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3 HIS MASTER’S VOICE
ОглавлениеDie Welt rückte näher zusammen, die wachsenden Metropolen lieferten den urbanen Humus – und die Plattenkäufer schickten ihre Ohren auf Reisen. Die US-Kultur war seit jeher durch Immigration geprägt worden, aber das neue Jahrhundert erlebte einen Ansturm unbekannten Ausmaßes: neun Millionen allein in den ersten zehn Jahres des 20. Jahrhunderts. Der rasend wachsende Schmelztiegel in und um New York erwies sich dabei als idealer Nährboden für ethnische Satire.
Columbia hatte in der jiddischen Comedy die Nase vorn, vor allem mit »Cohen on the Telephone« – einer Sketch-Serie über einen jüdischen Einwanderer, der sich am Telefon mit einem haarsträubenden Englisch verständlich zu machen versucht. Es gab auch reichlich amerikanische Akzente, über die man sich lustig machen konnte – etwa den typischen Redneck aus dem Süden der USA. 1902 hatte beispielsweise Len Spencer einen ausgemachten Hit mit »Arkansas Traveler« landen können.
Die mit Abstand am meisten persiflierte Bevölkerungsgruppe aber waren jene Leute, die man damals als »Negro« bezeichnete. Zur Jahrhundertwende war das Minstrel-Konzept von (Bert) Williams und (George) Walker auf den Kopf gestellt worden: Es waren zwei farbige Männer, die sich als weiße Minstrels ausgaben, die wiederum schwarze Varietésänger imitierten. Mit ihrem Programm »Two Real Coons« waren sie jahrelang durch die schwarzen Vaudeville-Theater getourt und schließlich auf dem Broadway gelandet. Victor und Columbia boten ihnen an, Songs aus ihrem Programm auf Tonträgern festzuhalten. »Weiße Komiker mit schwarzen Gesichtern machten sich einen Spaß daraus, einen dunkelhäutigen Charakter zu spielen«, erklärte Walker 1906. »Mit dem Resultat, dass sich nun farbige Performer bemüßigt fühlten, weiße Performer mit ihren angemalten Gesichtern zu imitieren. Nichts war absurder als die Vorstellung, dass sich ein Farbiger selbst porträtierte, indem er sich durch den Kakao zog.«
Im Geist der grenzenlosen Tortenschlacht übernahmen auch weiße Songschreiber die »Coon Song«-Tradition aus dem farbigen Vaudeville. »I Wants A Ping Pong Man« etwa machte sich über die neue Mode des Tischtennisspielens lustig, die gerade aus England nach Amerika schwappte, lebte aber nicht zuletzt von den Anzüglichkeiten, die das schwarze Dienstmädchen zum Besten gibt. Populär war 1899 auch Scott Joplins »Maple Leaf Rag«, doch all die modischen Eintagsfliegen wurden von den großen Plattenfirmen gar nicht zur Kenntnis genommen. Deren klassisch trainiertes Personal, das in den »Talking Machines« einen Luxusartikel für den gehobenen Mittelstand sah, konnte sich gar nicht vorstellen, dass musikalische Kreativität auch außerhalb der Großstädte stattfand.
Wie Emile Berliner richtig vorhergesagt hatte, sollte sich die Oper als größter Umsatzträger erweisen. 1902 schiffte sich Fred Gaisberg nach Italien ein, um dort einen 28-jährigen Tenor zu begutachten, der in europäischen Opernhäusern für Begeisterung sorgte: Enrico Caruso. In einem Mailänder Hotelzimmer produzierte Gaisberg mit ihm historische Aufnahmen, die noch immer zu den größten Artefakten des frühen Musikgeschäfts zählen.
Mit Caruso hatte Victor den ersten überdimensionalen Star gefunden, um das neue Platten-Format adäquat vermarkten zu können. Nach seinem Bühnendebüt in New York nahm Victor sogar gleich die ganze Metropolitan Opera unter Vertrag und begann mit der Veröffentlichung der immens erfolgreichen »Red Seal«-Serie, in der praktisch alle großen Interpreten aus Oper und Klassik vorgestellt wurden.
