Tonfilms und vielversprechender Experimente mit dem neuen Medium Fernsehen verkündete RCA-Chef David Sarnoff vollmundig, dass »die elektrische Unterhaltung in Heim und Kino« in ein neues Zeitalter trete. Genau wie er sahen auch die Hollywood-Bosse im Kollaps der Musikindustrie eine Gelegenheit, sich mit diesem Segment strategisch zu verstärken. Herbert Yates, Eigentümer von »Consolidated Film«, kaufte den amerikanischen Arm der fran­zösischen Firma Pathé und verschmolz ihn mit mehreren insolventen Indies – Cameo Records, Lincoln Records, Emerson Records, Plaza Music – zur »American Record Corporation«, besser bekannt unter der Abkürzung ARC.

Im April 1930 kaufte Warner Brothers für zehn Millionen Dollar die Firma Brunswick, lizenzierte aber – nachdem verbesserte Klang-Technologien in Hollywood Einzug gehalten hatten – Trademark und Repertoire an ARC. Den dadurch entstandenen Verlust von acht Millionen schrieb man ungerührt ab.

Columbias Schicksal war etwas komplexer. Zwischen 1929 und 1932 hatten sich in England die Umsätze halbiert – kaum mehr als eine Delle im Vergleich zu dem Tornado, der über das amerikanische Musikgeschäft gefegt war. Doch unter dem Druck von J.P. Morgan, dem größten Aktionär, wurde die englische Columbia-Tochter mit HMV, der englischen Tochter von Victor, zusammengelegt und in EMI umbenannt.

Es war keine Liebesehe. Der HMV-Manager wurde zum Vorstandsvorsitzenden ernannt, während Louis Sterling als Geschäftsführer fungierte. Die beiden Männer sprachen kaum miteinander und kommunizierten gewöhnlich nur in Briefform. Immerhin hatte man aus Victors Fehlern in Amerika gelernt und investierte in das britische Radiowesen, das noch immer in den Kinderschuhen steckte. Ein Studio in der Abbey Road wurde umgebaut, um nun auch Orchester-Aufnahmen zu ermöglichen. Man warf Plattenspieler zu Dumpingpreisen auf den Markt, weil man sich dadurch höhere Plattenumsätze versprach. Ein anderer, durchaus cleverer Schachzug bestand darin, spezielle Platten-Clubs für Liebhaber zu gründen, denen man dann die obskureren Werke eines Komponisten im Abonnement und per Post zustellte. Zumindest die Grundkosten für Aufnahme und Vertrieb konnten auf diese Weise gedeckt werden. Erstaunlicherweise exportierte die britische Musikindustrie während der Depression mehr Platten nach Amerika, als dort produziert wurden.

Ein weiteres Indiz für die wachsende Bedeutung des englischen Musikmarktes war die Gründung von Decca im Jahre 1929. Edward Lewis, ein ehemaliger Banker, hatte die Decca Gramophone Company davon zu überzeugen versucht, nicht nur Hardware herzustellen, sondern auch in die Plattenproduktion zu investieren. »Gramophone herzustellen, aber keine Platten«, argumentierte er, »ist etwa so, als würde man Rasiergeräte ohne Klingen verkaufen.« Nachdem sich die Gramophone-Firma aber nicht für seinen Vorschlag erwärmen wollte, trommelte er kurzerhand ein paar Investoren zusammen und kaufte die Firma auf.

Trotz der vergleichsweise positiven Tendenzen in der Alten Welt sah sich Louis Sterling gezwungen, seine amerikanischen Investments abzuschreiben und sich wieder ganz auf Europa zu konzentrieren. 1930 verlor auch Okeh seine Unabhängigkeit und wurde von der Columbia geschluckt, die ihrerseits 1931 von Grigsby-Grunow aufgekauft wurde – einem Mischkonzern, der Radiokonsolen und Kühlschränke herstellte.

Die einzig wirtschaftlich gesunde US-Firma schien Irving Mills’ Verlags-, Management- und Agentur-Imperium zu sein, das mit Duke Ellington und Cab Calloway auch die beiden größten Umsatzträger jener Jahre im Stall hatte. Mills, der allein 16 Big Bands repräsentierte, hatte sich gleich neben dem Brunswick-Headquarter in der 799 Seventh Avenue niedergelassen. Da er genau wusste, dass die Plattenfirmen kein Geld hatten, um Jazz-Platten zu produzieren, übernahm er die Finanzierung – allerdings nur unter der Bedingung, dass die Verlagsrechte bei ihm landeten. Selbst wenn die Aufnahmen nur ein paar Tausend Exemplare verkauften, so gingen doch alle Beteiligten mit einem Gewinn nach Hause. Für seine Bands waren die Platten eine optimale Visitenkarte – und immer wieder mal gab es Songs wie »Minnie the Moocher«, die eindrucksvoll bewiesen, dass auch potente Hits aus Mills’ Salami-Maschine sprangen.

Von Irving Mills einmal abgesehen, schien die New Yorker Musikindustrie in den Jahren ‘32 und ‘33 in eine schwarzes Loch gefallen zu sein. Und doch sollte der vielleicht größte record man, den die Welt je erlebte, gerade im Tal des Todes fündig werden. Der Name des jungen Mannes war John Hammond.

Während Irvin Mills die Karikatur des Zigarre-paffenden Impresarios personifizierte, war Hammond genau der entgegengesetzte Typus: eloquent und gebildet, weltgewandt und unbestechlich. Schienen die wichtigsten Musiker dieser Zeit – King Oliver, Earl Hines und Duke Ellington – so etwas wie eine musikalische Aristokratie zu bilden, so war Hammond Aristokrat von Geburt. Seine Mutter Emily war die Großenkelin von Cornelius Vanderbilt, dem holländischen Industriellen, der Amerikas Eisenbahnen gebaut hatte. Wie jedermann wusste, waren die Vanderbilts eine der reichsten und einflussreichsten Dynastien, die es in Amerika gab.