Um Anspruch und Selbstverständnis auch äußerlich zu dokumentieren, zog man mit der Aufnahmeapparatur von der Carnegie Hall zu einer luxuriösen Lokalität auf der Fifth Avenue. Chef-Ingenieur Raymond Sooy wurde Zeuge, wie sich das frühere »Laboratorium« – wie Aufnahmestudios damals noch genannt wurden – in einen betriebsamen Ort verwandelte. Um einen großen Trichter gruppiert, mussten die Musiker nicht nur in einem exakt abgemessenen Abstand stehen, sondern die Violinisten auch eine der bizarr ausschauenden »Stroh-Geigen« spielen, die statt eines Resonanzkörpers einen Trichter-Lautsprecher besaßen. Da die Qualität der Aufzeichnungen nicht umgehend beurteilt werden konnte, musste der Toningenieur nach jedem Take mit einem Vergrößerungsglas das Master inspizieren, um eventuelle Fehler zu entdecken. Fand er eine Unsauberkeit, musste das Instrument identifiziert werden, das für die Verzerrung im Klang verantwortlich war.
Es konnte nicht überraschen, dass sich viele Interpreten von diesem Umfeld eher abgestoßen fühlten. Sooy erinnerte sich daran, dass ein Opernstar »nach einem ersten Anlauf so nervös wurde, dass er seinen Hut und Mantel nahm, aus dem Studio stürmte und das Orchester ratlos zurückließ«. Auch Komiker und Schauspieler waren anfällig und setzten sich unter einen derartigen Druck, dass »sie ihre Geschichte rückwärts erzählten und sogar ihren eigenen Namen nicht mehr über die Lippen brachten«.
Sooy lockerte die Zungen mit Alkohol oder nahm besonders wacklige Kandidaten in ihrem Bühnenkostüm auf. »Wenn sie sich ihren alten Hut oder die große Brille überzogen oder ihr angestammtes Make-up trugen, waren sie sofort in der richtigen Stimmung und brachten ihren Vortrag problemlos zu Ende. Auch wenn es kein Publikum gibt, scheint das Make-up immer zu helfen.« Da jeder Künstler seine spezifischen Marotten hatte, musste das Studio-Ambiente auf die jeweiligen Eigenheiten angepasst werden. »Es gab nicht zwei Individuen, die auf ein Studio gleich reagierten. Einige waren nervös, andere selbstbewusst. Einige konnten nicht arbeiten, wenn ein Fremder im Studio war, andere konnten davon gar nicht genug bekommen.«
Die Welt der Klassischen Musik mochte in punkto Exzentrik nicht nachstehen. Ein Star »beschuldigte einen anderen, seinen Tabakbeutel gestohlen zu haben. Alle machten sich im Studio auf die Jagd nach dem Beutel, konnten ihn aber nicht finden. Einer der Anwesenden bot dem Star seinen eigenen Tabak an, was dieser aber nur mit den Worten quittierte: ›Ich würd’s ja probieren, wenn ich nicht wüsste, dass es ein erbärmliches Surrogat ist.‹ Am Ende fand der Künstler seinen Beutel in der eigenen Tasche.«
Bei einer anderen Gelegenheit wurde ein notorisch komplizierter Star in den Victor Lunch Club eingeladen. »Der Künstler fand einen Fusel in seinem Wasser, ging umgehend an die Decke und beschuldigte die Anwesenden, ihn vergiften zu wollen. Bei jedem Gang des Menüs pöbelte er, dass es das widerwärtigste Essen sei, das er je zu sich genommen habe. Doch nachdem man dem Künstler einige artige Komplimente gemacht hatte, vergaß er anscheinend das widerwärtige Essen, küsste zum Abschluss sogar die Hand der farbigen Bedienung und schwärmte, wie er das Lunch genossen habe.«
Raymond Sooy zählte all diese Beispiele nur auf, um sie mit dem Mann zu kontrastieren, der an einem Nachmittag ein paar Arien einsang (und dafür die erkleckliche Summe von 5000 Dollar erhielt) und Victors Image mehr prägte als jeder andere. »Mr. Caruso war der unkomplizierteste Künstler, den man sich nur vorstellen konnte. Er ließ sich im Studio durch nichts aus der Ruhe bringen, er sang praktisch auf Anhieb perfekt und war sich deshalb seiner Sache auch immer sicher.« Sooy lernte zu verstehen, dass »ein außergewöhnlicher Aufnahmekünstler genau so begnadet sein musste wie ein Musiker: Er muss das, was er macht, wirklich im Innersten seines Herzens fühlen, weil es sonst immer nur mechanisch und minderwertig klingen wird«.