Auch wenn sein Vater, ein General im amerikanischen Bürgerkrieg, selbst ein erfolgreicher Banker war, so profitierten die Hammonds doch von den Einkünften aus Immobilien und Trustfonds, die Vanderbilt aufgetürmt hatte. Zum Sommerurlaub fuhr man stets ins idyllische Lenox/Massachusetts und benutzte dazu einen eigenen Zugwaggon. Aus dem Erbe hatten seine Eltern einen fünfstöckigen Palast in der 91th Street erhalten, gleich an der Ecke von Fifth Avenue und Central Park. Dazu gehörten Marmortreppen, Aufzüge, eine Bibliothek, ein Squash Court, ein Ballsaal für 200 Gäste sowie 16 dienstbare Geister, die sich ums Wohl der Familie kümmerten.

Nach vier Töchtern war Hammond 1910 als einziger Sohn der Familie geboren worden – was vielleicht auch seinen Hang zur Zurückgezogenheit erklärte. Musik indes war praktisch überall im Haus zu hören. In den großzügigen Räumen mit den holzvertäfelten Wänden und der barocken Opulenz der Alten Welt gab es überall die modernsten Victrolas, die Beethoven, Brahms, Mozart und die anderen europäischen Klassiker spielten. Musiklehrer, oft auch arrivierte Virtuosen, gingen ein und aus, um der Familie Unterricht zu geben.

Seine Schwestern fanden ihn aber oft in den Dienstgemächern, wo er auf einem Stuhl saß, die Beine baumeln ließ und sich auf einem ausgedienten Grafanola die Hits des Tages anhörte. Auch wenn er mit Klassischer Musik groß wurde und selbst Bratsche lernte, so war er doch immer vom farbigen Personal und ihrem Verhältnis zur Musik fasziniert. Sie fingen spontan an zu tanzen, sangen einen Song mit und hatten keine Scheu, Emotionen zu zeigen und ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Es blieb ihm auch nicht verborgen, wie sie sich innerlich versteiften, wenn sie noch oben zu den weißen Herrschaften gingen.

Hammond durchforstete alle Zeitschriften – vor allem Varie­ty –, die sich irgendwie ums Unterhaltungsmetier drehten und sammelte begeistert Schallplatten. »In den Rillen dieser frühen, primitiven Platten«, sollte er später schreiben, »entdeckte ich eine neue Welt.«

Wie es sich für einen Vanderbilt-Spross gehörte, wurde er auf das renommierte Hotchkiss-Internat geschickt, wo sich vor allem ein inspirierender Englisch-Lehrer um seine verbale Kommunikation kümmerte. Nach dem sonntäglichen Gottesdienst lud er John und andere begabte Schüler zu sich nach Hause, wo sie stundenlang über Literatur diskutierten.

Als er älter wurde und öfters mit dem Zug nach New York kam, besuchte er gerne Restaurants und Speakeasys, wo er sich in eine stille Ecke setzte, ein alkoholfreies Getränk bestellte und aufmerksam die Musiker auf der Bühne beobachtete. Jazz, Politik, Literatur, Religion – alles gehörte für ihn zusammen, alles schien eine übergeordnete Bestimmung zu haben.

Wie alle männlichen Vanderbilts war er dazu prädestiniert, in Yale Jura zu studieren und ein erfolgreicher Geschäftsmann zu werden. Hammond gab dem Wunsch zunächst statt, verließ die Universität aber schnell wieder und ließ sich zunächst einmal treiben. 1931, im Alter von 21 Jahren, machte er Urlaub in London, als er zufällig die Macher der neuen Musikzeitschrift Melody Maker kennenlernte. Man lud ihn ein, Artikel über die amerikanische Jazz-Szene zu schreiben. Hammond stimmte zu, fuhr zurück nach New York und nutzte fortan seinen Schreib­stift als Wünschelrute.

Das Honorar für seine oft kontroversen Artikel – die oft genug die Überlegenheit schwarzer Jazzer postulierten – war für ihn kaum mehr als ein Taschengeld. Während draußen 30 Prozent der Menschen arbeitslos waren, erhielt er eine jährliche Apanage von 12000 Dollar aus der Familienstiftung – mehr als genug, um sein Auto und ein neues Apartment im Greenwich Village zu finanzieren. Auch seine Artikel für den Melody Maker wurden sporadischer. Hammond hatte einfach nicht das Talent, sich allzu lange auf einen Job zu fixieren.

Duke Ellington war es, der Irving Mills auf Hammond aufmerksam machte. Mills rief ihn eines Tages an und bot ihm einen Job bei seinen hauseigenen Magazinen an. »Wie viel wollen Sie für mich arbeiten, John?«, fragte er, als Hammond sich in Mills’ Büro vorstellte.

»Einhundert Dollar die Woche.«

»Ich stell Sie für die Hälfte der Zeit an und zahl Ihnen die Hälfte«, antwortete der notorisch knickrige Mills.

Die Zusammenarbeit sollte ohnehin unter keinem guten Stern stehen. Der belesene und weltoffene Hammond wurde schnell gefeuert, weil er sich nicht mit dem nötigen Nachdruck für das hauseigene Repertoire einsetzte. Auch als Jazz-DJ bei einem New Yorker Radiosender hielt er nicht lange durch: Der Sender befand sich im obersten Stockwerk des Claridge Hotels. Als sich Gäste beschwerten, dass farbige Musiker durch die Lobby spazierten, lehnte Hammond es ab, die Musiker im Las­tenaufzug nach oben kommen zu lassen.

Da sich sein Apartment in der Sullivan Street in der Nähe des Columbia-Headquarters befand, lief er häufiger Ben Selvin über den Weg, Columbias musikalischem Direktor. Als man eines Abends im »Hofbrau House« zusammensaß, erwähnte Selvin, dass aus England die Anfrage komme, verstärkt Jazz-Platten zu produzieren. Da er sich in dem Segment nicht auskannte, bat er Hammond um eine Einschätzung. Hammond, dem erstmals klar wurde, dass ihm seine Melody Maker-Artikel zu einer gewissen Autorität verholfen hatten, empfahl Fletcher Henderson und seine Band – und bot sich auch gleich an, vier Tracks zu den handelsüblichen Konditionen zu produzieren. Zu seiner Freude stimmte Selvin dem Vorschlag zu.

Am Morgen der geplanten Aufnahme trudelten die Musiker mit fast dreistündiger Verspätung im Studio ein. Eilig hauten sie drei Nummern heraus, hatten für die vierte aber keine Zeit mehr. Die Verspätung erklärte sich wohl daraus, dass Henderson mit dem Deal alles andere als glücklich war. »Die meisten farbigen Bandleader standen angesichts der Depression am Rande ihrer Existenz«, erklärte Hammond später. »Duke Ellington und Cab Calloway konnten von ihrer Musik leben, der Rest nicht.« Bei Columbia schäumte man jedenfalls, ließ sich allerdings wieder versöhnen, als sich die erste Veröffentlichung gut verkaufte. Und Hammond, inzwischen bei Columbia ein gerngesehener Gast, hatte mit dem Produzieren seine wahre Bestimmung gefunden.

Auf der Suche nach geeigneten Kandidaten war er Anfang 1933 im Club von Blues-Sängerin Monette Moore zu Gast, als er eine hübsche 17-jährige Farbige namens Billie Holiday hörte. Ihre ungewöhnliche Interpretation von »Wouldja for a Big Red Apple« hatte ihn umgehend überzeugt. »Es war der Blitz aus heiterem Himmel, von dem ich immer geträumt hatte«, so Hammond. »Es war die Belohnung dafür, dass ich überall hinfuhr, wo irgendjemand auftrat. Meistens war ich enttäuscht, aber plötzlich war es den ganzen Aufwand wert.«

Hammond folgte Billie durch die Speakeasys in Harlem, wo sie ohne Honorar auftrat und nur von Trinkgeldern lebte. Er erfuhr, dass sie eigentlich Eleanor hieß, aus Baltimore kam, als Prostituierte gearbeitet hatte und bereits im Gefängnis gewesen war. Sie war attraktiv, kapriziös, unberechenbar und kultivierte trotz ihrer jungen Jahre einen substanziellen Marihuana-Kon­sum. Sie sang populäre Songs, die in ihrer Interpretation doch immer ganz eigen klangen. Sie ließ sich meist nur vom Piano begleiten und entsprach nicht dem gängigen Typus der Jazz-Sän­gerin, hatte aber etwas in ihrer Stimme, das Hammond elektrisierte. Er animierte all seine Jazz-Freunde, sich das Mäd­chen anzuhören. »Ich konnte einfach nicht anders, als ständig über sie zu reden und zu schreiben.«

Es war im Frühjahr 1933, auf dem Tiefpunkt der Depression, als ihm seine Kontakte in London abermals Türe öffneten. Bei einem neuerlichen England-Besuch war Hammond angenehm überrascht, dass er unter den Lesern des Melody Makers fast schon eine kleine Berühmtheit geworden war. Er fragte Melody Maker-Redakteur Spike Hughes, der gerade einen Job als Aufnahmeleiter bei Decca Records angenommen hatte, ob er ihm vielleicht Louis Sterling vorstellen könne.

Der EMI-Geschäftsführer war dafür bekannt, sich in allen kulturellen Bereichen zu engagieren. Fred Gaisberg, Victors all­seits respektierter Musikdirektor, erinnerte sich daran, dass die sonntäglichen Dinner in Sterlings herrschaftlichem Haus in der Avenue Road »ein lieb gewonnener Treffpunkt der Londoner Boheme geworden waren ... Bei den Sterlings traf man immer angenehme Kollegen aus Theater, Film oder Musik. Man sah etwa Schnabel und Kreisler, die gerade in eine Diskussion über die politische Situation in Deutschland vertieft waren. Jimmy Walker, der frühere New Yorker Bürgermeister, und Opernsänger Lauritz Melchior setzten sich zu ihnen – was wiederum Chaliapin und Gigli, die mit ihrer Bridge-Runde im nächsten Zimmer tagten, in ihrer Konzentration störte.« Hitlers Aufstieg verfolgte Sperling mit zunehmender Besorgnis. In den kommenden Jahren sorgte er dafür, dass die jüdischen Angestellten seiner Berliner Niederlassung Deutschland noch rechtzeitig verlassen konnten. Er unterstützte auch den Anarchisten Charles Lahr und seinen »Progressive Bookshop« und half dabei, eine der wertvollsten Buchkollektionen in England zusammenzutragen.

Bei ihrer kurzen Begegnung erklärte er Hammond, dass er jemanden brauche, der gezielt Jazz-Aufnahmen für den englischen Markt produziere. Hammond ergriff die Gelegenheit beim Schopf und unterschrieb einen Vertrag für 24 Aufnahmen, die auf vier Musiker aufgeteilt werden sollten: Fletcher Henderson, Benny Carter, Joe Venuti und Benny Goodman. Hammond war von dem Projekt so begeistert, dass er in der Aufregung ganz vergaß, ein Honorar für sich selbst auszuhandeln.

Zurück in New York, bestand seine erste Maßnahme darin, Benny Goodman aufzuspüren. Er wusste, dass Goodman oft in einem Speakeasy namens Onyx Club verkehrte. Und tatsächlich: Am Abend um halb Elf kam Goodman herein. Hammond nahm all seinen Mut zusammen, stellte sich vor und bot dem Klarinettisten einen Plattenvertrag mit Columbia an.

»Sie sind ein gottverdammter Gauner«, schnauzte ihn Good­man an, der in der Woche zuvor von Ben Selvin erfahren hatte, dass Columbia in der Insolvenz war.