Als die Grenzbäume fielen und die Exporte boomten, wurden Victors Mitarbeiter sogar zu exotischen Plätzen geschickt, um dort lokale Talente aufzuspüren. Die Trips nach Kuba, Mexiko, Argentinien oder Peru waren mit langen Reisen verbunden – und das Aufnahme-Equipment, in Kisten sicher verpackt, war stets mit dabei. Eldridge Johnson regte sogar an, die Ehefrauen mit auf Reisen zu nehmen, und legte auch anderweitig auf eine familiäre Atmosphäre großen Wert. Seinen leitenden Angestellten half er beispielsweise dabei, sich ein eigenes Haus zu kaufen.
Die treibende Kraft hinter Victors rapidem Wachstum aber war das geniale Marketing von Leon Douglass, einem pfiffigen Exzentriker, der sich unaufhaltsam nach oben gearbeitet hatte. In Nebraska geboren, hatte Douglass nie eine Schulausbildung erhalten, da er schon mit elf Jahren seinen Beitrag zum Unterhalt der Familie leisten musste. Er hatte in einer Druckerei gearbeitet, als Telegrafen-Bote oder als Manager bei der Telefonvermittlung. Da er von der neuen Technologie fasziniert war, hatte er einen Job bei Lippincotts Zwischenhändler in Nebraska angenommen. Als ihm klar wurde, dass wie wenigsten Leute das Geld für Edisons ersten Phonographen hatten, war er einer der Ersten, die in den 1880ern eine Jukebox mit Münzbetrieb bauten. Bei der Weltausstellung 1893 in Chicago hatte er in Eigenregie hundert Münz-Phonographen für die Öffentlichkeit aufstellen lassen und damit ein kleines Vermögen verdient.
Mit seiner 20-jährigen Berufserfahrung hatte Douglass das Geschäft bereits verinnerlicht: Er kannte alle wichtigen Akteure, die Technologie, die Musik, aber vor allem auch die potenziellen Käufer. Eldridge Johnson, der nur auf eine relativ kurze Arbeitspraxis zurückblicken konnte, ließ Douglass bei der Vermarktung freie Hand und zahlte ihm sogar ein höheres Gehalt als sich selbst. Das Vertrauen war gegenseitig: Johnson, so Douglass, »war ein zurückhaltender Mann, hatte aber den brillantesten Kopf, den ich je kennenlernen durfte«.
Es war auch Leon Douglass, der sofort die ikonische Kraft eines Gemäldes erkannte, das Berliner 1899 von seiner Londoner Dependance erhalten hatte. »His Master’s Voice« von Francis Barraud zeigte einen Foxterrier namens Nipper, der in einen Schalltrichter lauscht, aus dem die Stimme seines toten Herrchens ertönt. Nachdem Johnson Berliners Patente übernommen hatte, ließ Douglass alle Victor-Produkte mit einem Logo ausstatten, das eine stilisierte Version dieses Bildes zeigte. Im Laufe der Jahre sollte sich herausstellen, dass »His Master’s Voice« eines der langlebigsten Trademarks des 20. Jahrhunderts war.
Als 1905 mit »Talking Machine World« die erste Fachzeitschrift an den Start ging, arrangierte Douglass einen exklusiven Deal, durch den Nipper auf jedem Titelblatt vertreten war. Auch wenn er sich diese Art von Werbung einiges kosten ließ, so war es doch ein cleverer Schachzug, um Victors Anspruch auf die Marktführerschaft zu unterstreichen. »In Sachen von Werbung und Verkauf war Mr. Douglass einer der besten und brillantesten Männer seiner Zeit«, schrieb Johnson. »Von Beginn an bestand er darauf, monatlich mehrere tausend Dollar für Werbung zurückzulegen. Auch wenn diese Strategie für mich anfangs gewöhnungsbedürftig war, so bewies doch die schnelle und anhaltende Umsatzsteigerung die Weisheit seiner Entscheidung.«
Im August 1906 wartete Victor mit einem neuartigen Modell auf, das den Markt auf den Kopf stellen sollte. Anders als die früheren Phonographen mit ihren Schalltrichtern hatte das »Victrola« die »revolutionären Innen-Trichter« in einem eleganten Holzkabinett integriert. Leon Douglass baute den Prototypen eigenhändig, weil er davon überzeugt war, dass »Damen keine mechanisch ausschauenden Gerätschaften in ihrem Salon sehen möchten ... Mr. Johnson befürchtete, dass wir nicht allzu viele davon verkaufen könnten, und ich war mir selbst etwas unsicher ... Sie sind nun mal in der Herstellung so teuer, dass wir 200 Dollar dafür verlangen müssen. Aber wir verkauften nicht nur die ersten Modelle, sondern setzten im Lauf der Jahre Millionen um. An einem Punkt mussten wir 7000 Menschen beschäftigen, nur um eine ausreichende Anzahl von Holzkabinetts produzieren zu können.«
Hunderttausende Victrolas wurden verkauft und etablierten Victor als weltweiten Marktführer. Und dank des salonfreundlichen Designs gingen nun auch Hunderte Millionen von Schallplatten über den Ladentisch. Mit ihrer durchschlagenden Werbung, den zahllosen Opernstars und den eleganten Geräten hatten Douglass und Johnson die perfekte Formel gefunden, um den Zeitgeist bei den Hörnern zu packen.
Douglass allerdings zahlte für den Erfolg einen hohen Preis. Nach der Geburt seines Sohnes – den er Johnson zu Ehren Eldridge taufte – wurde er Opfer eines kapitalen Nervenzusammenbruches. In sieben Jahren hatte er Victor eine marktbeherrschende Position erkämpft, doch die Stimmen in seinem überarbeiteten Hirn gewannen nun ein Eigenleben. Johnson demonstrierte einmal mehr seine Großzügigkeit, als er Douglass das volle Gehalt zahlte – jährlich 25000 Dollar – und ihn in seiner Abwesenheit sogar pro forma zum Geschäftsführer machte. Die traurige Tatsache aber war, dass Johnsons Büro in Camden/New Jersey immer mehr Staub ansetzte.
Seine Mitarbeiter hielt es nicht davon ab, auch weiterhin exklusive Deals mit den größten Stars herauszuhandeln: dem Geigen-Virtuosen Fritz Kreisler, dem irischen Tenor John McCormack oder den Sopranistinnen Alma Gluck, Nellie Melba und Luisa Tetrazzini. Im Vergleich zu Victors geballter Star-Power konnte Columbia Records nicht mithalten und überließ das Feld der Hochkultur dem unbestrittenen Platzhirschen.