»Aber ich rede doch nicht von der amerikanischen Columbia«, entgegnete Hammond. »Es geht um die englische Columbia – und die hat nach wie vor Geld.«

Goodman traute Hammond zwar noch immer nicht über den Weg, aber da er gerade einmal 50 Dollar die Woche verdiente, hörte er dem jungen Mann lieber zu. Hammond erzählte ihm von seinem Plan, eine Band aus virtuosen Musikern zusammenzutrommeln, die mit ihrem Improvisationstalent einen geschmeidig fließenden Jazz kreieren würden.

Als er aber am nächsten Abend Goodmans reguläre Band hörte, zuckte Hammond erst einmal zusammen. »Das englische Publikum wird uns vom Plattenspieler pusten«, sagte er Goodman, der zunächst zwar pikiert war, die Kritik dann aber doch annahm. Für Hammond war Swing nicht nur ein Wort, sondern das Synonym für einen gelebten Rhythmus. Und der wurde in seinen Augen nun einmal viel überzeugender von farbigen Musikern ausgelebt. Goodman lehnte den Vorschlag rundweg ab: »Wenn sich rumspricht, dass ich mit Schwarzen Aufnahmen mache, krieg ich in dieser Stadt keinen Job mehr.«

»So schlimm kann es doch nicht sein.«

»John, Sie haben keine Ahnung. Es ist so schlimm.«

Zum Glück war Hammond ein geborener Tänzer, der selbst viele Nächte in Hammonds Lieblingsclubs verbracht hatte – und letztlich ehrlich zugab, dass die farbigen Musiker in puncto Rhythmus nicht zu schlagen waren.

Für das erste Projekt beschränkte sich Hammond allerdings darauf, nur weiße Musiker einzuladen: Artie Bernstein, Dick McDonough, Joe Sullivan, Charlie Teagarden und Manny Klein. Er fuhr sogar nach Boston, um Meisterdrummer Gene Krupa zur Teilnahme zu überreden. Für die dreistündige Ses­sion bekamen die Musiker magere 20 Dollar, aber immerhin war Ben Selvin von »Ain’tscha Glad«, einer der drei Aufnahmen, so angetan, dass er Hammond dazu überredete, die Num­mer doch direkt der amerikanischen Columbia zu überlassen und zudem mit Benny Goodman einen Künstlervertrag aufzusetzen. Die Nummer verkaufte immerhin 5000 Exemplare – was unter den deprimierenden Umständen des Jahres 1933 sogar als kleinerer Hit gehandelt wurde.

Eine weitere Aufnahme mit Benny Goodman musste her – und Hammond hatte sich dafür etwas ganz Besonderes ausgedacht: Endlich bekam er die Chance, Billie Holiday als Sängerin einzusetzen. »Riffin’ the Scotch« und »Your Mother’s Son-in-Law« waren die ersten Aufnahmen, die sie je machte.

Hammond erkundigte sich bei Selvin auch nach Bessie Smith, die Anfang der Dreißiger von der Bildfläche verschwunden war. Bei Columbia glaubte niemand daran, dass sie noch eine Zukunft habe. Hammond ließ nicht locker und ließ sich von Selvin ein Experiment absegnen, das praktisch kein Geld kosten würde. Er spürte Bessie in einem Club in Philadelphia auf, wo sie als Hostess arbeitete. Als Hammond ankam, war sie betrunken und offensichtlich deprimiert. »Was zahlt ihr denn?«, fragte sie. Alles, was Hammond ihr anbieten konnte, war ein Vertrag mit der fast bankrotten Columbia und eine 35-Cent-Platte auf dem Okeh-Label. Immerhin bot er ihr an, die Fahrt nach New York aus eigener Tasche zu zahlen. Bessie stimmte dem Vorschlag zu, war aber wenig enthusiastisch: »Niemand will heute mehr Blues hören«, sagte sie. »Wir leben in harten Zeiten. Die Leute wollen lieber mit seichterer Kost unterhalten werden.«

Wie befürchtet, ging die Aufnahme unter. Bessie Smith, wenige Jahre zuvor noch als »Queen of the Blues« gefeiert, nahm wieder den Zug nach Philadelphia und war genau 37.50 Dollar reicher. Hammond mochte jung und enthusiastisch sein, hatte aber einen banalen ökonomischen Faktor übersehen: Bessie Smith’ Stammpublikum waren Farbige aus den ländlichen Gegen­den – und die waren von der Depression doppelt hart getroffen.

Die einzige Person, die in jenen Jahren überhaupt noch ländlichen Blues aufnahm, war ein Texaner namens John Lomax, der allerdings keinerlei kommerzielle Interessen hatte. Der 60-jährige Literatur-Professor verstand sich eher als Musikologe und hatte bereits eine Sammlung mit »Cowboy Songs and Other Frontier Ballads« herausgegeben. Seine Aufgabe sei es, »einen Almanach der gegenwärtigen Folklore zusammenzustellen, um sie vor dem Aussterben zu retten und für das Studium künftiger Forscher zugänglich zu machen«.

Mit Unterstützung der »Library of Congress«, des Macmillan-Verlags und des »American Council of Learned Societies« machte er sich 1933 auf den Weg in die Südstaaten. Begleitet wurde er von seinem ältesten Sohn Alan und einer drei Zentner schweren Maschine, mit der sich gleich vor Ort Acetate der Aufnahmen schneiden ließen. Lomax interessierte sich besonders für Häftlinge, da »sie gezwungen sind, selbst zu singen, wenn sie sich irgendwie unterhalten wollen. Das gilt besonders für die Langzeit-Häftlinge, die noch nicht vom Jazz oder Radio beeinflusst wurden, sondern die originalen Negro-Melodien singen.« Bereits im ersten Jahr entdeckte Lomax Originale wie Lightnin’ Washington und Lead Belly.

Am gleichen Tag, an dem Hammond mit Bessie Smith im Studio war, wurde für Grigsby-Grunow, die neuen Besitzer der amerikanischen Columbia, ein Insolvenzverwalter bestimmt. Im April 1934 wurde die Firma endgültig als zahlungsunfähig erklärt. Da der Firmenmantel meistbietend verkauft werden sollte, machte sich der englische Decca-Chef Edward Lewis auf den Weg nach New York, um dort gemeinsam mit ARC-Boss Herbert Yates ein Angebot vorzulegen. Doch während Lewis noch auf hoher See war, fiel ihm Yates in den Rücken und riss sich die Firma – samt Büros, Studios, Katalogen, Künstlerverträgen, Trademarks und einer Fabrik in Connecticut – für lächerliche 75000 Dollar allein unter den Nagel.

Als Lewis nach seiner Ankunft in New York davon erfuhr, rief er Jack Kapp an, der mit Brunswick eins der Yates-Label leitete und als einer der gestandenen record men galt. Lewis hatte das nötige Geld, während Kapp ein respektierter Produzent war. Vor allem aber hatte Kapp eine »Key-Man«-Klausel in die Verträge seiner wichtigsten Künstler schreiben lassen, darunter auch Kapps neuem Star Bing Crosby. Was bedeutete, dass sie bei Kapps Ausscheiden ebenfalls das Label verlassen konnten. Yates schaute jedenfalls dumm aus der Wäsche, als Lewis und Kapp alle Verträge auf eine amerikanische Tochterfirma von Decca übertrugen und obendrein auch ARCs Vertriebs- und Promotion-Chefs abwarben. Als Folge der Markt­konsolidierung gab es 1934 nur noch vier »Majors«, die in einem erschreckend geschrumpften Markt praktisch alle Label, Master und Künstlerverträge kontrollierten.

Das Ende der Prohibition lieferte 1933 indirekt einen positiven Impuls, den niemand auf dem Schirm hatte. Auch wenn Amerika in den 14 Jahren der verordneten Abstinenz eigentlich nie mit dem Trinken aufgehört hatte, so mutierten die Speakeasys doch nun zu regulären Bars, in denen auch offiziell wieder Krach gemacht werden durfte. Wurlitzer ergriff die Gelegenheit beim Schopfe und präsentierte 1933 die »Debutante«-Jukebox, die immerhin schon zehn verschiedene Platten abspielen konnte. Ende 1934 waren in ganz Amerika bereits 25000 Jukeboxen im Einsatz. Decca engagierte sich aggressiv in dem neuen Markt – Kopf an Kopf mit Erz-Rivale ARC, der nun auch im Markt der 35-Cent-Platten der direkte Konkurrent war.

Edward Wallerstein, Victors neuer und innovativer Präsident, trat 1934 eine andere wichtige Entwicklung los. Wie Louis Sterling in London war er davon überzeugt, dass sich der Markt erst wieder erholen könne, wenn auch die Technik der Plattenspieler einen Schritt nach vorne mache. Angesichts der Tatsache, dass inzwischen 20 Millionen Amerikaner ein Radio besaßen, lag die Vermutung auf der Hand, dass die altbackenen Plattenspieler längst auf den Speicher gewandert waren. Sein ungewöhnlicher Vorschlag sah deshalb vor, einen preiswerten Adapter zu entwickeln, mit dem man Platten durch den Radioverstärker abspielen könne. Der »Duo Jr.« war ein elektrisch betriebener Plattenspieler mit einem magnetischen Tonabnehmer, der für 16.50 Dollar in den Handel kam. Kaufte man mehrere RCA Victor-Platten, boten einige Händler den »Duo Jr.« sogar kostenlos an.

Im September 1934, als Roosevelts »New Deal« der US-Wirtschaft endlich neue Kapitalspritzen gab, konnte Wallerstein seinen demoralisierten Mitarbeitern bereits positive Zahlen vermelden: »Als die Depression die Talsohle durchlief, war es tatsächlich so, dass Schallplatten wie Blei im Regal lagen. Diese Tage liegen für immer hinter uns ... Die Zeit ist gekommen, die Welt darüber zu informieren, dass die Verkäufe im letzten Jahr um 100 Prozent angezogen haben – und dass sie noch weiterhin klettern.«

Die schwierigen Zeiten hatten auch Musiker gezwungen, ungewohnte Wege zu gehen. Benny Goodmans musikalische Neuorientierung hatte begonnen, als ihm Hammond einen aufregenden farbigen Pianisten namens Teddy Wilson vorstellte. Ihre Improvisationen klangen fast schon wie Kammermusik, hatten aber eine ungewohnte, fast schon hypnotische Qualität. Die harmonische Virtuosität erreichte magische Momente, als das trommelnde Genie Gene Krupa dazustieß. Und als mit Vibrafonist Lionel Hampton eine weitere Hammond-Entdeckung die Gruppe ergänzte, war ein gemischtrassiges Quartett geboren, wie es sich Hammond immer vorgestellt hatte.

Als er 1935 wieder einmal nach London fuhr, hatte er diverse Jazz-Perlen im Koffer, die er im Lauf des vergangenen Jahres produziert hatte. Unter ihnen waren zwei noch unveröffentlichte Testpressungen auf dem Brunswick-Label, auf denen Billie Holiday mit dem Teddy Wilson Orchestra sang. Wie bereits »What a Little Moonlight Can Do« und »Miss Brown to You« ahnen ließen, entwickelte sich zwischen Wilson und Holiday eine musikalische Chemie, die den Beginn einer langen Zusammenarbeit dokumentierten. Insgesamt 91 Tracks nahm man zusammen auf, darunter die meisten ihrer besten frühen Glanztaten.