Edward Easton, nun schon seit 20 Jahren in diesem Geschäft, steuerte ebenfalls auf seine persönliche Krise zu. Da Victor auf allen Märkten erfolgreicher war, suchte er nach Alternativen und kam unglücklicherweise wieder auf seine Idee zurück, allen Behörden in Washington ein Diktiergerät zu verkaufen. Das Timing hätte nicht katastrophaler sein können. Die wachsende Geldmenge, die notwendig war, um Amerikas Wachstum zu finanzieren, war durch neue Goldfunde in Alaska, Colorado und Südafrika ermöglicht worden, gleichzeitig aber auch durch die Tatsache, dass europäische Großbanken Goldbestände in die USA verlagerten. Als die Goldreserven immer dünner wurden, warfen die gleichen Banken das Ruder wieder um, erhöhten den Zinssatz – und schon floss das Gold wieder Richtung Europa. Zudem hatte man nach dem letzten Finanzcrash von 1893 die Banken zwar dazu verdonnert, höhere Cash-Reserven zu halten, hatte bei dieser Auflage aber nicht die Trustfonds miteinbezogen. Mit dem Resultat, dass sich die Anzahl der Beteiligungsgesellschaften, die nur zwei- bis dreiprozentige Cash-Reserven halten mussten, in kürzester Zeit vervielfacht hatte. Als im Oktober 1907 die Aktienmärkte um 50 Prozent abstürzten, zogen verängstigte Anleger ihr Geld nicht zuletzt aus diesen Anlagemodellen zurück. Viele Banken wurden zahlungsunfähig und mussten Insolvenz anmelden.
Auch wenn die Regierung dem Bankensektor mit Bailouts unter die Arme griff, so hinterließ die »Panik von 1907« doch ihre Spuren. Easton hatte sich mit einigen Investitionen die Finger verbrannt und musste nun miterleben, dass Columbia mit Cashflow-Problemen zu kämpfen hatte, die bislang unvorstellbar gewesen waren. Da seine Hausbanken plötzlich mit Krediten knapsten, musste er sich von einigen Hundert Mitarbeitern in New York und Washington trennen. Danach, erinnerte sich seine Tochter, »überkam ihn eine tiefe Melancholie. Er konnte nicht mehr lächeln und sprach auch kaum noch, wenn er an langen Abenden zuhause saß. Stundenlang starrte er nur in die Luft.« Von Erschöpfung und Versagen gezeichnet, versank der Columbia-Boss in eine Depression, von der er sich nie wieder erholen sollte.
Am 23. Januar bestieg Easton, in Begleitung seines langjährigen Vertrauten William Morse, den Morgenzug nach Manhattan. Als Morse bemerkte, dass Easton nicht aus dem Speisewagen zurückkam, schwante ihm Böses. Er bat den Zugführer, den Zug anzuhalten. Man fand Easton zwischen den Gleisen – lebend, aber völlig starr und betäubt. Er hatte sich das Leben zu nehmen versucht.
Die Rezession traf aber jeden – selbst Victor, die einen Umsatzrückgang von 50 Prozent zu beklagen hatten. Alle Plattenfirmen suchten sich mit der gleichen Strategie gegen die Krise zu wappnen: Man senkte die Preise, trennte sich von wenig erfolgreichen Produkten und konzentrierte alle Anstrengungen auf Bereiche, die noch einträglich waren. Columbia etwa trennte sich endlich von seinen Zylinderwalzen, stellte mit dem »Grafonola« eine krasse Victrola-Kopie vor und produzierte nun auch zweiseitige Schallplatten.
Drei Jahre später war die Wirtschaftskrise überwunden – und Victor durfte 1910 mit 107000 Gramophonen einen neuen Verkaufsrekord feiern. Mit »The Voice of Victor« etablierte man eine eigene Händlerzeitung, in der man den Handel über neue Produkte informierte oder verkaufsfördernde Maßnahmen anregte. Betrat einer ihrer Vertreter ein Geschäft, packte er zunächst einmal kostenlose Victor-Logos und elegante Laden-Displays aus.
Edward Easton kam noch einmal an seinen Arbeitsplatz zurück, musste aber gleich einen weiteren Tiefschlag verkraften, als sein geschätzter Produktionschef Thomas Macdonald im Alter von 52 Jahren unerwartet verstarb. Nachdem er jahrelang über diesen Schritt gebrütet hatte, raffte er sich endlich auf und ließ Thomas Edison eine Nachricht zukommen: Columbia stand zum Verkauf.