Hammond verließ London mit einem neuen Vertrag, doch statt nach New York zurückzukehren, erfüllte er sich einen lebenslangen Traum und besuchte Moskau. Durch familiäre Kontakte lernte er den Regisseur Sergej Eisenstein kennen, der gerade im Begriff war, einen Film über die »Kulaks« zu drehen – reiche Bauern, die sich der Bewirtschaftung durch kommunistische Kolchosen widersetzten. Als er den Filmset besuchte, wollte er seinen Augen nicht trauen, dass man eine ganze Farm mit dazugehörigem Feld in einer hellerleuchteten Flugzeughalle nachgebaut hatte. Eisenstein führte Hammond durch Moskau und verriet dabei auch, dass er vom Kommunismus nicht mehr überzeugt sei. Gerade als Hammond Moskau wieder verlassen wollte, entschloss sich Stalin, seinen Propaganda-Krieg gegen die »Kulaks« zu deeskalieren – und ordnete das Ende der Dreharbeiten an. Hammond, inzwischen an Windpocken erkrankt, fuhr zurück nach New York in dem Wissen, dass das sozialistische Experiment in Russland gescheitert war.

Wieder zu Hause, trat er dem Vorstand der Bürgerrechtsbewegung NAACP bei und stolperte über seine nächste Entde­ckung. Während er die Frequenzen seines Autoradios absuchte, stieß er auf einen neuen, experimentierfreudigen Sender aus Kansas City, der das Live-Konzert eines Count Basie und seiner Band übertrug. Auch wenn die Musik von einem lauten Knistern übertönt wurde, so setzte sich Hammond doch allabendlich in sein Auto und wollte seinen Ohren nicht trauen, wie modern dieser Jazz aus Kansas City klang. Es war vom Basie-Stil so angetan, dass er sogar wieder zum Stift griff und im Jazz-Magazin Down Beat über ihn schrieb.

Als seine Neugier zu groß wurde, fuhr er nach Kansas City und besuchte den »Reno Club« – einen versifften Schuppen, der nach dem sogenannten »Spook Dances«-Prinzip funktionierte (ein »spook« war ein Gast, der am Trinkgeld knauserte): die ganze Nacht Musik, Bier für fünf Cent, Hot Dogs für zehn und dazu hausgemachter Whiskey. Hinter Basies Band gab es ein Fenster, durch das mysteriöse Deals – vermutlich mit Marihuana – getätigt wurden. Der ganze Ort war surreal, aber so war auch die Musik. Hammond war vor allem fasziniert von dem unablässig grinsenden Drummer Jo Jones, der mit einem halb-offenen Hi-Hat spielte und dafür eine ganz eigene Technik entwickelt hatte. Die Musik hatte Luft zum Atmen, was den Soli einen faszinierenden flow verlieh. Für Hammond war dieser Sound ein Blick in die Zukunft.

Als er sich bei Basie vorstellte, musste er zunächst aber eine bittere Pille schlucken: Jack Kapp, der Hammonds Artikel in Down Beat aufmerksam gelesen hatte, war sich gerade mit Basie handelseinig geworden. Es war ein katastrophaler Deal mit einer dreijährigen Laufzeit, der jährlich 24 Aufnahmen beinhaltete. Dafür erhielt Basie eine jährliche Pauschale von 750 Dollar – also 31 Dollar pro Track –, die er aber mit neun Musikern zu teilen hatte. Basie war gar nicht aufgefallen, dass in dem Vertrag von Tantiemen überhaupt keine Rede war.

Am nächsten Tag reichte Hammond bei der Musiker-Ge­werkschaft Beschwerde ein, konnte aber nur eine marginale Vertragskorrektur herausholen: Die Aufnahmesession wurden nun zumindest nach den Tagessätzen abgerechnet, die bei Gewerkschaftsmitgliedern üblich waren. Er überzeugte allerdings Basies Agenten Willard Alexander davon, Basie nicht länger in Kansas schmoren zu lassen, sondern ihn auf eine landesweite Tournee durch die großen Hotels zu schicken.

Basies Aufnahmen waren umgehend ein Hit – nicht zuletzt dank des explodierenden Jukebox-Marktes. Gerade für die Bars, in denen die Jukeboxen bevorzugt standen, war Basies mitreißender Swing die optimale Musik. ARC hatte damit begonnen, über ihre Tochterfirma Vocalion 19-Cent-Platten zu produzieren, die nur an Jukebox-Vertriebe geliefert wurden. Vocalion griff dazu auf eine minderwertige Schellackmischung zurück, um Decca Paroli zu bieten, die sogar mit 10-Cent-Platten experimentierten. Die Billigprodukte hatten indes einen Pferdefuß: Handelte es sich um gefragte und viel gespielte Hits, betrug die Lebensdauer dieser Platten gerade einmal drei Tage.

Von den Dumping-Methoden schockiert, schrieb Hammond 1937 einen Artikel, der in der kommunistischen Zeitschrift New Masses unter dem Pseudonym Henry Johnson erschien. Er nahm dort vor allem Deccas zweifelhafte Methoden unter die Lupe und enthüllte etwa, dass Jack Kapp einen privaten Musikverlag besitze, der Fremd-Kompositionen pauschal aufkaufe und sogar ein Copyright auf den Ausdruck »Boogie Woogie« angemeldet habe. Auf diese Weise konnte er Komponisten, die das Wort im Text oder Titel benutzten, ungeniert zur Kasse bitten.

Nachdem man ihm mit einer Schadensersatzklage in Höhe von 100000 Dollar gedroht hatte, besuchte Hammond die Decca-Büros – den Basie-Vertrag und andere Beweise für krasse Unregelmäßigkeiten in der Tasche. »Jack, Sie werden eine Menge Fragen beantworten müssen, wenn Sie mich vor Gericht zerren wollen«, rief Hammond. Edward Lewis, der den Wortwechsel aus seinem benachbarten Büro verfolgt hatte, kam hinüber, hörte sich Hammonds Vorwürfe an und wandte sich dann an Kapp: »Jack, wenn du den Fall auf eigene Kappe ausfechten willst, habe ich keine Einwände. Aber ich werde es nicht erlauben, dass sich Decca Records der Klage anschließt.«

Hammond ließ nicht locker und schrieb eine Reportage über die katastrophalen Verhältnisse, die er in den Fertigungsstätten der großen Plattenfirmen angetroffen habe. Die Columbia-Fabrik in Bridgeport/Connecticut, die ebenfalls zum ARC-Konglomerat gehörte, sei ein glühend heißes, verrußtes Höllenloch, in dem man kaum atmen könne. Es gebe allein 14 Verstöße gegen den staatlichen Gesundheitsschutz – und die Arbeiter würden mit 16 Dollar die Woche abgespeist, um unter diesen Bedingungen zu schuften. »Es ist nicht verwunderlich«, schrieb er weiter, »dass die dort gepressten Platten so viel schlechter klingen als die Master, die im Studio gemacht wurden.« Am Ende des Tages fühlte sich selbst Gewerkschaftshasser Herbert Yates genötigt, die sanitären Bedingungen zu verbessern und eine Qualitätskontrolle einzuführen.

Hammonds Engagement für die zeitgenössische Musik fand seinen bisherigen Höhepunkt, als er am 23. Dezember 1938 in der Carnegie Hall ein Konzert unter dem Titel »From Spirituals to Swing« veranstaltete – eine Verneigung vor der schwarzen Musik Amerikas. Um passende Teilnehmer aufzutreiben, hatte er ausgiebig die Südstaaten bereist, begleitet von einem jungen Engländer namens Goddard Lieberson, der in der Musikindustrie noch eine atemberaubende Karriere machen sollte. Seine Suche in Musikarchiven führte ihn nebenbei zu faszinierenden Aufnahmen des bislang unbekannten Bluessänger Robert Johnson. In der Hoffnung, ihn vielleicht für sein Konzert verpflichten zu können, erkundigte sich Hammond nach seinem Aufenthaltsort, erfuhr aber nur, dass Johnson einige Monate zuvor ermordet worden war.

Hammond recherchierte Johnsons abenteuerliche Geschichte und veröffentlichte in Down Beat sein Porträt. 1936 war der junge Bluessänger offenkundig in Henry Speirs Laden in Jackson/Mississippi spaziert. Speir war angetan von dem, was er hörte, und schickte einige Demos an seine Kontakte. Ernie Oertle von Brunswick war interessiert und organisierte eine dreitätige Session, die in einem Hotelzimmer in Austin/Texas stattfand. Johnson nahm 16 Songs auf, darunter »Come On in My Kitchen«, »Cross Road Blues« sowie »Terraplane Blues«, das in Texas ein kleiner Jukebox-Hit wurde und 5000 Exemplare verkaufte. Fünf Monate später lud man Johnson zu einer weiteren Session nach Dallas ein, wo er diesmal seine stilleren, introvertierten Songs aufnahm.

Hammonds Carnegie-Show begann mit afrikanischen Trom­meln, die in West-Afrika aufgenommen worden waren. Zu den Live-Acts zählten Blues-Sänger und Gitarrist Big Bill Broonzy, Mundharmonika-Spieler Sonny Terry, Gospel-Sängerin Roset­ta Tharpe, die Boogie-Woogie-Pianisten Albert Ammons und Meade »Lux« Lewis sowie Jazz-Klarinettist Sidney Bechet. Zum Abschluss lieferte Count Basie samt seiner Band eine mitreißende Swing-Nummer, die dem Motto des Abends mehr als gerecht wurde. Die New York Times wie auch die Herald Tribune schwärmten, dass sie etwas Vergleichbares noch nie gehört hatten.

Hammonds große Show war auch der Startschuss für die »Café Society«, einen schon bald legendären Nightclub im Greenwich Village, der sein Quartier im Keller eines alten Hauses am Sheridan Square bezog. Besitzer Barney Josephson hatte Hammonds Proben verfolgt und ausgerufen: »Warum sollte ich nach musikalischen Talenten suchen? Sie sind alle schon hier!« Hammond, inoffiziell der Musikdirektor des Clubs, lud zum krönenden Abschluss der Eröffnungsfeier Billie Holiday ein. Josephson wollte »einen Club, wo Schwarze und Weiße hinter der Bühne zusammenarbeiten und vor der Bühne gemeinsam im Publikum sitzen. Genau das wird unsere Visitenkarte sein.« Als offizielles Motto wählte er den Slogan »The wrong place for the right people«.

Und genau hier sollte Billie Holiday zum ersten Mal »Strange Fruit« singen und ein atemloses Publikum zurücklassen. Der Song bildete von nun an das Finale ihrer Shows – und sie bestand darauf, dass dafür das Licht abgedunkelt wurde und Kellner wie Zuschauer absolut still waren. Ein einziger Scheinwerfer illuminierte ihr Gesicht, während das Publikum den Atem anhielt. Mit dem letzten Ton erloschen auch alle Lichter. Als die Beleuchtung wieder angestellt wurde, war Billie verschwunden.

Nicht zuletzt durch Hammond hatte Jazz eine unkonventionelle, künstlerisch provokante Dimension bekommen. Die Evolution von Unterhaltung zur Kunst spiegelte sich auch in den Versuchen von Musikologen wie John Lomax, mit seinen field recordings akademische Kreise anzusprechen. Abschätzige Bezeichnungen wie »Race Records« oder »Hillbilly« wurden schrittweise durch eine präzisere Terminologie ersetzt: Bluegrass, Cowboy Songs, Reels, Work Songs, Gospel, String Bands, Jug Bands, Spirituals, Hot Jazz, Dixieland, Swing.