»Warum wollt ihr uns euer Geschäft verkaufen, wenn es so blendend läuft, wie ihr immer behauptet?«, fragte Edisons Labelchef Frank Dyer. Easton entgegnete, dass er komplett aussteigen wolle. Er habe das Interesse verloren – und außerdem seien seine liebsten Arbeitskollegen bereits tot. Auch wenn Dyer liebend gerne Columbias Patente übernommen hätte, so verriet doch ein Memo an Edison, dass Columbia in der Branche wenig Freunde hatte: »Es gab immer eine gewisse Antipathie gegen Columbia, vor allem aber gegen Mr. Easton persönlich, weil er als skrupellos und unberechenbar gilt«, schrieb er. »Ich weiß, dass Mr. Eldridge Johnson genau die gleiche Einstellung vertritt wie ich.«
Auch wenn man das Angebot ablehnte, so führte Eastons Avance doch zumindest dazu, sich im Edison-Camp über die eigene Positionierung Gedanken zu machen. 1913 stellte man die vermeintlich revolutionäre »Edison Diamond Disc« vor, die allerdings immer noch mit senkrecht geschnittenen Rillen arbeitete. Um das Augenmerk der Öffentlichkeit auf die außergewöhnliche Tonqualität zu richten, arrangierte man mit großem Werbeaufwand sogenannte »Tone Tests«, die in Theatern und Kirchen stattfanden. Das Abspielgerät und ein Sänger standen hinter einem Vorhang – und die Zuschauer wurden aufgefordert, zwischen Original und Kopie zu unterscheiden. Die Veranstaltung war natürlich ein schlechter Scherz, da die Sänger vorab instruiert worden waren, sich stimmlich möglichst am Klang des Plattenspielers zu orientieren.
Doch Edisons primäre Achillesferse war und blieb die Musik. Eigensinnig, unsensibel und immer in der Furcht lebend, seine Patente könnten gestohlen werden, mischte er sich selbst in die A&R-Arbeit ein. Von seinen europäischen Partnern wurden ihm vorzügliche Opernaufnahmen angeboten, doch seine Abneigung gegen diese »Opern-Perverslinge« führte dazu, dass viele dieser Aufnahmen nie in Amerika veröffentlich wurden. Der Geiger Samuel Gardner traf den Nagel auf den Punkt, als er bemerkte, dass Edisons Taubheit »keinen Einfluss auf seine Musikalität gehabt habe – weil es diese Musikalität nie gab«.
Während Edison sein Musikgeschäft noch krampfhaft zu verteidigen suchte, ging es mit Edward Easton rapide bergab. 1915 starb er im Alter von 59 Jahren – ein unglücklicher Millionär, der nie den Respekt seiner Branche gewonnen hatte. Auch wenn ihn die Konkurrenz als Haifisch beschrieb, war er doch verantwortlich für einige Attribute, die dem Musikgeschäft nie mehr abhanden kommen sollten. Seine Neigung, selbst bei geringfügigen Differenzen gleich mit dem Anwalt zu drohen, zählte mit dazu.
Als in Europa der Erste Weltkrieg ausbrach, war Eldridge Johnson am Ziel seiner Träume. 1915 konnte er mit Alma Glucks »Carry Me Back to Old Virginnny« erstmals die Millionen-Schallmauer durchbrechen und durfte sich 1917 über eine halbe Million »Victrolas« und ein Repertoire mit 7000 verschiedenen Tonträger freuen. Doch als sich Amerika Ende 1917 am Krieg beteiligte, kamen mit dem Erfolg auch Verpflichtungen. Johnson musste einen großen Teil seiner Fertigungshallen zur Produktion von Gewehren und Doppeldeckern zur Verfügung stellen. Anfang 1918 waren sie aufgrund von Kohle-Engpässen sogar elf Wochen lang gezwungen, die Produktion jeweils Montags komplett zu stoppen. In diesem schwierigen Jahr konnten nur noch 21 Millionen Platten gepresst werden – ein Umsatzrückgang von 40 Prozent. Zum Glück war Amerikas militärisches Engagement nur von kurzer Dauer, sodass bereits 1919 wieder 474000 Plattenspieler gebaut wurden. 1920 verzeichnete die Firma mit 560000 Victrolas und 33,4 Millionen Tonträgern sogar das zweitbeste Resultat ihrer Geschichte – eine Bilanz, die bereits ein Jahr später mit der unfassbaren Zahl von 55 Millionen verkaufter Schallplatten erneut übertroffen wurde.
Die »Talking Machine«-Industrie hatte die Kinderkrankheiten abgeschüttelt und die waagerechte Schallplatte zu ihrem Standard gekürt. Eldridge Johnson, inzwischen einer der reichsten Amerikaner, konstatierte allerdings auch, »dass Wachstum heutzutage nicht mehr selbstverständlich ist. Der Acker ist bestellt, der Boden nicht mehr jungfräulich. Niemand sollte erwarten, noch auf ganze Klumpen von Gold zu stoßen. Die große Zeit der Goldgräber ist vorbei.«
Es war wohl auch kein Zufall, dass die zwei großen Visionäre der Branche – Emile Berliner und Leon Douglass – nun auch ihre ersten exzentrischen Pensionäre wurden. Berliner, der sein beschauliches Leben durchaus zu schätzen wusste, sollte sich nur noch einmal als Erfinder versuchen. Wieder ging es um eine Maschine, die sich durch eine Drehbewegung auszeichnete: den Hubschrauber. Leonardo da Vinci hatte sich bereits mit der Grundlagenforschung beschäftigt, doch erst 1907 wurde ein erstes Modell gebaut. Zwei Jahre später konstruierten Berliner und sein Sohn Henry einen Prototypen, der sie immerhin zwei Meter hoch in die Luft hob.
Auch wenn sich Douglass nie von seinem Nervenzusammenbruch erholte und allgemein als unberechenbar galt, behielt ihn Johnson als nominellen Vorstandsvorsitzenden in der Firma. Da sein Honorar weiter gezahlt wurde, war Douglass in der glücklichen Lage, nun sorgenfrei seinen Kindheitsträumen zu frönen. Mit seiner Familie zog er nach Kalifornien, kaufte sich einen 52 Zimmer-Palast und baute ein riesiges Fenster in seinen Pool, um so Unterwasseraufnahmen drehen zu können. Auch in seinem hauseigenen Labor beschäftigte er sich mit den technischen Grundlagen des Films und ließ sich 1916 eine Technik patentieren, die später von Cecil B. DeMille gekauft wurde und de facto der Vorläufer von »Technicolor« war. Er schrieb einen surrealistischen Roman (»Ajax Defied The Lightning«), filmte vor Hawaii tropische Fische und drehte mit »Cupid Angling« den ersten amerikanischen Farbfilm.
Die Gründungsväter der Musikindustrie konnten inzwischen auf ihr Leben zurückblicken und mit Stolz feststellen, dass sie einen bemerkenswerten Beitrag zur modernen Kulturgeschichte geleistet hatten. Als klassisch geschulter Musiker hatte Emile Berliner eine Firma etabliert, die fest auf dem Boden europäischer Kultur stand – ein Attribut, das Columbia und Edison gänzlich abging. Leon Douglass hatte es verstanden, daraus ein rundes Paket zu schnüren und auch die Mittelschicht mit den Errungenschaften der Hochkultur zu beglücken. Johnson wiederum war der archetypische Boss, der die Geschicke der Firma mit patriarchalischer Güte lenkte: loyal, diszipliniert, aber immer auch alert und tatendurstig. Es war ihren Leistungen zu verdanken, dass die Welt die Schallplatte in ihr Herz schloss. Selbst als Douglass und Berliner später nur noch ihren Kindheitsträumen nachhingen und in herrschaftlichen Palästen residierten, so nahmen sie damit zumindest noch das Leben künftiger Musikmogule vorweg. Sie waren die Pioniere. Praktisch alles, was sie erfunden hatten, sollte in den kommenden Jahrzehnten nur noch modifiziert werden.