Es schien den Eindruck eines wirtschaftlichen Frühlings zu bestätigen, dass in diesem Jahre wieder 33 Millionen Platten in Amerika verkauft wurden – wobei drei Viertel aus dem Repertoire von Decca und Victor stammten. Und es war ein Beweis für den Stellenwert der Jukebox, dass inzwischen rund 225000 Geräte in Amerika ihren Dienst versahen und jährlich mit 13 Millionen Platten gefüttert wurden. Innerhalb von nur fünf Jahren war Decca Amerikas größte Plattenfirma geworden und produzierte jährlich 19 Millionen Platten – was angesichts der desolaten Großwetterlage eine bemerkenswerte Bilanz war.

1938 sah zum Glück auch den Abschied von Hollywood-Autokrat Herbert Yates und seinem Dumpingparadies ARC. Nachdem er von Jack Kapp klassisch ausmanövriert worden war, zog er sich schmollend nach Hollywood zurück und wurde nicht vermisst. Immerhin machte er noch einen Schnitt, als er seinen Musikkatalog für 750000 Dollar an CBS verkaufte – inzwischen Amerikas drittgrößte Radiokette und bereits führend bei dem Versuch, so etwas wie eine kulturell relevante Produktpalette zu entwickeln. Unter Führung ihres fähigen Gründers Bill Paley versuchte CBS auch mit Erfolg, RCA-Chef Ted Wallerstein abzuwerben, um gemeinsam mit ihm die schlafende Schönheit unter Amerikas Plattenfirmen wachzuküssen: Columbia Records.

Auch wenn er gerade einen Herzinfarkt überstanden hatte, stürzte sich Wallerstein in die Arbeit. Er transferierte das Columbia-Hauptquartier in die früheren Brunswick-Büros auf der Seventh Avenue, die nicht nur wegen ihrer Nähe zu Irving Mills Verlags und Management-Konglomerat ein musikalischer Knotenpunkt geworden waren. Da ihm sein Bauch sagte, dass eine popularisierte Version Klassischer Musik der nächste Trend sein werde, mietete er von NBC und CBS zwei große Studios an, um so auch komplette Orchester aufnehmen zu können. Schließlich reduzierte er den Preis von Columbias »Masterworks«-Serie auf einen Dollar – rund die Hälfte dessen, was man für Victors »Red Seal«-Platten zahlen musste.

Wallersteins hellsichtigste Entscheidung aber bestand in seiner Fokussierung auf eine neue Technologie. Da er die Kürze bisheriger Aufnahmen als mangelhaft empfand, engagierte er zwei Ingenieure, die sich zu Schallplatten mit längerer Laufzeit Gedanken machen sollten. Und in einem weiteren mutigen Schachzug machte er John Hammond zum Direktor für die Aufnahmen im populären Musiksegment. Hammond wiederum überzeugte Wallerstein davon, Goddard Lieberson als Assistent in der Klassischen Abteilung unterzubringen – was sich in den kommenden Jahren noch als begnadetes Manöver erweisen sollte.

Hammonds erste ernsthafte Herausforderung kam, als Billie Holiday »Strange Fruit« aufzunehmen wünschte. Wallerstein hatte alle Hände voll damit zu tun, das desolate Vertriebsnetz wieder aufzubauen – und wusste nur zu gut, dass die Thematik des Songs gerade in den Südstaaten auf wenig Gegenliebe stoßen würde. Hammond hatte eher musikalische Einwände: Auch wenn er die poetische Potenz des zugrunde liegenden Gedichts (das den leblosen Körper eines gelynchten Farbigen beschreibt) durchaus zu schätzen wusste, so fehlte ihm bei der musikalischen Umsetzung doch ein Minimum an Melodie. Er hielt auch Holidays Interpretation für grenzwertig, da sie für seinen Geschmack zu theatralisch war. Hammond liebte Billies swingende Seite, sah in den pathetischen Pausen und dem weh­leidigen Finale von »Strange Fruit« aber einen misslungenen Ausrutscher ins Melodramatische.

Auch auf privater Ebene wurde ihre Beziehung auf eine harte Probe gestellt. Billies Drogenprobleme waren in der Szene ein offenes Geheimnis. Hammond, der Marihuana akzeptierte, Heroin aber strikt ablehnte, machte den Fehler, ihren Manager auf das Problem aufmerksam zu machen. In der Sorge, künftig mit Dealern, Süchtigen und Kriminellen konfrontiert oder womöglich von ihnen erpresst zu werden, trennte sich der Manager von ihr – was Billie zeit ihres Lebens Hammond zum Vorwurf machte.

Hammond ging inzwischen auf die 30 zu und dachte über seine langfristige Lebensplanung nun etwas intensiver nach als noch einige Jahre zuvor. Also schlug er sich auf Wallersteins Seite, gab Holiday aber zumindest die vertragliche Möglichkeit, »Strange Fruit« auf dem Indie-Label Commodore Records zu veröffentlichen.

Der Vorfall sollte auch einen Einschnitt in seiner eigenen Karriere markieren. Auch wenn die Nachfrage nach Schallplatten deutlich anzog, so hatte Hammond doch seine Probleme, in der Rolle eines Angestellten aufzugehen, der einer etablierten Firma mit entsprechender Repertoire-Breite zu dienen hatte. »Ich musste nun mit Künstlern arbeiten, deren frühere Arbeiten ich in meinen Reviews niedergemacht hatte«, erinnerte er sich später. »Was weder für sie noch für mich einfach war. Es war unmöglich, sich wirklich offen und ehrlich zu verhalten, doch die Unehrlichkeit schmerzte noch mehr. Aber ich hatte nun mal einen Job in der kommerziellen Welt angenommen – ich konnte nicht mehr nur mit meinen Lieblingen arbeiten.«

Als ein älterer und abgeklärterer Mann sollte Hammond noch einmal ein ganzes Firmament leuchtender Sterne entdecken, doch im Moment – während in Europa wieder ein Krieg ausbrach – schienen seine glücklichsten Jahre hinter ihm zu liegen. Es waren weltpolitische Ereignisse, die sich unerbittlich in den Vordergrund schoben.

Cowboys & Indies

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